Paxto
n
Als Paxton aus dem Raum stolperte, so unter Druck, als müssten ihm gleich Lunge, Herz und Haut platzen, stieß er auf ein kleines Rudel, das sich vor dem Fenster versammelt hatte, um die Szene zu beobachten. Er drängte sich hindurch und verzog sich in den nächsten Vernehmungsraum, der leer war. Setzte sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände.
Die Tür ging auf. Er hörte schlurfende Schritte, wollte aber nicht aufblicken. Er wollte den, der da hereinkam, anschreien, er solle ihn allein lassen. Wahrscheinlich war es Dobbs. Oder Dakota.
Der Stuhl ihm gegenüber ächzte.
Er hob den Blick vom Tisch und sah Gibson Wells vor sich.
Das Lächeln, das Wells auf dem Podium aufgesetzt hatte, als würde es zu seinem Gesicht gehören, war verschwunden. Er ließ die Schultern hängen, wodurch er an einen Raubvogel erinnerte. Während er so dasaß, atmete er tief ein und aus. Trotz allem – trotz seiner Krankheit und der Hektik heute – strahlte er Kraft aus. Der Krebs musste wirklich stark sein, wenn er einen solchen Mann in die Knie zwang.
Wells faltete die Hände auf dem Schoß, dann musterte er Paxton von oben bis unten. »Dobbs sagt mir, dass Sie einen guten Charakter haben. Dass man sich auf Sie verlassen kann.«
Paxton sah sein Gegenüber einfach an. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Ihm fehlten sämtliche Worte.
Er hatte Angst vor dem, was er sagen würde, wenn er auch nur wagte, den Mund aufzumachen. Mit Gibson Wells zu sprechen war wie eine Audienz beim lieben Gott. Was würde man zu Gott wohl sagen?
Was geht, Alter?
»Ich kenne Dobbs ein bisschen«, sagte Wells. »Alle ein, zwei Jahre lade ich die Sheriffs aus den MotherClouds auf meine Ranch ein. Um sie kennenzulernen, da sie im Grunde der Kitt sind, der alles zusammenhält. Ich mag Dobbs sehr. Er ist vom alten Schlag, genau wie ich. Nimmt seine Arbeit ernst. Macht keinen Blödsinn. Sorgt dafür, dass die Zahl der Vorfälle hier extrem gering bleibt. Das hier ist wahrscheinlich die sicherste MotherCloud, die wir haben. Wenn er mir also sagt, dass man sich auf Sie verlassen kann, reicht mir das mehr oder weniger aus. Trotzdem möchte ich mich eine Weile selbst mit Ihnen zusammensetzen. Um ein Gefühl zu bekommen, wer Sie sind. Also sagen Sie mir, mein Junge – kann man sich auf Sie verlassen?«
Paxton nickte.
»Nun machen Sie mal den Mund auf«, sagte Wells.
»Man kann sich auf mich verlassen, Sir.«
Nun lächelte Wells wieder. Es war ein bissiges Lächeln. »Gut. Dann werde ich Ihnen jetzt erzählen, was geschehen ist. Ich verlasse mich darauf, dass das unter Freunden bleibt.«
Bei dem Ton, in dem er das Wort Freunde
aussprach, wurde Paxton zugleich warm und kalt.
Wells fuhr fort. »Sie wissen es vielleicht nicht, aber die ganzen großen Warenhausketten, die überhaupt noch im Geschäft sind, befinden sich im Besitz desselben Konzerns. Red Brick Holdings. Als nach den Massakern am Black Friday immer weniger Leute persönlich
einkaufen gegangen sind, standen viele Geschäfte vor der Insolvenz. Daraufhin ist Red Brick auf den Plan getreten, hat alle gerettet und unter einem großen Schirm versammelt. Können Sie mir so weit folgen?«
»Ja«, sagte Paxton laut und deutlich.
»Gut. Nun ist es so, dass die Besitzer dieses Konzerns mich nicht besonders mögen. Da Sie einen ziemlich cleveren Eindruck machen, verstehen Sie bestimmt, warum das so ist. Deshalb haben besagte Leute diese Frau damit beauftragt, in unsere Energieverteilungsanlage einzubrechen, um herauszubekommen, wie wir unseren Strom erzeugen. Wissen Sie eigentlich, wie wir das tun?«
»Nein, leider nicht«, sagte Paxton.
