Zinni
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Zinnia lief durch Flure, riss die Türen von Büros auf, warf einen Blick in Toiletten und Computerräume, fand jedoch absolut niemand vor. In der gesamten Anlage befand sich keine einzige Menschenseele, außerdem war es so still, als wäre sie auf dem Mond gelandet.
Kein Wunder, dass die Frau am Eingang Verdacht geschöpft hatte. Schließlich hatte Zinnia behauptet, mit jemand sprechen zu wollen, obwohl niemand da war.
Der gesamte Ort war nicht nur leer, offensichtlich war auch nichts eingeschaltet. Einige Male blieb sie an einem Computerterminal oder einer Reihe Konsolen stehen, doch da blinkte kein einziges Licht. Als sie die Hände auf die Geräte legte, um zu spüren, ob sie warm waren oder vibrierten, war alles tot und kalt.
Natürlich waren viele Leute zur Zeremonie gegangen, aber man musste doch irgendjemand zurückgelassen haben. Schließlich war so eine Anlage keine Kaffeemaschine; man konnte sich nicht einfach davonmachen und sie allein vor sich hin werkeln lassen. Dennoch hatte es den Anschein, dass plötzlich alle weggebeamt worden waren. Keine Tür war verriegelt, manche standen sogar leicht offen. Je weiter Zinnia kam, desto schneller rannte sie, wie um der Furcht davonzulaufen, die in ihrem Magen blubberte.
Obwohl das Gebäude völlig verödet zu sein schien, spürte sie nämlich etwas. Eine statische Energie in der Luft, wie über die Haut krabbelnde Ameisen. Sie wurde
davon tiefer in die Anlage hineingezogen. Als sie zu einer breiten, nach unten führenden Treppe kam, betrat sie diese, ohne zu zögern. Der Sog, den sie wahrnahm, kam von dort unten.
Während sie die Stufen hinunterging, fiel ihr Paxton ein.
Wenn alles nach Plan lief, würde er mit den anderen bald die Bahn besteigen. Die würde auf die Scheibe auffahren und entgleisen, wobei viele Menschen verletzt oder getötet werden würden. Vielleicht war auch Paxton darunter. Ein Bild tauchte in ihr auf. Die Leichen. Das Blut. In der Mitte Paxton, ganz verdreht, einen Riss quer in dem albernen, gutmütigen Gesicht.
Sie schob die Vorstellung von sich weg. Ignorierte das leise Iiiiiiiiiih,
das in ihren Ohren summte. Wer war Paxton schon? Irgendein Typ. Und weiter? Menschen starben, so war das eben. Menschen waren bloß Fleischklumpen mit irgendwas drin, was sie dazu brachte, sich zu bewegen und zu sprechen. Aber letztlich doch bloß Fleischklumpen.
Abgesehen davon, gab es sowieso zu viele Menschen auf der Welt. Die Überbevölkerung war an dem ganzen Schlamassel schuld, sodass man sich inzwischen nicht mal mehr im Freien aufhalten konnte, also war eine gewisse Entvölkerung eine gute Sache. Ein paar Fleischklumpen weniger, die Kohlendioxid ausatmeten und Ressourcen verbrauchten.
Das Kribbeln auf ihrer Haut verstärkte sich. Sie blieb stehen. Die Härchen auf ihren Armen hatten sich aufgerichtet. Offenbar war es ganz in der Nähe. Sie wusste nicht, was, aber sie konnte es spüren. Ein leises Trommeln.
Vor ihr war eine Stahltür mit einem großen Drehrad
in der Mitte. Sie lief darauf zu und hielt das CloudBand an die Scannerscheibe.
Rot.
Sie versuchte es noch einmal. Rot.
War sie ausgesperrt, weil Braune keinen Zugang hatten oder weil inzwischen ein Security-Trupp hinter ihr her war? Aus welchem Grund kam sie nicht weiter? Sie hatte keine Ahnung, aber egal, woran es lag, die Zeit war knapp, weshalb sie sich zurücklehnte, ein Bein hob und die Ferse an die Scannerscheibe rammte, so heftig, dass es sie durchzuckte. Einmal, zweimal. Beim fünften Versuch sprang die Scheibe aus der Wand und baumelte an mehreren farbigen Kabeln herunter.
So weit, so gut. Sie führte die einzelnen Kabel nacheinander zusammen, um den Öffnungsmechanismus auszutricksen, und nach drei kleinen Elektroschocks leuchtete die Scheibe tatsächlich grün auf. Zinnia ergriff das Drehrad und machte sich daran, die Tür zu öffnen. Nach einer halben Drehung fiel ihr wieder Paxton ein.
Wie er den Arm um sie legte.
Wie er sich nach ihrem Arbeitstag erkundigte und sich wirklich dafür interessierte.
Wie er für sie da war. Wie ein Paar Pantoffeln und eine warme Decke.
»Scheiße«, stieß sie hervor. »Verdammte Scheiße.«
Sie schlug mit der flachen Hand an die Tür.
Zog ihr Handy aus der Tasche. Rief den Dialog mit ihm auf.
Steig nicht in die Bahn.
Senden.
Dann: Bitte.
Senden.
Als ihr Handy ein leises Summen von sich gab, spürte sie, wie eine gewaltige Erleichterung sie überkam, so als hätte sie einen Sandsack auf den Schultern geschleppt
und nun endlich abgesetzt. Wahrscheinlich hatte sie gerade einen Fehler gemacht, aber hoffentlich einen, der auf der gleitenden Skala der Fehler positiv war. Sie drehte das Rad bis zum Anschlag und zog die Tür auf.