Paxto
n
»Danke, danke!«
Das sagte Gibson Wells bestimmt ein Dutzend Mal, um die Menge zu beruhigen, damit er sprechen konnte. Als er sich mit Paxton unterhalten hatte, war seine Stimme zittrig gewesen, doch wie er da auf dem Podium vor all den Menschen stand, hatte er offenbar verborgene Reserven entdeckt. Seine Stimme hatte einen sonoren Klang. Er sog die Energie seines Publikums förmlich in sich ein.
»Herzlichen Dank für diesen warmen Empfang«, sagte er, als der Jubel endlich verstummt war. »Leider muss ich euch gleich offen sagen, dass ich nicht lange sprechen kann. Aber ich wollte trotzdem hier aufs Podium kommen, um euch zu danken. Von ganzem Herzen. Es war mir zugleich ein Vergnügen und eine große Ehre, diesen Ort zu errichten, und jetzt, da ich so viele strahlende Gesichter vor mir sehe, macht es mich …« Er unterbrach sich, bevor er mit belegter Stimme weitersprach. »Es macht mich demütig. Wahrhaft demütig. Für das Verlesen der Namen werde ich mich gleich dort drüben hinsetzen.« Er deutete auf mehrere Stühle, die man für ihn und seine Entourage aufgestellt hatte. »Anschließend werde ich mich ein bisschen umschauen, bevor wir wieder abfahren. Es ist ein ganz besonderer, bedeutsamer Moment, wenn wir uns jetzt daran erinnern, welches Glück wir haben, gemeinsam hier zu sein.« Bei diesen Worten warf er einen Blick auf seine Tochter und Ray Carson. »Welches Glück wir haben, am Leben zu sein.
«
Er hob die Hand, worauf die Menge wieder in lauten Jubel ausbrach. Dann ging er auf die Stühle zu. Die anderen folgten ihm, aber niemand setzte sich, bevor er das getan hatte. Er ließ sich auf die Sitzfläche plumpsen. Eine Frau in einem weißen Poloshirt trat zum Mikrofon, und die Leute verstummten, als sie begann, die Namen zu verlesen.
Josephine Aguerro
Fred Arneson
Patty Azar
Paxton spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. An diesem Tag geschah das immer. Die Massaker am Black Friday kamen ihm zugleich wie etwas Reales und wie ein Fake vor. Man konnte sie leicht vergessen, obwohl es immer hieß, das solle man niemals tun. Es war auch nicht so, dass man sie wirklich vergaß, sie wurden einfach zu einem Hintergrundgeräusch des eigenen Lebens. Paxton erinnerte sich daran, wie er damals alles in den Fernsehnachrichten gesehen hatte. Die ganzen Leichen. Weiße Linoleumflächen mit Blutlachen, die im fluoreszierenden Licht rot schillerten. Dennoch waren die Massaker gewissermaßen zu einem Teil der Landschaft geworden, zu einem historischen Ereignis, auf dem sich wie auf allen solchen Ereignissen nach einer Weile eine Staubschicht ablagerte.
Tage wie heute boten eine Chance, diesen Staub abzuwischen und einen intensiven Blick auf das Geschehen zu richten. Sich daran zu erinnern, weshalb es so aus allem anderen herausstach. Dennoch hätte Paxton die Gedanken daran am liebsten abgestellt, um an etwas anderes zu denken. Da ihm das nicht gelang, stand er mit gefalteten Händen da und senkte den Kopf
.
Selbst nach so langer Zeit waren ihm einige der Namen vertraut.
Als alles vorüber war, erhoben sich Wells und seine Begleiter, gingen kurz auf dem Podium umher und stiegen dann die Treppe auf der anderen Seite hinunter. Dort wartete die Bahn, die sie durch den Campus transportieren sollte. Diesmal ließ Wells es zu, dass seine Tochter ihm die Stufen hinunterhalf.
Ray Carson wiederum hielt sich zurück und ließ alle anderen vorgehen. Er sah sich um, ließ den Blick über die Menge schweifen und ballte dabei wiederholt die Faust. Paxton machte sich Sorgen, dass sich die Abfahrt der Bahn verzögern könnte, weshalb er auf Carson zuging.
»Sir?«, sprach er ihn an.
Carson schüttelte den Kopf, als würde er aus einer Trance erwachen. »Nichts, nichts.« Er wedelte mit der Hand, ohne Paxton in die Augen zu sehen, und folgte dann den anderen.
Paxton bildete die Nachhut, während die Gruppe durch die Schneise schritt, die man abgetrennt hatte. Alle paar Schritte ging Wells auf die Sperrböcke zu, um lächelnd jemand die Hand zu schütteln. Dabei beugte er sich vor und legte eine Hand ans Ohr, damit er verstand, was die Leute sagten. Seine Beschützer wirkten so nervös, als würde er mit einem blutigen Steak auf ein Rudel Wildhunde zugehen. Sie warfen sich Blicke zu, schlossen dicht zu ihm auf und machten manchmal sogar den Anschein, dass sie zwischen ihn und das Publikum treten wollten, hielten sich dann aber doch zurück. Offenbar wussten sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollten.
Einige Male drehte Wells sich zu seiner Tochter um und winkte sie herbei, aber Claire blieb einfach stehen.
Ihr linker Arm hing schlaff herab, mit der rechten Hand hatte sie den linken Ellbogen gefasst. Die ersten paar Male reagierte Wells mit einem Lächeln, doch mit der Zeit wurde er ärgerlich. Am Gesicht ließ er sich das nicht anmerken, man sah es nur an seiner Hand. Die hatte anfangs freundlich gewedelt, schnitt bald jedoch durch die Luft wie ein Messer.
Als Claire sich endlich zu ihm gesellte, schüttelte sie Hände, stierte die Leute glupschäugig an, lächelte und nickte, aber alles so, wie man es tat, wenn man übertrieben Interesse heuchelte. Sobald sich die Gelegenheit bot, verschränkte sie schützend die Arme, während ihr Vater von der Menge beinahe verschlungen wurde. Er beugte sich immer weiter vor, um möglichst viele der entgegengestreckten Hände zu ergreifen. Die ganze Zeit über strahlte er übers ganze Gesicht.
Während sich die Gruppe langsam dem Bahnsteig näherte, summte Paxtons Handy. Unwillkürlich griff er danach, bevor ihm einfiel, dass er das jetzt ja bleiben lassen sollte. Was immer es war, es konnte nicht wichtig sein.
Es summte noch einmal.
Paxton befand sich ganz hinten, und alle Blicke waren nach vorn gerichtet, selbst die von Dakota und Dobbs. Da niemand ihn beobachtete, drehte er sich zur Seite und zog das Handy gerade so weit aus der Hosentasche, dass er das Display sehen konnte. Es war eine Nachricht von Zinnia.
Steig nicht in die Bahn.
Dann:
Bitte.