Zinni a
Während Zinnia die Wodkaflasche umdrehte, um den letzten Rest der beißenden Flüssigkeit in die Kehle rinnen zu lassen, überlegte sie, ob sie aufgeben sollte.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie durch mehrere Sicherheitsschleusen ins Innere eines abgesperrten Bereichs gelangen und anschließend wieder zurückkehren sollte, um dann jemand zu töten, der von Bodyguards umgeben war. Schließlich konnte sie keine einzige der auf dem Weg liegenden Türen öffnen.
Das konnte einfach nicht klappen. Damit, dass Paxton dabei möglicherweise auch ums Leben kam, hatte es absolut nichts zu tun. Je mehr sie sich das sagte, desto mehr glaubte sie es.
Sie schüttelte die leere Wodkaflasche und stellte sie auf die Ablage. Rief im Fernseher die Cloud-Website auf, um festzustellen, ob sie dort eine bestellen konnte. Nein, Alkohol wurde von Cloud leider nicht geliefert. Was für eine verdammte Scheiße.
Sie wollte weitertrinken, wozu sich aber ihr mangelnder Wunsch gesellte, aufzustehen, eine Hose anzuziehen und anderen Leuten zu begegnen. Deshalb blieb sie erst einmal sitzen und überlegte, dass es am besten war, bald abzuhauen. Wie sie das anstellen sollte, war ihr allerdings nicht klar. Vielleicht kam sie wieder an ein Auto heran, das sie dann irgendwo stehen lassen konnte. Das würde jedoch bedeuten, Paxton noch einmal um Hilfe zu bitten, was aber wiederum Verdacht erregen könnte.
Natürlich konnte sie sich auch zu Fuß auf den Weg machen. Die nächste größere Stadt war etwa hundert Meilen entfernt. Das bedeutete einen mehrtägigen Marsch, aber vielleicht gelang es ihr ja unterwegs, von jemand mitgenommen zu werden. Auf jeden Fall musste sie zur Sicherheit eine Menge Wasser mitnehmen. Und eventuell eine Waffe, wie die Begegnung mit Ember und ihrer Hippie-Brigade gezeigt hatte.
Was die Möglichkeit anging, dass ihre Auftraggeber jemand schickten, der sie beseitigen sollte – damit würde sie schon fertigwerden. Im Moment war sie zu besoffen, als dass sie sich darum scherte.
Ihr Handy summte. Sie starrte an die Wand.
Es summte wieder. Sie verdrehte die Augen.
Hi, was läuft so?
Dann:
Wie wär’s mit einem Drink?
Zinnia starrte eine Weile lang auf die Textblasen. Heute Abend war vielleicht ihre letzte Chance, Paxton zu sehen. Sie hatte so ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Vielleicht handelte es sich dabei nur um zu viel Luft, aber es konnte auch ein Anflug von Bedauern sein. Egal. Sie konnte Paxton dazu bringen, ihr mehr Wodka zu besorgen, und sich dann von ihm befriedigen lassen. Das waren die Gründe und sonst nichts, redete sie sich ein, während sie zurückschrieb: Komm vorbei. Bring Wodka mit.
Zwanzig Minuten später klopfte es an der Tür. Paxton strahlte übers ganze Gesicht, zuerst offenbar nur, weil er einen erfolgreichen Tag hinter sich hatte. Als er dann nach unten blickte und sah, dass sie untenrum nichts trug, strahlte er noch mehr. Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Dann bewegte sie sich ein paar Schritte rückwärts und ließ sich auf die Matratze fallen, während Paxton zwei Tumbler mit Eis aus dem Minikühlschrank füllte.
