Zinni a
Eiskalte Luft schlug Zinnia entgegen, kälter als die in dem Kühlraum zuvor. So kalt, dass die Nebenhöhlen rebellierten. Jenseits der Tür befand sich ein riesiger quadratischer Raum, mindestens vier Stockwerke hoch. Die Betonwände waren von einem Geflecht aus Treppen und Laufgängen überzogen.
Der Raum war vollständig leer – mit Ausnahme eines Kastens von der Größe eines Kühlschranks, der nahezu exakt im Zentrum stand.
Als Zinnia eintrat, erfüllte das Trommeln ihren Kopf. Die Wände schienen zu pulsieren. Der Boden war schartig und uneben. Hier hatten Maschinen gestanden, und zwar große. Der Beton war mit Ölflecken übersät. Furchen, Bolzenlöcher und Kratzer wiesen darauf hin, dass etwas weggezogen worden war.
Was immer hier stattfinden sollte, es hatte große Bedeutung. Der Raum befand sich offensichtlich noch im Umbau. In einer Ecke lagen Kabelrollen und Metallklammern; Gerüstelemente warteten darauf, zusammengesetzt zu werden.
Der Kasten in der Mitte schimmerte in einem dunklen Blaugrau. Während Zinnia langsam darauf zuging, erwartete sie, dass ein Alarm schrillte, dass etwas auf sie herabfiel, dass sie bewusstlos wurde, aber nichts geschah. Nur die Lufttemperatur veränderte sich. Es schien kälter zu werden, merkwürdigerweise aber auch feuchter.
Vor dem Kasten stehend, legte sie die Finger darauf. Das Metall war so kalt, dass es ihr die Haut verbrannte. An der Seite war ein Fenster, durch das man jedoch nichts sah, da es auf der Innenseite mit Frost überzogen war.
War dies das Ding, das die MotherCloud mit Energie versorgte?
Zinnia schwirrte der Kopf. Das war unmöglich, absolut unmöglich. Der Campus war so groß wie eine ganze Stadt, und der Apparat da hätte locker auf die Ladefläche eines kleinen Pick-ups gepasst.
Mit zitternden Händen zog sie ihr Handy aus der Tasche und machte sich daran, Fotos aufzunehmen. Aus jedem Winkel, von jeder Seite des Kastens. Von den Wänden und dem Boden. Von dem Baumaterial in der Ecke. Von der Decke. Selbst durch das Fenster des Kastens fotografierte sie, obwohl es da gar nichts zu sehen gab. Mehrere Male verrutschte ihr das Handy zwischen den Händen, sodass sich der Zeigefinger über die Linse schob und sie die Aufnahme wiederholen musste. Sie knipste und knipste und knipste, bis sie hoffentlich genügend Bilder hatte.
Als sie fertig war und den Raum verließ, sah sie, wie sich am anderen Ende des langen Flurs eine Tür öffnete. Ein rosa Shirt blitzte auf. Sie vergewisserte sich, dass das Handy sicher in ihrer Hosentasche steckte, bevor sie in einen anderen Korridor rannte, auf der Suche nach einer Tür, die sich als Ausgang entpuppte.
Stattdessen gelangte sie in einen langen, gebogenen Raum. Rechts reihten sich offene Arbeitskabinen aneinander, links sah man Fenster aus mattiertem Glas. Das war offenbar eine Außenwand. Zinnia überlegte, ob sie einen Bürostuhl nehmen und durch eine Scheibe werfen sollte, aber dann hätte sie sich auf einer offenen Fläche befunden, wo sie ein leichtes Ziel gewesen wäre. Und das auch nur, wenn sie sich überhaupt so weit unten befand, dass sie sich gefahrlos auf den Boden fallen lassen könnte.
Nein, sie musste einen Weg zurück zur Bahn finden. Aber jetzt wusste man, dass sie sich hier aufhielt. Man würde die Bahnstationen bewachen oder sich zumindest im Klaren darüber sein, dass sie dorthin unterwegs war. Sie rief den Lageplan aus dem Gedächtnis auf und überlegte, ob es vielleicht einen anderen Weg hinaus gab.
Vielleicht der Ambulanzshuttle? Wenn sich hier in der Anlage niemand befand, war dort womöglich auch niemand postiert. Nur dass sie keine Ahnung hatte, wo das Ding stand.
Daher rannte sie weiter. Flure entlang, durch Türen, an einer leeren Kantine vorbei, durch ein großes Büro und einen Raum, der wie das Kommandodeck eines außerirdischen Raumschiffs aussah. Sie rannte so schnell, als wollte sie die gelbe Linie auf ihrer Uhr grün werden lassen.
