Zinni
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Zinnia tippte im CloudBurger auf das Tablet und bestellte zwei Hamburger, eine kleine Portion Fritten und einen Vanilleshake. Dann lehnte sie sich zurück und blickte zur Küche hinüber. Viel zu sehen gab es da nicht. Wenn jemand durch die Schwingtür kam, wurde dahinter ein nüchterner, gefliester Raum sichtbar.
Da drüben war sie, die Endstation der speziellen Bahnlinie. Musste so sein. Die Bahn führte zu dieser Seite von Live-Play, und die Lokale darüber und darunter erstreckten sich bis zur Außenwand, während das hier ziemlich schmal war. Hinter der Schwingtür da drüben war mehr als genügend Platz für eine Küche und noch etwas anderes.
Die Frage war, weshalb. Es konnte sich um eine Wartungs- oder Versorgungslinie handeln. Oder um etwas anderes. Jedenfalls war es ein merkwürdiger Aspekt der Anlage.
Es machte Zinnia Spaß zu spekulieren, weil es sie von der Bedeutung ihres neuen Auftrags ablenkte: Gibson Wells töten. Sie hatte Angst, das an diesem Ort überhaupt zu denken, so als ob ihr CloudBand das Muster ihrer Gehirnwellen auffangen und einen Trupp Männer und Frauen in Blau schicken könnte, der sie in einen nackten, kahlen Raum zerrte.
Wenn es doch nur mehr Informationen gegeben hätte. Wenn sie doch nur Kontakt mit ihren Auftraggebern aufnehmen könnte, aber so lief das natürlich nicht. Schließlich wusste sie immer noch nicht, um wen es sich
handelte. Sie wusste nur, dass sie den Auftrag hatte, den reichsten und mächtigsten Menschen auf der Erde zu ermorden, und das auch noch in seinem eigenen Revier, wo er von massenhaft Security umgeben sein würde.
Jedenfalls hatte sie jetzt zwei Aufträge, und sie musste beide zugleich ausführen. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie Probleme mit der Security bekam, wenn sie in die Recyclinganlage eindrang, und dann würde alles abgeriegelt werden. Wenn Wells getötet wurde, natürlich auch.
Deshalb musste beides gleichzeitig geschehen.
Der Besuch von Wells fiel mit der Zeremonie zur Erinnerung an die Massaker am Black Friday zusammen, was bedeutete, dass es eine Menge Trubel geben würde. Genauer gesagt, würde es ein chaotischer Tag werden, was ausgesprochen positiv für ihre Aufgabe war.
Eine große Hilfe würde auch Paxton sein, wenn auch nicht absichtlich. Wenn es gut lief, kam er zum Schutztrupp von Wells, aber zumindest gelang es ihr sicher, ihm ein paar Informationen zu entlocken.
Ihr Essen kam, und sie kaute den ersten Hamburger ganz langsam, um das von einer braunen Kruste überzogene Fleisch zu genießen. Dabei dachte sie darüber nach, was es bedeutete, jemand umzubringen. Sie hatte sich wirklich und wahrhaftig bemüht, so etwas nicht mehr tun zu müssen, aber Wells würde ohnehin bald sterben. Kam es da überhaupt darauf an? Im Lauf der Zeit würde er unter immer größeren Schmerzen leiden, da erwies man ihm vielleicht sogar einen Liebesdienst. Wenn sie sich das nur intensiv genug einredete, während sie ihre Fritten futterte, könnte sie es wahrscheinlich irgendwann als vernünftige Begründung akzeptieren.
Egal wie sie es anstellte, sie würde ihm hoffentlich
nicht in die Augen sehen müssen. Das war nämlich etwas, was sie nie wieder tun wollte – jemand in die Augen zu blicken, wenn das Leben aus ihm wich. Es war der einzige Moment, wo ihr Job ihr unerträglich vorkam, und obwohl es in Sekundenschnelle vorüber war, kam es ihr immer wie eine Ewigkeit vor.
