Zinni a
Zinnia verließ die Bahn, die zwischen den drei Verarbeitungsanlagen pendelte, in der für die Energieverteilung. Sie wollte nicht mehr an die Hamburger denken, was aber praktisch unmöglich war. Wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens.
Wie bei allen Eingangshallen und Eingängen in der MotherCloud dominierten auch hier polierter Sichtbeton und schroffe Winkel. Auf den Videoschirmen liefen Werbespots und Kundenkommentare; ein Korridor führte ins Innere des Gebäudes.
Nirgendwo eine Menschenseele.
Die meisten Orte, an die Zinnia heute gekommen war, waren wegen der Zeremonie menschenleer, aber hier herrschte eine andere Atmosphäre. Irgendetwas war merkwürdig. Sie kam nicht darauf, woran das liegen könnte; vielleicht hatte es auch nur mit ihrer Nervosität zu tun, weil sie endlich hierhergelangt war. An den entscheidenden Ort.
Schließlich sah sie, dass sie doch nicht ganz allein war. Am Ende des Raums stand ein kleiner Tisch, und dahinter saß eine dralle junge Frau in einem blauen Shirt. Die braunen Haare hatte sie hoch aufgetürmt, auf der Nase trug sie eine Brille mit einem dicken roten Kunststoffrahmen. Sie las ungerührt in einem Taschenbuch.
Zinnia ging durch die Eingangshalle auf den Tisch zu. Das Quietschen ihrer Sohlen hallte von den Wänden wider, und als sie sich der Frau näherte, hob diese endlich den Blick. Das Buch in ihren Händen war eine zerfledderte Ausgabe von A wie Alibi von Sue Grafton.
»Gutes Buch«, sagte Zinnia.
Die Frau kniff die Augen zusammen, sichtlich verwirrt darüber, dass jemand vor ihr stand. Wie wenn Zinnia nicht hierhergehörte. Die Reaktion machte Zinnia nervös. Sie suchte noch nach einer brauchbaren Begründung, da lächelte die Frau sie an. »Von der Reihe habe ich alle schon mindestens fünf Mal gelesen. Ich fange immer am Anfang vom Alphabet an. Gut, dass es so viele gibt. Wenn ich beim letzten Band bin, habe ich nämlich immer schon vergessen, um was es im ersten genau ging.«
»Ein echter Vorteil«, sagte Zinnia. »Da kann man sich immer wieder überraschen lassen.«
»Hm.« Die Frau drückte das Taschenbuch an ihre üppige Brust. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich muss bloß kurz da rein, um mit jemand zu sprechen.«
Die Art und Weise, wie die Frau wieder die Augen zusammenkniff, wies darauf hin, dass Zinnia etwas Falsches gesagt hatte. »Mit wem denn?«
»Mit Tim.«
»Tim …«
Oje. »Den Nachnamen habe ich vergessen. Was Polnisches. Mit wenig Vokalen.«
Die Frau starrte Zinnia einen Moment lang an. Ihre Mundwinkel gingen nach unten. Sie legte das Buch auf den Tisch, hob die Uhr vor den Mund und drückte auf die Krone. »Energieverteilung. Wir haben ein Problem.«
Zinnia sprang auf die Frau zu und packte sie am Arm, was diese mit einem Aufschrei quittierte. Das Taschenbuch polterte hinunter. Zinnia behielt den Griff bei, während sie sich über den Tisch beugte und die Frau auf den Boden zerrte.
»Was soll das?«, stieß die Frau hervor.
»Tut mir leid«, sagte Zinnia und zog das Oblivion-Schächtelchen aus der Hosentasche. Während sie die Frau mit einer Hand nach unten drückte, öffnete sie mit der anderen den Behälter. Sie fummelte einen Streifen heraus und schob ihn der Frau in den Mund, als die gerade um Hilfe schrie. Die Frau biss ihr auf den Finger, den sie mit Gewalt herauszerren musste, doch wenig später sackte ihr Opfer ohnmächtig in sich zusammen.
Zinnia wartete, ob jemand auf die Meldung der Frau reagierte. Nichts geschah. Gut. Wahrscheinlich waren alle mit der Zeremonie beschäftigt.
Aber dann tauchte auf dem Display eine Nachricht auf:
Was für ein Problem?
Zinnia richtete sich auf und rannte los.