»Wow«, sagte Zinnia. »Du trinkst heute einen mit?«
»Hab einen guten Tag hinter mir«, sagte Paxton. »Ich fühle mich wie ein Rockstar.«
Zinnia nickte und lehnte sich zurück. Ihr war ein bisschen schwindlig. Paxton reichte ihr ein Glas, sie stießen an und tranken. Ohne weitere Umstände steckte er den Kopf zwischen ihre Beine, und sie wurde ein bisschen atemlos, aber dann ließ er den Kopf in ihren Schoß sinken, drehte sich auf den Rücken und blickte zu ihr hoch, als wollte er einfach nur wie ein verliebter Teenager kuscheln. Eigentlich wollte sie ihm sagen, er solle sich gefälligst wieder ans Werk machen, aber er strahlte immer noch, und dieses strahlende Lächeln war im Grunde das, was sie an ihm am liebsten mochte.
Es war ein aufrichtiges Lächeln.
»Es fühlt sich gut an«, sagte er.
»Was denn?«
»Bei denen wieder gut angeschrieben zu sein. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?«
Zinnia zuckte die Achseln. »Wir sind darauf programmiert, uns nach Anerkennung zu sehnen. Die wollen wir alle.«
»Ja, aber das sind die Leute, die meine Firma vernichtet haben«, sagte er und schwieg eine Weile. »Okay, Dakota hat das nicht getan. Dobbs auch nicht. Genau genommen nicht mal Gibson Wells. Der ist ja nicht persönlich dahergekommen und hat meinen Krempel …« Er sc hwenkte sein Glas hin und her. »… kaputt geschlagen. Das hat der Markt getan. Ich habe mein Bestes versucht. Aber der Markt bestimmt nun mal.«
»Ja, dazu neigt er im Allgemeinen«, sagte Zinnia und trank einen Schluck von ihrem Wodka.
Paxton runzelte die Stirn und betrachtete sie genauer. »Alles in Ordnung?«
Nein.
»Klar«, sagte sie. »Bin bloß müde.«
»Hast du eigentlich noch mal was von der Regenbogen-Allianz gehört?«, fragte er.
»Keinen Pieps.«
»Tja, so gut wie ich mich jetzt mit Dobbs stehe, kann ich bei ihm vielleicht ein gutes Wort für dich einlegen, damit du zur Security kommst.« Er legte seine Füße auf die Ablage, weil er sonst keinen Platz in dem engen Raum fand. »So wie du bei unserem Ausflug mit diesen Schießbudenfiguren umgegangen bist, wärst du bestimmt gut geeignet.«
Zinnia schnaubte eher, als dass sie lachte. Klar. Geht das vielleicht bis morgen Nachmittag?
»Schon möglich«, sagte sie. »Das wäre gar nicht schlecht.«
»Übrigens muss ich ständig an diese Typen denken«, sagte Paxton. »Wie traurig das sein muss, so im Elend zu leben. Sich in irgendwelchen verlassenen Städten ein Dach über dem Kopf zu suchen. Das tun die doch bestimmt schon eine ganze Weile, oder? Hat man gemerkt, finde ich. So wie die gerochen haben. Die haben schon lange keine Dusche und keine sauberen Klamotten mehr gesehen. Deshalb weiß ich, was wir hier haben.« Er machte eine Pause, beäugte seinen Wodka und hob leicht den Kopf, um aus dem Glas zu schlürfen. »Was wir hier haben, ist zwar nicht perfekt, aber was ist das schon? Zum Beispiel haben wir einen Job.«
Zinnia war nicht recht klar, wen er damit überzeugen wollte. Sie würde sich für ein Leben da draußen entscheiden. Den Ort hier hatte sie gründlich satt. Die nackten Betonwände, die engen Räume, die Digitalwaagen und Halstücher, die Bücher und das Fliegenpapier, die Taschenlampen und Tacker und Tablets. Den Minimarathon, den sie täglich bei der Arbeit lief, sodass ihr die Knie wehtaten, wenn sie nach Hause kam. Und am schlimmsten von allem: die Aussicht, das jeden einzelnen Tag zu tun.
Sie würde sich für ein Leben da draußen entscheiden.
»Mir ist gerade was eingefallen«, sagte Paxton.
