Zinni a
Alle Bahnverbindungen werden ab sofort für die Erinnerungszeremonie eingestellt.
Zinnia legte ihr CloudBand auf die Ladematte und zog sich schnell an. Sie hatte sich für Sportklamotten entschieden, eine Jogginghose und dazu einen voluminösen Hoodie, damit ihr Handgelenk nicht zu sehen war. Während sie hineinschlüpfte, ging sie im Kopf ihren Plan durch. Er enthielt allerhand Variablen, weil ihr eigentlich zu viele Informationen fehlten, aber das würde ausreichen müssen.
Sie löste an einer Ecke den Wandbehang, kletterte in die Decke und krabbelte zum Waschraum. Leer. Sie ließ sich auf den Boden fallen, trat in den Flur, sah eine Frau am Aufzug stehen und trabte hin, damit sie reinkam, bevor die Tür zuging.
Die Frau hielt ihre Uhr an den Scanner, während Zinnia an die Rückwand trat und wartete. In der Eingangshalle stieg sie aus und schlenderte zum Eingang vom Fitnessraum. Dort blieb sie kurz stehen, bis jemand anderes ankam – ein Macho mit wunderbar modellierten Oberarmen, der ihr die Tür aufhielt, damit er ganz unverblümt ihren Hintern beglotzen konnte.
Drinnen stemmte sie ein paar leichte Hanteln, bis sie sich sicher war, dass niemand sie beobachtete. Dann steckte sie sich eine fünf Kilo schwere Hantelscheibe aus Hartgummi in die Vordertasche des Hoodies. Die eine Hand unter die Scheibe gelegt, damit sie nicht nach unten sackte, ging sie durch den Flur wieder in die Eingangshalle und nahm die Bahnstation in Augenschein.
Dort hatte man alles geräumt. Nur ein einziger Blauer war zu sehen, ein älterer Mann, der gelangweilt dreinblickte. Wahrscheinlich waren alle anderen in der Aufnahme, um die Ankunft von Wells und die Zeremonie vorzubereiten. Sie drückte sich außer Sichtweite an die Wand und wartete.
Der Mann ging in einem weiten Bogen durch die Gegend, ohne die Station aus den Augen zu lassen. Was nicht so toll war.
Sie dachte an die Streichhölzer in ihrer Hosentasche. Theoretisch konnte sie etwas in einem Abfalleimer in Brand stecken, um den Typen abzulenken, was jedoch auch zu viel Aufmerksamkeit wecken konnte. Also nicht die beste Option, wenn auch praktikabel. Noch bevor sie sich entscheiden konnte, blickte der Mann sich um, als hätte er Angst, erwischt zu werden, und verzog sich dann schleunigst auf die Toilette.
Sobald er außer Sicht war, lief Zinnia zur Bahnstation und schob sich unter den Armen der Sperre hindurch. Sie legte sich flach auf den Bahnsteig, um die Gummischeibe zwischen die Seitenwand und eine Schiene zu platzieren, wobei sie darauf achtete, das Gleis selbst nicht zu berühren. Die Scheibe war achteckig und hatte einen flachen Rand, weshalb man sie auf die Kante stellen konnte. Zinnia wartete, ob der Sensor einen Alarm auslöste, aber nichts geschah. Wahrscheinlich waren die Gleise gewichtsempfindlich, damit man darauffallende Trümmer entdecken konnte. Da die Platte aufrecht stand, ohne eine Schiene zu berühren, wurde sie hoffentlich nicht entdeckt, bevor sie die Bahn zum Entgleisen brachte. Was eigentlich klappen müsste .
Müsste müsste müsste. Das Ganze war ein schlampiger Plan, und sie hasste es, wenn etwas schlampig war, aber es war besser als die Alternative.
Sie schlüpfte wieder unter der Sperre durch und machte sich auf den Weg zum Aufzug. Während sie davor wartete, kam der Security-Mann aus dem Flur bei den Toiletten, weshalb sie schnell vorgab, den Plan der Anlage zu studieren. Dabei hüpfte sie von einem Bein auf das andere, als wollte sie gleich losjoggen.
