Zinni a
Zinnia würgte und entleerte den Inhalt ihres Magens auf das Metallgitter unter ihr. Er fiel in Klumpen auf die Rohrleitungen darunter. Sie zwang sich, wieder aufzustehen. Kaum stand sie aufrecht, erbrach sie sich erneut. Dann sah sie mehrere Wandhaken, an denen Gasmasken hingen. Sie griff sich eine, setzte sie auf und atmete tief ein. Das Innere der Maske roch nach Scheiße, Gummi und ihrer eigenen Kotze, aber auch nach Zuckerstangen. Was es nur schlimmer machte. Sie hasste Zuckerstangen.
Die Sichtscheiben der Maske verzerrten leicht den Blick, doch am Ende des Korridors, der hier weiterging, sah Zinnia eine weitere Tür. Als sie sich ihr näherte, trat eine magere Frau in einem rosa Poloshirt hindurch. Zinnia blieb kurz stehen, ging jedoch gleich weiter, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie sei bei irgendetwas erwischt worden. Ein Stück weiter trat sie zur Seite, um der Frau Platz zu machen. Die nickte ihr zu, während sie weiterging.
Rosa. Sie hatte noch nie jemand in einem rosa Shirt gesehen.
Es folgten einige weitere Korridore, in denen sie sich fühlte, als würde sie durch den Rumpf eines Schiffes wandern. Halbrunde Decken, keinerlei Fenster, an den Wänden entlanglaufende Rohrleitungen. Falls hinter der nächsten Tür wieder ein Korridor kam, wollte sie zurückgehen und nach einem anderen Eingang suchen, doch diesmal trat sie in ein geräumiges Labor. Computerterminals, summende Maschinen, Lichter. Überall Lichter. Der Raum hatte eine zweite Ebene, bestehend aus einem großen Glaskasten, zu dem eine Treppe hinaufführte. In dem Kasten standen Tische, an denen Männer und Frauen – alle in Laborkittel und mit aufgesetzter Gasmaske – mit Reagenzgläsern und Flüssigkeitsbehältern hantierten.
Die wenigen Arbeiter, die auf der unteren Ebene tätig waren, trugen keine Maske, weshalb Zinnia ihre ebenfalls abnahm und an einen leeren Wandhaken hängte. Im Mund hatte sie immer noch den Geschmack von Kotze, aber hier roch es angenehm, wenn auch künstlich. Die Luft wurde offenkundig gefiltert und behandelt. Zinnia ging langsam durch den Raum. Einige Leute – manche in Weiß, die meisten jedoch in Rosa – warfen ihr einen kurzen Blick zu. Einige stockten kurz, als würden sie überlegen, ob sie ihr Gesicht kannten, wandten sich jedoch gleich wieder ihrer Tätigkeit zu.
Die Blicke machten Zinnia nervös. Sie sah eine Tür und hoffte, dahinter in einen weiteren Korridor zu gelangen. Das war nicht der Fall. Stattdessen kam sie in einen kleinen Raum, wo ein schmächtiger Mann mit asiatischen Gesichtszügen und pechschwarzen, in der Mitte gescheitelten Haaren sich über ein Mikroskop beugte. Er blickte auf, sah die Farbe ihres Shirts und schüttelte den Kopf. »Ich habe niemand von der Technik gerufen.« Weil sie nicht reagierte, drehte er sich zu ihr um. »Ist Ihnen nicht klar, dass Sie hier nichts zu suchen haben?«
Sein Ton gefiel Zinnia nicht. Der Kerl hörte sich an, als wollte er sie melden. Unvermittelt sprang sie auf ihn zu und drückte ihn auf die Tischplatte. Das Mikroskop fiel um. Sie blickte sich um und stellte fest, dass keine Kameras im Raum waren.
»Verdammt, was soll das?«, sagte der Mann mit zitternder Stimme .
Zinnia wusste nicht, was sie antworten sollte. Von dem Gang durch den Korridor war ihr immer noch übel. Der Mann unter ihren Händen wehrte sich, aber sie war kräftiger und in der besseren Position, weshalb er schon bald aufgab.
»Wo sind wir hier?«, fragte Zinnia. »Was soll das alles?«
Der Mann verdrehte den Hals, um zu ihr hochzublicken. »Das … das wissen Sie nicht?«
»Was soll ich nicht wissen?«
»Nichts … Nicht so wichtig. Das ist nur eine … Das ist die Recyclinganlage. Und Sie sollten wirklich nicht hier sein.«
»Recycling. Und was wird recycelt?«
Der Mann schwieg, weshalb Zinnia etwas Druck auf seinen Hals ausübte. »Abfall«, krächzte er.