Der Wechsel zwischen dem kalten Milchshake und den warmen Fritten verursachte ihr Zahnschmerzen. Sie beobachtete wieder die Tür, durch die die Bedienungen herein- und hinauseilten. Wenn sie auch so ein grünes Poloshirt hätte, dann könnte sie problemlos da hineingelangen. Sich eines zu bestellen war wahrscheinlich keine gute Idee, falls man überhaupt auf offiziellem Wege ein Shirt mit einer Farbe bestellen konnte, die nicht für den eigenen Job gedacht war. Natürlich konnte sie eines klauen. Das war besser, als es einer Bedienung abzukaufen. Bedienungen hatten ein gutes Gedächtnis, bestimmte Moralvorstellungen und einen Mund zum Plappern. Ein Shirt zu klauen war also die einzige Möglichkeit.
Damit blieb nur noch das verfluchte CloudBand. Das Problem, das sie quälte, seit sie hier war. Obwohl sie schon relativ satt war, griff sie nach ihrem zweiten Hamburger, weil sie kein Essen vergeuden wollte. Problematisch war nicht einmal das Tracking. Wenn es ohnehin ihr letzter Tag sein würde, kam es nicht darauf an, ob ihre Tarnung aufflog oder nicht. Aber mit ihrem CloudBand blieben ihr zu viele Türen verschlossen; mehr Zugang hatten nur Leute in Blau oder Braun. Hadley trug ein braunes Shirt. Ob sie wohl deren Band verwenden konnte? Aber das verdammte Ding würde wissen, dass nicht Hadley es trug.
Außerdem brauchte sie einen Fluchtplan
.
Aber zuerst war das Shirt an der Reihe. Das war am leichtesten. Die Leute in Blau und Braun – Security und Technik – hatten den besten Zugang, und wahrscheinlich war Braun besser geeignet. Techniker blieben im Hintergrund; sie machten ihre Arbeit, ohne dass jemand ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkte. Optisch passte sie auf jeden Fall zu dieser Rolle.
Ihr Handy summte. Eine Nachricht von Paxton.
Kneipe?
Sie machte sich an ihre letzten Fritten, dann antwortete sie: Bin gleich da.
Paxton saß im Pub und hatte ein Glas Bier vor sich stehen, von dem bereits ein paar Zentimeter fehlten. Einen Wodka auf Eis für Zinnia hatte er auch schon bestellt. Er strahlte übers ganze Gesicht. Sobald sie sich gesetzt hatte, hob er sein Glas.
»Ich hab’s in den Schutztrupp für Gibson Wells geschafft«, verkündete er.
»Echt toll!«, sagte sie und stieß mit ihm an. Sie freute sich wirklich, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihn. »Und was bedeutet das genau?«
»Das weiß ich noch nicht recht. Ganz allgemein gesprochen …« Er sah sich um. Obwohl niemand in Hörweite war, beugte er sich zu ihr und senkte die Stimme. »Also, er kommt in der Aufnahme an, wo erst mal die Namen zur Erinnerung an den Black Friday verlesen werden. Dann steigt er in die Bahn und fährt zu Live-Play, wo er ein bisschen herumspazieren wird. Anscheinend ist das hier die erste MotherCloud, wo man für die Mitarbeiter eine separate Entertainment-Anlage gebaut hat, weshalb er sich dort umsehen will. Anschließend st
eigt er wieder in die Bahn, fährt zur Aufnahme zurück und verlässt uns wieder. Ich habe noch keine Ahnung, womit man mich genau beauftragen wird, aber ich bin dabei.«
»Da bist du bestimmt stolz drauf.«
Er machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Griff nach seinem Bier und nahm einen Schluck.
»Jedenfalls machst du den Eindruck«, sagte sie.
»Es ist komisch. Seit ich hier bin, will ich Wells die Meinung sagen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es kommt mir so vor, als ob ich etwas geleistet hätte, wenn man mir so eine Verantwortung anvertraut. Eigentlich müsste es dafür einen Ausdruck geben, also dafür, wenn man zornig auf jemand ist, ihn aber auch irgendwie mag.«
»Ja«, sagte Zinnia. »Dafür müsste es einen Ausdruck geben.«
In ihrem Herzen öffnete sich ein Spalt. Ein ganz winziger, durch den ein kleines bisschen Licht fiel. Sie trank einen Schluck Wodka.
Die wichtigste Information war die Bahn.
Wells würde damit fahren.
Und die Bahnen konnten leicht entgleisen.
Ein Bahnunglück war eine fantastische Idee. Der einzige Nachteil bestand darin, dass sie damit wesentlich mehr Leute umbringen würde als nur Gibson Wells.
Einschließlich Paxton, wenn der sich ebenfalls in der Bahn befand.