Paxto n
An Paxtons erstem Tag in der MotherCloud war der Busbahnhof voller Fahrzeuge gewesen. Heute hatte man alle nach draußen gestellt, um Platz für die Zeremonie zu schaffen. Bis auf den steten Strom an Lastwagen, der durch die Sensoren an der anderen Seite des Aufnahmegebäudes rollte, war der höhlenartige Raum leer.
Paxton sah zu, wie ein Team in grünen und braunen Poloshirts eine erhöhte Plattform errichtete, lieferwagengroße Lautsprecher anschloss und das Gerüst für den gewaltigen 360-Grad-Bildschirm errichtete. Das alles geschah in einem unglaublichen Tempo und mit ebensolcher Präzision. Offenbar wurde für das Verlesen der Namen jedes Jahr dieselbe Konstruktion errichtet.
Seit ein paar Tagen waren an allen Ecken und Enden solche Teams am Werk, selbst in den Fluren und Sanitäranlagen. Obwohl nicht geplant war, dass Gibson Wells andere Teile der Anlage besuchte als die Aufnahme und Live-Play, verhielt sich das Management so, als würde er jeden Quadratzentimeter inspizieren. Was bedeutete, dass jede Unvollkommenheit – jeder lockere Wasserhahn, jedes gesprungene Urinal, jede nicht funktionierende Rolltreppe – repariert wurde.
»Na, bereit, Kamerad?«
Als Paxton sich umdrehte, stand Dakota vor ihm. Unter den Augen hatte sie dicke Tränensäcke; zweifellos hatte sie seit einer ganzen Weile nicht mehr richtig geschlafen. Trotzdem sprühte sie vor Energie. Den großen Thermobecher an ihrem Gürtel füllte sie immer mit ihrem Lieblingskaffee, der so schwarz war, dass er das Licht absorbierte. Paxton hatte ihn einmal probiert und sich anschließend drei Stunden lang Sorgen gemacht, er könnte einen Herzanfall bekommen. Morgen würde er allerdings vielleicht einen Schluck davon brauchen.
»Glaub schon«, sagte er.
Dakota nickte. »Die ganze Zeit über wird ein Fünferteam in seiner direkten Nähe sein. Du, ich, außerdem Jenkins, Cheema und Masamba. Kennst du die alle?«
»Cheema und Masamba schon.«
»Dann stelle ich dir später noch Jenkins vor. Die ist gut, definitiv. Überhaupt ist es ein gutes Team.«
»Ich wollte dir noch mal danken, dass du mir dein Vertrauen schenkst.«
»Na hör mal«, sagte sie, ballte die Faust und knuffte ihn in den Arm. Das tat mehr weh, als er erwartet hätte, aber er zeigte es nicht. »Das hast du dir schließlich verdient. Kann immer noch kaum glauben, dass du dieses verfluchte Rätsel endlich geknackt hast.«
Paxton lachte. »Soll ich dir was verraten? Es war ein spontaner Einfall, den jeder hätte haben können. Ich glaube, es hat mir einfach gutgetan, mal einen Tag rauszukommen. Deshalb kommt es mir nicht so speziell vor.«
»Jetzt reicht es aber«, sagte Dakota scharf. »Stell dein Licht bloß nicht so unter den Scheffel. Wir haben hier keine besonders ausgeprägte Hierarchie, aber ich bin jetzt schon eine ganze Weile die rechte Hand von Dobbs. Sobald der mich in eine Uniform steckt, ist Platz für jemand anderes, der sich auszeichnen kann.«
In Paxtons Kehle bildete sich ein Klumpen. Er wusste nicht, was er von dieser Aussicht halten sollte. Dadurch würde er sich weiter an diesen Ort fesseln. Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam es ihm so vor, als wäre dieser Ort das Einzige, was es auf der Welt gab, weil alles andere verdorrt und abgestorben war.
In der kleinen Stadt da draußen mit einer Waffe bedroht zu werden hatte ihm nicht nur Angst gemacht. Es war ein herzzerreißender Moment gewesen. Als wäre er nach einer durchsoffenen Nacht ernüchtert aufgewacht und hätte erkannt, wie die Welt im harten Tageslicht wirklich aussah. Hier hingegen hatte er Sicherheit, kühle Luft, frisches Wasser und ein Bett. Hier hatte er einen Job und ein Leben, das vielleicht nicht das Leben war, das er wollte, aber wenn er ein bisschen daran arbeitete, konnte es eventuell eines werden, das er immer mehr zu schätzen wusste.