Zinnia dachte, er würde weitersprechen, aber es kam nichts. »Was denn?«, fragte sie schließlich.
»Ich habe mich erkundigt, aber wenn es dir komisch vorkommt, reden wir nicht weiter darüber. Ist bloß so eine Idee. Aber wenn wir uns eine Wohnung für zwei Personen nehmen, dann wäre das zwar teurer, aber wir hätten ein bisschen mehr Platz, und ich dachte …« Er betrachtete seine Füße, was die einzige Möglichkeit war, seine Augen zu verbergen, ohne das Gesicht zu verhüllen. »Ich dachte, das wäre vielleicht ganz schön. Du weißt schon. Vor allem das größere Bett.«
Zinnia nahm einen großen Schluck Wodka, und während der Alkohol ihr durch die Kehle rann, spürte sie ihr Herz in zwei Teile brechen. Nachdem sie Jahre damit verbracht hatte, es abzuhärten, war es wohl brüchig geworden. Vielleicht war das alles, was es brauchte – einen festen Schlag mit einem Hammer.
Täglich dieser hirnlose Job, und wenn man heimkam, was dann? Bücher lesen? Fernsehen? Herumsitzen und auf den nächsten Marathon warten? Wie konnte so etwas denn »schön« sein?
Sie nahm noch einmal einen Schluck, während sie darüber nachdachte.
Ob es schön war oder nicht.
Sie hatte sehr lange hart gearbeitet. Ausgesprochen hart. Die Erinnerungen an ihre Arbeit waren in ihren Körper eingegraben. Als Narben, auf denen Paxton die Fingerspitzen ruhen ließ, ohne je danach zu fragen. Das mochte sie an ihm, das und sein Lächeln. Außerdem war er manchmal ziemlich lustig.
Dann musste sie an die Einöde da draußen denken. An die heiße Sonne und den Kampf um Wasser. An die Leere außerhalb der Städte, während in der Wohnung hier kühle Luft zirkulierte. Das musste man Cloud lassen, es gab zwar vieles an diesem Ort, was sie nicht mochte, aber wenigstens herrschte Ruhe. Grabesruhe zwar, doch nachdem sie jahrelang anderes gewohnt gewesen war – das Krachen von Schüssen, die heiseren Stimmen von Vernehmern, das tiefe Donnern von Explosionen –, stellte sie fest, dass Ruhe etwas war, was sie mochte.
Wenn sie blieb, würde sie morgens aufwachen und zum Warendepot fahren, um irgendwelchen Scheiß zu holen und auf ein Förderband zu legen, damit der Scheiß an irgendjemand versendet wurde.
Ob sie überhaupt bleiben konnte, ohne ihren Auftrag zu erledigen?
»Es tut mir leid«, sagte Paxton bedrückt. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen.«
»Ach, das ist es nicht«, sagte sie. »Ich habe bloß noch nie mit jemand zusammengelebt.« Sie beugte sich nach unten und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Wäre das nicht ziemlich teuer? «
Paxton zuckte die Achseln. »Ich warte ja noch darauf, dass mir das Patent für das Perfekte Ei erteilt wird. Sobald es so weit ist … kann ich etwas Geld machen, indem ich es an Cloud verkaufe.«
»Willst du das denn wirklich tun?«
Wieder ein Achselzucken. »Schließlich kann ich es mir nicht leisten, noch mal eine Firma zu gründen.«
»Na gut«, sagte Zinnia. »Lass mich ein bisschen darüber nachdenken.«
Paxton lächelte, stellte sein Glas auf den Boden und platzierte sein Gesicht da, wo Zinnia es vorhin schon hatte haben wollen. Während sie den Rücken wölbte und sich an ihn drängte und ihm die Fingernägel in die Kopfhaut bohrte, dachte sie: Ach, vielleicht ist das Leben hier doch nicht so schlecht. Als würde man in Rente gehen sozusagen.