Das Gleis war hier schnurgerade, sodass die Bahn gut beschleunigen konnte. Da sie erst in Live-Play stoppen würde, fuhr sie bestimmt ohnehin schon ziemlich schnell.
Zinnia musste an Paxton denken. Sie stellte sich vor, wie er neben Wells stand, während die Bahn auf das Hindernis auffuhr und entgleiste. Gebrochene Knochen und verdrehte Glieder. Massenhaft Blut. Sie schob das Bild von sich weg und konzentrierte sich auf das Geld, das sie bekommen würde. Auf die Freiheit, die sie dadurch gewann. Auf all die Dinge, die sie dann hinter sich lassen konnte.
Ein Mann näherte sich dem Aufzug, und Zinnia stieg hinter ihm ein. Als er die Uhr an den Scanner hielt, leuchtete die für sie falsche Etage auf. Zinnia rief: »Ach, verdammt, jetzt hab ich was vergessen«, und sprang wieder aus der Kabine. In der nächsten Viertelstunde musste sie das noch zweimal tun, bis endlich jemand einstieg, der auf ihr Stockwerk wollte.
Mehrere Türen vor ihrer blieb sie stehen und klopfte. In ihrer Brust vibrierte es vor Erwartung. Sie hatte Hadley früh am Morgen im Waschraum gesehen und gefragt, ob sie zur Zeremonie gehe, was Hadley aber verneint hatte. Jetzt hörte sie ein Schlurfen, dann ging die Tür auf, und Hadleys große Comicaugen spähten unter verwuschelten Haaren aus der Dunkelheit. Sie beäugte Zinnia wie eine Katze, ohne irgendeine bestimmte Emotion auszudrücken.
»Kann ich reinkommen?«, fragte Zinnia.
Hadley nickte und trat einen Schritt zurück. In der Wohnung herrschte ein muffiger Geruch nach ungewaschener Haut und altem Essen. Die Wände waren mit Weihnachtslichterketten geschmückt, die jedoch nicht brannten, und vor dem Fenster hing eine schwere Jalousie, sodass nur wenig trübes Sonnenlicht hindurchfiel. Auf der Ablage stapelten sich zerknüllte Papiertüten und leere Fast-Food-Behälter. Hadley zog sich weiter nach hinten zurück, setzte sich auf die Matratze und blickte mit fest verschränkten Händen zu Zinnia hoch. Die lehnte sich an die Ablage und wollte gerade etwas sagen, als Hadley sich räusperte.
»Ich habe viel über das nachgedacht, was du neulich im Waschraum gesagt hast«, sagte sie beinahe flüsternd. »Du hattest recht. Es war meine eigene Schuld.«
»Nein, nein, Liebes, das habe ich absolut nicht so gemeint«, sagte Zinnia. Ihr wurde etwas mulmig zumute. »An dem, was er getan hat, bist du überhaupt nicht schuld. Schuld ist nur er, sonst niemand. Aber du musst dich wehren. Mehr wollte ich bestimmt nicht sagen.«
»Ich schlafe in letzter Zeit so schlecht. Manchmal wache ich auf und hab das Gefühl, dass er hier in der Wohnung ist.« Hadley umschlang sich mit den Armen und zitterte trotz der Wärme, die in der Wohnung herrschte. »Ich brauche einfach … nur Schlaf.« Sie sah Zinnia an. »Ich wäre so gern stark. Wie du.«
Zinnia war vorübergehend sprachlos, denn das, was sie jetzt fühlte, hätte sie nicht von sich erwartet. Sie wollte Hadley in die Arme nehmen, sie zu sich heranziehen, ihr den Kopf streicheln und sagen, dass alles gut werden würde. Daran, wann sie das letzte Mal so für jemand empfunden hatte, erinnerte sie sich nicht mehr, was es noch erschreckender machte. Deshalb versuchte sie, sich Hadley als Spielzeugpuppe vorzustellen, die etwas sagte, wenn man an einer Schnur zog, sonst aber nur ein lebloses Stück Plastik war.