»Du musst dich ja nicht jetzt entscheiden«, sagte Dakota, nahm einen Schluck Kaffee und schnitt eine Grimasse. »Aber aufgeschlossen dafür solltest du schon sein. Ein solcher Job hat seine Vorzüge.«
»Ja, klar, ich werde darüber nachdenken«, sagte Paxton. »Sag mal, wie hältst du eigentlich so lange durch?«
»Weiß auch nicht«, sagte Dakota. »Am schlimmsten ist, dass meine Mama gerade in meiner Wohnung vor dem Fernseher sitzt. Sie ist zu unserem jährlichen Thanksgiving-Essen hier. Ich wollte sie zu CloudBurger ausführen, da gibt’s zum Feiertag einen speziellen Truthahn-Burger. Aber ich glaube nicht, dass ich Zeit dafür haben werde.«
»Was wird uns denn morgen erwarten?«
Dakota nahm noch einen Schluck aus ihrem Thermobecher und blickte sich um. »Keine Ahnung. Ich hab mit ein paar Leuten in anderen MotherClouds telefoniert, wo er zu Gast war. Offenbar kommt er ganz gut alleine zurecht. Sieht wie ein Zombie aus, was ja kein Wunder ist. Das Problem ist die Menschenmasse. In New Hampshire hat man sich zwar kaum um ihn geschert, dafür aber in Kentucky wie den Messias behandelt. Die Leute haben die Sperren über den Haufen gerannt, nur um ihn berühren zu können.«
»War er denn schon mal hier?«, fragte Paxton.
»Seit ich hier bin, nicht. Laut Dobbs war er einmal da, aber das war nichts Besonderes. Bloß eine Besprechung. Keine Begegnung mit der Masse wie jetzt. Hast du dir alles eingeprägt?«
»Habe ich.«
»Gut«, sagte Dakota. »Dobbs sagt, wenn es morgen glatt läuft, gibt er mir zwei Tage hintereinander frei.« Sie schwieg nachdenklich. »Scheiße, ich werde gar nicht wissen, was ich mit mir anfangen soll.«
»Schlafen«, sagte Paxton. »Das brauchst du nämlich.«
»Schlaf ist für Leute, denen es an Ambition mangelt.« Ein Schluck Kaffee. »Wie lange bist du jetzt noch im Dienst?«
»Eine Stunde.«
»Gut. Geh noch mal die Route ab. Denk dran, sobald er mit seiner Rede fertig und die Zeremonie beendet ist, marschieren wir zur Bahn, die bereits wartet. Abgesehen davon, ist das ganze Transportsystem stillgelegt. Wir fahren zu Live-Play, er macht seinen Spaziergang, dann geht es zurück zur Aufnahme, und er ist fort. Hübsch einfach, das Ganze. Wir müssten uns schon große Mühe geben, dass wir das verbocken.«
»Ach, das schaffen wir schon irgendwie.«
Dakota beugte sich vor und richtete den Zeigefinger auf Paxtons Nase. »Keine Scherze!«
»’tschuldigung.«
»Dann ab mit dir, Kamerad«, sagte sie .
»Zu Befehl, Boss.«
Paxton ging los, kam jedoch nur etwa drei Meter weit, da rief Dakota: »He!«
Als er sich umdrehte, kam sie mit hüpfendem Schritt auf ihn zu.
»Hab was vergessen. Mein Hirn ist momentan wie Pudding. Also, Dobbs hat diesen Lucas, den wir geschnappt haben, noch mal durch die Mangel gedreht, worauf er ein paar Namen ausgespuckt hat. Worauf Dobbs wiederum die durch die Mangel gedreht hat. Und dabei hat er herausbekommen, wie man das CloudBand ausgetrickst hat.«
»Tatsächlich? Wie denn?«
»Das errätst du nie.«
»Ich hab’s schon bisher nicht erraten. Das war ja das Problem.«
Dakota grinste. Sie genoss es sichtlich, die Sache dramatisch in die Länge zu ziehen. »Du weißt ja, dass die Uhren auf den Besitzer codiert sind«, sagte sie. »Angeblich ist diese Funktion beim vorletzten Software-Update hopsgegangen, was die Nerds in der Technik aber bislang nicht gemerkt haben. Deshalb werden jetzt übrigens allerhand Leute gefeuert. Jedenfalls kann man seither die Uhr abnehmen und einfach wem andres geben. Da sie nur noch die Körperwärme registrieren muss, wird kein Alarm ausgelöst. Der eigentliche Besitzer der Uhr kann also so lange tun und lassen, was er will. Übrigens hattest du noch mit was anderem recht – die Typen haben das immer in einem Menschenknäuel gemacht, weil sie damit gerechnet haben, dass es nicht auffällt, wenn das Signal da für eine Weile verschwindet.«
Paxton schüttelte den Kopf. »Das ist ja total … lächerlich. Kaum zu glauben, dass es so einfach war. «
»Inzwischen arbeitet man natürlich daran, das abzustellen«, sagte Dakota. »Unter Umständen braucht es dazu nicht nur ein Software-Update, sondern die ganze Hardware muss ausgetauscht werden. Das kann teuer werden. Aber he, immerhin wissen wir jetzt Bescheid.«
»Menschenskind«, sagte Paxton lachend.
»Und deshalb ist Dobbs so zufrieden mit dir«, sagte Dakota. »Weiter so, du Intelligenzbolzen!«