Paxto
n
Zinnia saß kerzengerade da und starrte ins Leere. Erschöpft, mit ungekämmten Haaren, in einem braunen Poloshirt. Sie hatte ein blaues Auge, am Haaransatz klebte ein verschmierter Streifen Blut. Auf dem Tisch vor ihr waren säuberlich einige Gegenstände aufgereiht: ein CloudBand, ihr Handy, ein Pappbecher. Ihr gegenüber saß Dobbs. Sein Rücken war Paxton zugewandt, sodass sein Mienenspiel für ihn nicht erkennbar war. Dobbs hatte die Arme vor sich verschränkt, und seine sichtlich verspannten Schultern hoben und senkten sich, während er sprach.
Zinnia blickte geradeaus. Immer wieder ballte sie die Faust und schnitt dabei eine Grimasse.
»Die steckt ganz schön in der Patsche«, sagte Dakota.
»Was hat sie denn getan?«, fragte Paxton. Er musste sich anstrengen, nicht die Stimme zu heben oder die Faust durch die Fensterscheibe zu rammen.
»Eine Schlägerei angezettelt«, sagte Dakota.
Paxton drehte sich um und ließ den Blick durch den großen Raum schweifen, in dem hektische Aktivität herrschte. Überall Leute in blauen Shirts oder brauner Uniform. Auch Ray Carson, Gibson Wells und dessen Tochter waren da gewesen, aber gleich wieder hinausbegleitet worden.
»Wir haben uns die Ortungsdaten angeschaut«, fuhr Dakota mit leiser Stimme fort. »Du warst gestern Nacht mit ihr zusammen. Wie in vielen anderen Nächten davor.
«
Paxton verschränkte nun auch die Arme, während er Zinnia etwas murmeln sah. Dabei blickte sie weiter starr geradeaus.
»Es wird Fragen geben«, sagte Dakota.
»Ich weiß«, sagte Paxton.
»Willst du mir vielleicht jetzt schon was erzählen?«
»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Und ich schwöre dir …«
Er stockte. Dakota schob sich vor ihn und sah ihm in die Augen.
»Was?«, fragte sie. »Was willst du jetzt sagen? An deiner Stelle würde ich mir gut überlegen, was ich als Nächstes von mir gebe.«
Paxton presste die Lippen zusammen. Dakota starrte ihn an, als wollte sie durch seine Haut hindurchschauen, um den Beweis für eine Lüge zu entdecken.
Es war Paxton völlig egal, ob sie ihm glaubte oder nicht. Er war zwischen zwei Wunschbildern hin- und hergerissen. Einerseits wollte er, dass Dobbs herauskam, ihm auf die Schulter klopfte und sagte, er solle für heute Schluss machen und in seine Wohnung gehen. Und andererseits wollte er in den Raum stürmen, Zinnia auf die Arme nehmen und davonrennen, um sie in Sicherheit zu bringen.
Nach einer Weile kam Dobbs dann tatsächlich heraus und winkte ihm zu. Er setzte sich in Bewegung, gefolgt von Dakota, die von Dobbs jedoch mit einer Handbewegung abgewiesen wurde. »Sie nicht«, sagte er.
Dakota gehorchte, während Paxton mit gesenktem Kopf über den grauen Teppichboden ging. Er wollte nicht aufblicken, weil er den Eindruck hatte, dass alle ihn beobachteten. Dobbs führte ihn zu seinem Büro, ließ ihn vorgehen und schloss dann die Tür
.
Ohne dazu aufgefordert zu werden, setzte Paxton sich. Auch Dobbs ließ sich nieder, dann betrachtete er ihn lange Zeit mit im Schoß gefalteten Händen. Wie Dakota zuvor schien er in ihn hineinblicken zu wollen, als könnte er dort alle Antworten finden.
Paxton wartete einfach.
»Die Frau da drüben behauptet, Sie hätten mit der Sache nichts zu tun«, sagte Dobbs schließlich und neigte dabei leicht den Kopf, als zöge er das gnädig in Betracht. »Sie sagt, sie hätte Sie dazu benutzt, unsere Sicherheitsvorkehrungen auszutricksen, und das wäre alles. Womit Sie lediglich anständig hereingelegt worden wären.«
Paxton machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es blieb ihm im Hals stecken.
»Sie betreibt berufsmäßig Industriespionage.« Die Worte waren wie Faustschläge in die Rippen. »Wird angeheuert, um sich in Firmen einzuschleichen und deren Geheimnisse zu stehlen. Wir haben es inzwischen geschafft, einige Informationen über sie zu sammeln, und ich kann Ihnen sagen, dass Sie Glück haben, noch am Leben zu sein. Die Frau ist eine kaltblütige Killerin.«
»Aber das ist doch nicht …«, fing Paxton an.