Sie erreichte einen Flur mit grauem Teppichboden und weißen Wänden. Dort, wo er sich am Ende verzweigte, standen sechs rau wirkende Männer in schwarzen Poloshirts. Männer mit gebrochener Nase, Blumenkohlohren und wilden Augen. Die Sorte Männer, die gern zuschlug und bereit war, Schläge hinzunehmen.
Zinnia blieb stehen. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Diese Typen gehörten nicht zum normalen Security-Team. Sie waren etwas anderes, etwas wesentlich Schlimmeres als die Armleuchter in Blau, die auf der Promenade patrouillierten.
Sie überlegte, ob sie den Rückzug antreten sollte, aber die Männer waren so nah, dass sie sie einholen würden. So nah, dass sie die höhnische Freude auf ihren Gesichtern sehen konnte. So als hätten sie etwas vor sich, was gefressen werden konnte.
Jetzt gab es nur noch einen Ausweg.
Zinnia versenkte sich tief in die Gefühle von Zorn, Frustration und Groll, die sich in ihr angesammelt hatten, seit sie in jenem Theatersaal bei ihrem dämlichen Einstellungstest gesessen hatte. Zuerst hatte sie die Leute bedauert, die hier arbeiteten, und gedacht, die wären irgendwie zu schwach, sich zu wehren, aber mit der Zeit war ihr etwas anderes aufgegangen: Dieser Ort war bewusst so geschaffen, dass man keine anderen Möglichkeiten mehr sah. Er war dazu gedacht, seine Bewohner zu unterwerfen.
Mit einem Mal verspürte sie den Wunsch, noch einmal Ember zu begegnen, um sich bei ihr zu entschuldigen und ihr zu sagen, wie recht sie habe.
Auch wenn das nichts gebracht hätte.
Die Männer wirkten ungeduldig. Der ganz vorn, ein hagerer Typ mit einem grauen Bürstenhaarschnitt und einem militärischen Tattoo auf dem Unterarm, löste sich aus dem Rudel und ging selbstsicher auf sie zu.
»Okay, Süße, das Spiel ist aus«, sagte er.
Zinnia seufzte. Es wäre nicht damenhaft, jetzt kampflos aufzugeben.
»Na schön, du Arschloch«, erwiderte sie. »Dann bist du wohl der Erste.«
Die Männer warfen sich Blicke zu, einige grinsten, einer kicherte dreckig. Der mit dem Bürstenhaarschnitt war Zinnia so nahe gekommen, dass er schon die Hände hob, um sie zu packen, weshalb sie sich zurücklehnte, um nicht in Reichweite zu sein, und ihm dann den Fuß in die Eier krachen ließ. Sie spürte, wie etwas unter der Spitze ihres Sneakers nachgab. Als der Typ in der Mitte einknickte, wich sie zurück, versetzte ihm eine harte Gerade und trat aus dem Weg, während er auf den Boden krachte.
Die anderen waren sichtlich überrascht, zeigten sich aber nicht eingeschüchtert. Immerhin stand es noch fünf gegen eine. Als der Nächste zum Angriff überging, tat er das aber allein, was ein Fehler war. Der bullige Glatzkopf sah aus, als würde er zum Zeitvertreib Kneipenschlägereien anzetteln. Zinnia sprang auf ihn zu, ging vor ihm in die Hocke und hämmerte ihm die Fäuste in Magen und Leber. Eins, zwei. Als er zurückweichen wollte, steckte sie ihre ganze Kraft in einen Aufwärtshaken, der so hart landete, dass sie sich dabei ziemlich sicher etwas an der Hand gebrochen hatte. Die Erschütterung lief den ganzen Arm entlang.
Während der Glatzkopf auf den Rücken plumpste, griffen die restlichen vier an. Zinnia rannte auf sie zu und sprang kurz vor ihnen nach links auf die Wand zu, damit keiner ihr in den Rücken fallen konnte. Sie ging hinter ihren Armen in Deckung und verteilte immer wieder Haken, Schwinger und Geraden, um alle auf Distanz zu halten. Während sie den Überblick behielt, stolperten ihre Angreifer über die eigenen Beine und rempelten sich gegenseitig.
Als sie nur noch zwei vor sich hatte, glaubte sie, eine reelle Chance zur Flucht zu haben, doch da kam von der anderen Seite des Flurs her ein weiterer Trupp Männer und Frauen in Schwarz angerannt.
Zinnia starrte so lange dorthin, dass einer ihrer beiden verbliebenen Kontrahenten sie am Kinn erwischte. Sie wirbelte um die eigene Achse, stolperte, sank auf ein Knie, und dann stürzten sich alle auf sie und begruben sie unter sich. Sie bekam gerade noch genug Luft zum Atmen.