Zinni a
Der Mittelfinger war eindeutig gebrochen. Jedes Mal wenn sie die Faust ballte, durchfuhr sie ein kleiner Stich. Ihr Inneres wiederum fühlte sich an wie ein Sack Kartoffeln, den man mit Bleirohren bearbeitet hatte.
Als die Tür aufging, sah Zinnia die Person, die sie am wenigsten erwartet hätte, aber vielleicht sollte sie das auch nicht überraschen. Auf der Schwelle stand Paxton und starrte sie an, als wäre sie ein wildes Tier in einem klapprigen Käfig, das sich durch die Gitterstäbe stürzen könnte, um ihn zu verschlingen.
Diese gemeinen Hunde.
Paxton kam an den Tisch und zog den Stuhl ihr gegenüber über den Boden scharrend heraus. Dann setzte er sich ganz vorsichtig, so als wollte er sie nicht in Rage bringen.
»Es tut mir leid«, sagte Zinnia.
»Sie wollen, dass ich dich frage, wie du es getan hast. Was damit gemeint ist, hat man mir nicht richtig erklärt. Aber sie sagen, dass sie alles wissen wollen, was du seit deiner Ankunft getan hast, damit sie herausbekommen können, wie du es angestellt hast.«
Er sprach mechanisch wie ein Computer, der einen Text diktierte. Zinnia fragte sich, wen er dadurch wohl beschützen wollte. Sie hob leicht die Schultern.
»Sie haben mir gesagt, dass du mich benutzt hast, um an Informationen zu kommen.« Er sah sie an. »Stimmt das?«
Zinnia atmete tief ein, während sie darüber nachdachte, was sie antworten sollte. Leider fiel ihr nichts ein, was sich auch nur annähernd passend anhören würde.
Paxton senkte die Stimme. »Sie denken, dass ich dir geholfen habe.«
Zinnia seufzte. »Es tut mir leid. Ganz ehrlich.«
Was tatsächlich nicht gelogen war.
»Was ist dein richtiger Name?«, fragte Paxton.
»Den habe ich vergessen.«
»Lass die Scherze.«
Wieder seufzte sie. »Ist doch nicht wichtig.«
»Für mich schon.«
Zinnia wandte den Blick ab.
»Na gut«, sagte Paxton. »Was hattest du hier zu schaffen?«
»Man hat mich angeheuert.«
»Wofür?«
»Für einen Auftrag.«
»Hör endlich auf, bitte«, sagte Paxton. In seinen Augen standen Tränen. »Sie sagen, du bist eine Killerin.«
»Die werden alles sagen, was sie sagen müssen, um dich gegen mich einzunehmen.«
»Also stimmt es nicht.«
Sie wollte das schon bestätigen, zögerte jedoch. Als Paxton das sah, wich alle Farbe aus seinem Gesicht, und da wusste sie, dass sie sich weitere Erklärungen sparen konnte. Ihr Zögern war Antwort genug gewesen.
»Ich konnte nicht zulassen, dass du in die Bahn steigst«, sagte sie.
»Fast hättest du es doch zugelassen.«
»Aber am Ende nicht.«
»Weshalb?«
»Weil …« Sie schwieg. Blickte sich im Raum um. Betrachtete lange das Fenster, durch das man nichts sah. »We il ich dich mag.« Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an. »Das ist die Wahrheit. Nicht alles, was ich dir erzählt habe, ist wahr, aber das schon.«
»Du magst mich«, sagte Paxton. Er bildete die Worte im Mund, als wäre darin etwas Scharfkantiges verborgen. »Du magst mich.«
»Ehrlich.«
»Sie wollen wissen, wie du es getan hast«, wiederholte er. »Was immer es ist. Dobbs sagt, du wärst nicht bereit, es ihnen zu erzählen. Er meint, ich kann dich dazu bringen.« Paxton hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Dabei weiß ich nicht mal, was zum Teufel du überhaupt getan hast.«
Mit gehobener Augenbraue blickte Zinnia wieder zum Fenster hin. »Es ist besser, wenn du es nicht weißt.«
»Wieso?«
»Weil ich zu wissen glaube, was hier läuft.« Sie seufzte tief. »Und wenn das, was ich denke, wahr ist, dann besteht keinerlei Chance, dass ich diesen Ort lebend verlasse.«
Paxton erstarrte. Ihm schien bewusst zu sein, dass sich der Einsatz des Spiels nun erhöht hatte, und sah einen Moment lang nicht mehr wütend aus. »Nein«, sagte er. »Nein. Das würde ich nicht …«
»Du hattest nichts damit zu tun, was ich so oft und so laut bestätigen werde, wie es nötig ist«, sagte sie.
Paxton schien etwas erwidern zu wollen, ohne zu wissen, was. Sein Gesicht zog sich zusammen und erschlaffte wieder. Zorn, Furcht, Traurigkeit und vielleicht noch etwas anderes stiegen in ihm auf und ließen ihn erröten. Er sah aus wie ein leidendes Kind, und seine Qualen schnitten Zinnia ins Herz. In ihrem Leben war sie gefoltert, mit Messerstichen verwundet und angeschossen worden. Sie war aus großen Höhen abgestürzt und hatte sich zahllose Knochen gebrochen. Durch das alles hatte sie gelernt, den Schmerz als Freund zu betrachten, ihn zu verinnerlichen, sich in ihn zu versenken und ihn zu akzeptieren.