»Na, sagen wir einfach, es ist innovativ und sehr speziell, und es wird die Welt wieder in Ordnung bringen. Sie haben noch keine Kinder, oder?«
»Nein.«
Wells nickte ernst. »Irgendwann werden Sie sicher welche bekommen – Sie sind ja jung und haben viel Zeit –, und wenn deren Kinder, also Ihre Enkel, geboren werden, werden sie wieder draußen spielen können. Sogar mitten im Sommer. Darauf läuft es hinaus. Ganz nett, oder?«
Paxton konnte es fast nicht glauben. Es klang zu absurd, um wahr zu sein. Seit Jahren entwickelte man eine Idee nach der anderen, wie die Umwelt regeneriert werden könnte, aber nichts davon hatte geklappt. »Ja, Sir, das ist es.«
»Natürlich ist es das. Deshalb hat man diese Frau angeheuert, uns Betriebsgeheimnisse darüber abzuluchsen. Und zu meinem großen Bedauern hat man sie auch noch dafür bezahlt, mich umzubringen. Als ob ich nicht in ein paar Wochen ohnehin unter der Erde liegen würde.
Also hat sie versucht, mich zu töten, und sie arbeitet für den Feind.« Wells beugte sich vor. »Das ist schwierig für Sie, ich weiß, aber ich will, dass Sie verstehen, wie diese Puzzleteile alle ineinandergreifen. Es ist wichtig, dass Sie das ganze Bild sehen.«
»Okay«, sagte Paxton.
»Das ist alles? Einfach nur okay?« Wells sagte das in dem ungläubigen Ton eines Vaters, der nicht fassen konnte, dass sein Sohn Widerworte von sich gab.
»Nein, nein, natürlich nicht okay. Ich weiß, dass es nicht einfach nur okay ist, es ist bloß …«
Wells hob die Hand. »Es ist ein bisschen viel, ja. Hören Sie, ich will Ihnen etwas klarmachen. Sie haben mir das Leben gerettet. Das betrachte ich nicht als Kleinigkeit, und Sie werden dafür belohnt werden. Garantierte Beschäftigung. Ihr Ranking? Hat keine Bedeutung mehr. Sie haben bei Cloud jetzt einen lebenslangen Status, und nach dem, was Dobbs über Sie sagt, habe ich den Eindruck, dass er große Dinge mit Ihnen vorhat. Auf jeden Fall wird Ihr Leben von nun an deutlich leichter sein.« Er legte eine Hand auf den Tisch. »Aber im Gegenzug brauche ich etwas von Ihnen.«
Paxton hielt den Atem an.
»Sie müssen das Ganze ein für alle Mal abhaken«, sagte Wells. »Vergessen Sie, was geschehen ist. Gehen Sie aus der Tür da in ein angenehmes Leben raus. Sprechen Sie nie wieder darüber. Nicht mal mit Dobbs.« Er senkte die Stimme zu einem leisen Knurren. »Sie müssen begreifen, wie wichtig es für mich ist, dass nichts von alldem bekannt wird.«
Als er das sagte, stand in seinem Gesicht ein Lächeln. Sein Ton hatte nichts davon.
»Was wird mit der Frau geschehen?«, fragte Paxton
.
Wells schnitt eine Grimasse. »Interessiert Sie das wirklich? Nach allem, was sie Ihnen angetan hat? Das ist die falsche Frage, die Sie mir jetzt stellen, mein Junge.«
Paxton dachte an die vergangene Nacht. Daran, wie er Zinnia beinahe gesagt hatte, dass er sie liebe. Dass ihre Haut sich warm und weich angefühlt hatte. An ihre Hände und ihre Lippen. Und daran, dass sie dabei die ganze Zeit vorgehabt hatte, ihn zu hintergehen.
Man würde sie bestimmt nicht umbringen. Das konnte man einfach nicht tun. Schon die Vorstellung war aberwitzig.
»Das wär’s also«, sagte Wells. »Ich werde jetzt aus der Tür da gehen und mich um alles kümmern, und ich rechne damit, dass Sie meinen Vorschlag annehmen. Gibt es noch etwas, was Sie mir sagen oder mich fragen wollen, bevor ich gehe?« Er blickte sich in dem leeren Raum um und lächelte. »Die Gelegenheit dazu bekommen nicht gerade viele Leute.«
Ich bin der frühere Besitzer vom Perfekten Ei. Es war mein Lebenstraum, eine eigene Firma zu besitzen, und den habe ich mir erfüllt, aber dann hat Cloud mich aus dem Geschäft gedrängt. Ich musste meinen Traum aufgeben und hierherkommen, um für Sie zu arbeiten. Ich war Unternehmer, und jetzt bin ich ein besserer Wachmann. Die Frau, die ich liebe, hat mich hintergangen, und alles, was ich in meiner Zukunft sehe, ist ein einsames Leben, in dem ich über die Promenade der MotherCloud hier wandere. Das ist meine Belohnung.
»Nein, Sir«, sagte Paxton und verschränkte so fest die Hände, dass er das Blut aus den Adern presste.
Gibson Wells nickte. »Sehr gut, mein Junge.«