Sie dachte an den Kühlraum. Die Hackfleischkugeln. Im Kopf spürte sie eine völlige Leere, dann füllte er sich mit einem lautlosen Schrei. »Was?«
»Hören Sie, man hat es uns geschworen, ja? Man hat uns geschworen, dass es niemand schmecken wird. Außerdem ist es völlig ungefährlich.«
Vor Zinnias geistigem Auge formte sich ein Bild. »Was würde niemand schmecken?«
»Wir extrahieren das Protein«, plapperte der Mann, wie um sich dadurch zu retten. »Durch Bakterien wird Protein erzeugt, und das holen wir einfach heraus und behandeln es mit Ammoniak, um es zu sterilisieren. Anschließend wird es mit Weizen und Soja rekonstituiert und mit Roter Bete gefärbt. Es handelt sich um fettarmes Protein, das kann ich beschwören. Total sauber.«
Sie wusste die Antwort, stellte die Frage jedoch trotzdem. »Was ist aus fettarmem Protein? «
Schweigen. Dann flüsterte er: »Das Fleisch bei CloudBurger.«
Zinnia hatte gedacht, sie hätte bereits ihren ganzen Mageninhalt ausgeleert, aber sie fand noch etwas. Sie drehte sich zur Seite und kotzte einen dünnen Strahl Galle auf den Boden. Sie dachte an die zahllosen Hamburger, die sie seit ihrer Ankunft in sich hineingestopft hatte, und wollte weiterkotzen, bis wirklich nichts mehr im Magen war. Bis sie keinen Magen mehr hatte.
»Wollen Sie damit etwa sagen, dass das Hackfleisch bloß aus wiederaufbereiteter menschlicher Scheiße besteht?«, brachte sie heraus.
»Wissenschaftlich betrachtet, ist das nicht weiter schlimm«, sagte der Mann. »Ich … ich esse die Hamburger selbst. Ganz ehrlich.«
Was das anging, log er eindeutig. Zinnia strengte sich an, durch die Nase zu atmen und nicht mehr an das knusprige braune Fleisch zu denken. Wie oft hatte sie bei CloudBurger gegessen? Zweimal pro Woche? Dreimal? Am liebsten hätte sie dem Mann einen Faustschlag verpasst, tat das jedoch nicht. Es war ja nicht seine Schuld.
Oder doch? Schließlich trug er zu dem Prozess bei.
Sie schob den Gedanken von sich weg. »Die rosa Shirts. Was ist mit denen? Anderswo habe ich nie irgendwelche rosa Shirts gesehen.«
»Wir … das Abfallrecycling hat seinen eigenen Wohnbau.«
»Und eine vollkommen separate Belegschaft?«
»Wir sind nur ein paar Hundert. Man hält uns von den meisten Einrichtungen hier fern, das stimmt. Wir werden auch besser bezahlt. Haben hübschere … hübschere Wohnungen. Weil wir Opfer bringen. «
Zinnia ließ ihn los, verstellte ihm jedoch den Weg zur Tür. Er hob die Hände, wich zur hinteren Wand zurück und sah sich vergebens nach einer Stelle um, wo er sich verschanzen konnte. Zinnia wiederum suchte nach etwas, womit sie ihn fesseln konnte. Ihre Gedanken drehten sich beim Versuch, das alles zu begreifen, wie wild im Kreis.
Sie zwang sich, die Dinge positiv zu sehen. Wenn ihre Auftraggeber Cloud zu Fall bringen wollten, war diese Entdeckung einen anständigen Bonus wert. Wahrscheinlich würde das allein schon ausreichen. Egal durch welchen Trick die Anlage mit Energie versorgt wurde, es konnte nicht halb so schlimm sein wie menschliche Shitburger.
So musste sie das betrachten, als Druckmittel, das sie bei Verhandlungen einsetzen konnte. Das half ihr, nicht darüber nachzudenken, wie viele Hamburger sie im CloudBurger gegessen hatte.
Und wie fettig die gewesen waren.
Ihr schauderte.
»Sagen Sie mir jetzt genau, wie man von hier aus zur Energieverteilungsanlage kommt«, befahl sie dem Mann, der die Hände gehoben hatte, um sein Gesicht zu schützen.