Das hier jedoch fühlte sich an, wie wenn sie zum ersten Mal richtig verwundet wurde.
Anstatt etwas zu sagen, stand Paxton auf. Er zögerte kurz und wandte sich dann zur Tür.
Zinnia hätte es ihm gern erzählt. Alles. Weshalb sie sich hier befand, worin ihr Auftrag bestanden hatte, sogar ihren richtigen Namen hätte sie ihm gern verraten. Aber seine Unwissenheit schützte ihn. Sie durfte ihn nicht mit in den Abgrund ziehen. Das hatte er nicht verdient.
Aber sie konnte auch nicht zulassen, dass das letzte Gespräch zwischen ihnen so endete. Deshalb sagte sie: »Warte.«
»Wieso?«
»Bitte.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Stuhl. »Ich möchte dir noch etwas sagen. Danach kannst du tun, was du tun musst.«
Er ließ sich wieder auf den Stuhl nieder. Hob die Hand, wie um sie zum Weitersprechen aufzufordern.
»Weißt du, woran ich ständig denken muss?«, sagte sie. »An etwas, was Ember in dem Buchladen gesagt hat.«
»Und das wäre?« Seine Stimme war nur noch ein Hauchen.
»Sie hat eine Geschichte erwähnt, die ich selbst mal in meiner Jugend gelesen habe«, sagte sie und setzte sich zurecht. »Eine Utopie. Sie handelt von einem Ort, wo es weder Krieg noch Hunger gibt. Alles ist vollkommen. Aber um diesen Zustand aufrechtzuerhalten, muss ein Kind in ein dunkles Zimmer eingesperrt werden, wo es ständig vernachlässigt wird. Wieso, weiß ich nicht. So funktioniert es halt. Kein Licht, keine Wärme, keine Freundlichkeit. Selbst die Leute, die dem Kind das Essen bringen, werden angewiesen, es nicht zu beachten. Das akzeptieren alle, weil es eben so funktioniert. Es ist wie ein magisches Gesetz, durch das die Dinge so bleiben, wie sie sind. Allen, die dort leben, geht es so gut, weil dieses eine Kind leidet, aber was ist ein einzelnes Leben gegenüber dem von vielen Milliarden?«
Paxton schüttelte den Kopf. »Wozu erzählst du mir das?«
»Die Geschichte hat mich immer wütend gemacht. Ich dachte, dass Menschen niemals so leben könnten. Wieso würde niemand dem Kind helfen wollen? Deshalb habe ich mir immer vorgestellt, ein neues Ende zu schreiben, wo irgendeine tapfere Gestalt in das Zimmer stürmt, das Kind in die Arme nimmt und ihm die Liebe schenkt, die man ihm verweigert hat.« Die letzten paar Worte brachte sie nur mühsam heraus, so als hätte sich die Erde geöffnet und etwas zum Vorschein gebracht, was darin vergraben war. »Die Leute in der Geschichte, die von dem Kind erfahren und nicht damit leben können, gehen einfach weg.« Sie lachte auf. »So heißt die Geschichte übrigens: ›Die Omelas den Rücken kehren‹. Von Ursula Le Guin. Lies sie doch mal.«
»Solche Geschichten interessieren mich nicht«, sagte Paxton. »Du hast mich angelogen.«
»Das ist ja das Problem. Siehst du das nicht? Niemand kümmert sich um irgendwas.«
»Hör auf damit.«
»Hast du nie jemand angelogen?«
»Nicht auf die Weise. «
»Hast du nie Mist gebaut?«
»Nicht auf die Weise!« Er betonte jedes einzelne Wort.
Sie seufzte. Nickte. »Ich wünsche dir ein gutes Leben.«
»Das werde ich haben«, sagte er. »Auf jeden Fall ein angenehmes. Hier, wo wir jetzt sind.«
Zinnia spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Du stellst dich also auf deren Seite?«
»Perfekt sind die natürlich nicht, aber immerhin habe ich hier einen Job und ein Dach über dem Kopf. Außerdem ist es vielleicht das Beste, es so zu arrangieren. Vielleicht hat ja der Markt bestimmt, hm?«
Zinnia lächelte. »Aber du könntest auch einfach weggehen.«
»Und wohin?«
Sie öffnete den Mund, als wollte sie sagen: Siehst du es nicht? Begreifst du es nicht? Sie hätte ihm so gern erzählt, was sie gesehen und gefunden hatte, was sie empfand, was dieser Ort ihm und ihr und allen anderen antat. Und der ganzen verdammten Welt.
Aber außerdem wollte sie, dass er am Leben blieb. »Denk dran, die Freiheit gehört dir, bis du sie aufgibst«, sagte sie deshalb und hoffte, dass das ausreichte.
Paxton schob den Stuhl zurück, stand auf und ging zur Tür.
»Tust du mir auch einen Gefallen?«, fragte Zinnia.
»Soll das ein Scherz sein?«
»Eigentlich sind es sogar zwei. Auf meinem Stockwerk wohnt jemand namens Hadley. In Wohnung Q. Schau mal nach ihr. Und pass auf dich auf.« Sie zuckte die Achseln und lächelte. »Das wär’s. Mehr habe ich nicht für dich.«