»Mir persönlich ist nicht recht klar, was Sie gewusst haben und was nicht«, unterbrach ihn Dobbs. »Vielleicht sind Sie ein Komplize, vielleicht nicht. Ich weiß lediglich, dass jemand in Maple ein Hindernis zwischen die Schienen gelegt hat, das von den Sensoren nicht wahrgenommen wurde. Wenn wir mit der Bahn losgefahren wären, hätte sie dort entgleisen können. Dann wären wahrscheinlich viele Leute verletzt worden oder gar gestorben. Deshalb müssen Sie jetzt absolut ehrlich zu mir sein. Wieso haben Sie verhindert, dass die Bahn losgefahren ist?
«
»Ich …« Paxton verstummte.
»Wenn Sie nämlich eingeweiht waren …«
Paxton zog sein Handy aus der Tasche, öffnete mit zittrigen Fingern die Nachrichtenapp und reichte Dobbs das Gerät. Der hielt es ein Stück von sich weg, um es zu studieren.
»Sie hat mir die Nachricht geschickt«, sagte Paxton. »Ich dachte mir, wenn sie nicht will, dass ich in der Bahn bin, stimmt damit etwas nicht. Das war so ein Bauchgefühl.«
Dobbs nickte, legte das Handy auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme. Paxton fragte sich, ob er das Ding wohl je wiederbekam.
»Was wissen Sie über die Frau?«, fragte Dobbs.
»Das, was sie mir erzählt hat«, sagte Paxton. »Sie heißt Zinnia und war früher Lehrerin. Sie wollte in ein anderes Land ziehen, um dort Englisch zu unterrichten und …«
Paxton unterbrach sich, weil ihm klar wurde, wie wenig er über Zinnia wusste. Er wusste, dass sie Eiscreme mochte und im Schlaf ein bisschen schnarchte, aber er konnte nicht sagen, ob sie wirklich Lehrerin gewesen war und ob sie tatsächlich Zinnia hieß. Er wusste wirklich nur, was sie ihm erzählt hatte.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er.
»Wir werden der Sache auf den Grund kommen«, sagte Dobbs. »Und irgendwie ist es das zweite Mal, dass Sie unter fragwürdigen Umständen etwas Gutes bewirkt haben. Egal wie sich alles entwickelt, Sie haben allerhand Leuten das Leben gerettet. Das werde ich berücksichtigen.«
Er gab dieses Statement mit einer Grabesstimme von sich, die Paxton gar nicht gefiel.
»Ich habe sie geliebt«, sagte er
.
Paxton spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Es war ihm peinlich, dass er das sagte. Noch peinlicher war ihm der Blick, mit dem Dobbs ihn jetzt bedachte, so als wäre er ein Kind, das sich besudelt hätte.
Dobbs legte die Hand ans Kinn. »Tja, mein Junge, wir werden jetzt gemeinsam rekapitulieren müssen, was Sie in den letzten paar Tagen getan haben, okay?«
Paxton überlegte, wie schlimm es werden würde, wenn er sich weigerte. Auf jeden Fall würde man ihn feuern, aber das war das Schlimmste, was man ihm antun konnte. Sollte man das doch machen. Es gab auch anderswo auf der Welt Arbeit. Die meisten Jobs hatten zwar irgendwie mit Cloud zu tun, aber das war egal. Er würde schon irgendeine Möglichkeit zum Überleben finden.
Aber war Zinnia es wert, geschützt zu werden?
Sie hatte ihn benutzt.
Er hatte sie gefragt, ob sie mit ihm zusammenziehen wolle. Hatte ihr beinahe gesagt, dass er sie liebe. Ob sie ihn wohl insgeheim ausgelacht hatte? Tat ihr überhaupt irgendetwas leid?
Klar, sie hatte ihm möglicherweise das Leben gerettet, aber vor einem Anschlag, den sie selbst inszeniert hatte. Also hatte sie zuvor in Betracht gezogen, dass er ums Leben kam, und das für akzeptabel befunden.
»Es ist wirklich wichtig, dass Sie sich kooperativ verhalten, Paxton«, sagte Dobbs.
Paxton schüttelte langsam den Kopf.
»Wissen Sie überhaupt, wen Sie da beschützen?«
Paxton hob die Schultern.
»Sehen Sie mir in die Augen, mein Junge.«
Das wollte Paxton nicht, aber er fühlte sich gezwungen, Dobbs anzublicken, dessen Miene ebenso ausdruckslos wie undurchdringlich war
.
»Wie wäre es dann damit«, sagte Dobbs. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt in den Vernehmungsraum gehen und mit ihr reden?«
»Halten Sie das wirklich für klug?«
Dobbs erhob sich, wölbte den Rücken, als würde ihm das Mühe machen, und kam um den Tisch herum. Dann lehnte er sich so dagegen, dass sein Knie das von Paxton berührte. Paxton zuckte zurück.
Dobbs blickte auf ihn herab. »Helfen Sie uns, Ihnen zu helfen, mein Junge«, sagte er.