Nach einer Weile strich sie mit der Hand über das Schächtelchen in ihrer Hosentasche. »Ich hab da etwas, was dir helfen könnte.«
Hadley blickte mit erwartungsvoll aufgerissenen Augen zu ihr auf. Zinnia kniete sich neben sie und zeigte ihr den Behälter mit Oblivion in der geöffneten Handfläche.
»Ist das etwa …«, begann Hadley, unterbrach sich jedoch, als dürfte sie das Wort nicht aussprechen.
»Damit schläfst du wie ein Baby«, sagte Zinnia.
»Aber ich muss arbeiten. Nach der Zeremonie.«
»Nein, du musst schlafen. Melde dich einfach krank.«
»Aber mein Rating …«
»Scheiß auf dein Rating«, sagte Zinnia. »Das ist bloß eine Zahl. Es geht vielleicht ein bisschen runter, und wenn du hart arbeitest, geht es wieder hoch. Dir wird nichts passieren. Aber jetzt brauchst du ein paar Stunden sorglosen, unbeschwerten Schlaf. Glaub mir. Du siehst aus, als würdest du gleich auseinanderfallen.«
Hadley starrte das Schächtelchen lange an. Zinnia befürchtete schon, ihr das Zeug mit Gewalt in den Mund schieben zu müssen, doch schließlich nickte sie. »Wie nimmt man das denn?«
Zinnia öffnete den Behälter und betrachtete die Streifen aus dünner Folie. Sie sagte sich: Hadley braucht so etwas. Sie muss sich eine Weile von ihrem Stammhirn lösen und frei herumschweben.
Sie redete sich das so überzeugend ein, dass sie es beinahe glaubte.
»Man legt es einfach auf die Zunge«, sagte sie.
»Okay«, sagte Hadley. »Okay.«
Sie streckte die Zunge heraus, zog sie jedoch gleich wieder ein. Bestimmt war es ihr peinlich, dass Zinnia sie mit dem Zeug wie ein Baby fütterte.
Zinnia wusste, dass eine so schmale Frau, die eine solche Droge noch nie genommen hatte, schon von einem Streifen schachmatt gesetzt werden würde. Sie nahm vier Streifen heraus, hielt sie zwischen den Fingern und deutete mit dem Kinn auf Hadleys Mund. Als Hadley den wieder aufmachte, legte sie ihr die grün gefärbten Blättchen auf die Zunge, worauf Hadley die Augen schloss, als wollte sie nachdenken. Zinnia drückte sie sanft auf die Matratze.
Bald atmete Hadley immer seichter. Ihre Muskeln erschlafften, der Kopf fiel zur Seite. Zinnia hielt ihr zwei Finger an die Halsschlagader, um sich zu vergewissern, dass sie noch am Leben war. Der Puls fühlte sich an, als würde sie tiefe, bewusste Atemzüge nehmen.
Sie machte sich ans Werk. Zog ihr Shirt aus und griff nach Hadleys braunem. Es saß eng, passte aber gerade noch. Sie überlegte, ob sie die Bänder der beiden Uhren tauschen sollte, stellte jedoch fest, dass die sich stark ähnelten – das von Zinnia war magentafarben, das von Hadley pink. Als sie in den herumliegenden Klamotten wühlte, entdeckte sie eine alte, ausgeblichene Baseballmütze. Nachdem sie ihre Haare mühsam zu einem Pferdeschwanz gebändigt hatte, setzte sie sie auf. Sie betrachtete sich in dem Spiegel, der an der Tür hing. Sie legte Hadleys Uhr an, und als die einen Daumenabdruck von ihr verlangte, ergriff sie einfach Hadleys Hand und drückte den Daumen aufs Display. Der Smiley leuchtete auf.
Jetzt war sie startklar.