Zinni
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Als Gibson Wells durch die Tür trat, hatte Zinnia den Eindruck, dass ihm der Schatten des Todes folgte. Er stank danach mit seiner papierdünnen Haut und dem trüben Schimmer in den Augen. Offenbar klammerte er sich mit letzter Kraft ans Leben. Es war erstaunlich, dass er noch auf den Beinen stand.
»Wo ist Paxton?«, fragte sie.
Mit einem animalischen Glitzern in den Augen musterte Wells sie von oben bis unten. Ob er wohl überlegte, was er sich ihr gegenüber leisten konnte?
Er setzte sich so vorsichtig auf die andere Seite des Tischs, als hätte er Angst zu zerbrechen, faltete die Hände im Schoß und sagte: »Dem geht es gut.«
Zinnia hatte eine Menge Fragen, aber die erste und wichtigste lautete: »Hört uns gerade jemand zu?«
Er schüttelte den Kopf. »Man kann uns sehen, aber nicht hören.«
Ihr wurde flau im Magen. Sie fühlte sich wie inmitten eines riesigen, dunklen Ozeans. Keine Küste in Sicht, und etwas schnappte nach ihren Fersen. Deshalb paddelte sie wie wild nach einem Rettungsring.
»Sie haben mich selbst angeheuert, oder?«, sagte sie.
Die Lippen von Wells zuckten. Er rutschte auf dem Stuhl herum, als wollte er eine bequemere Position finden.
»Wie haben Sie das herausbekommen?«
»Ich hätte es gleich erraten sollen, weil Sie mir so viel Geld angeboten haben.« Sie lachte. »Wer könnte sich das sonst leisten?
«
Er nickte. »Haben Sie schon mal von Jeremy Bentham gehört?«
»Klingt bekannt.«
Wells lehnte sich zurück und schlug mit großer Mühe ein Bein über das andere. »Bentham war ein englischer Philosoph. Gestorben 1832. Kluger Bursche. Berühmt wurde er durch sein Konzept des Panopticons. Wissen Sie, was das ist?«
Auch das hörte sich nach etwas an, was tief in Zinnias Erinnerung verborgen war, aber sie schüttelte den Kopf.
Wells hob die Hände, wie um etwas zu umschreiben. »Stellen Sie sich ein Gefängnis vor. In diesem Gefängnis kann ein einziger Wärter sämtliche Gefangenen beobachten, aber die wissen nicht, ob sie in einem bestimmten Moment beobachtet werden. Bildlich am besten vorstellen kann man sich das als einen großen runden Raum, an den wie bei einer Bienenwabe sämtliche Zellen angrenzen. Im Zentrum steht ein Wachturm, von wo aus man in jede einzelne Zelle blicken kann, weil man eine Perspektive von dreihundertsechzig Grad hat. Wenn aber die Gefangenen zu dem Turm hinaufblicken, sehen sie nur diesen, nicht den Wächter. Sie wissen nur, dass der sie möglicherweise gerade beobachtet. Können Sie mir so weit folgen?«
»Ich glaube schon«, sagte Zinnia. »Hört sich allerdings eher nach einem Gedankenexperiment als nach einem echten Bauplan an.«
»Zur Zeit von Bentham war es genau das. Eine Idee, wie man Menschen dazu bringen könnte, sich anständig zu verhalten. Wenn jemand ständig unter Beobachtung ist, denkt er: Ich könnte zwar etwas Schlimmes tun, aber da ich dabei vielleicht erwischt werde, tue ich es lieber nicht. Das war eine ziemlich gute Idee, die in jener Zeit
jedoch nicht richtig verwirklicht werden konnte.« Wells lächelte und ließ den Zeigefinger wie ein Zirkusmagier in der Luft kreisen. »Heute ist die Lage anders. Es gibt Videoüberwachung und GPS
. Wenn man sich die Bevölkerung einer MotherCloud anschaut, ist sie größer als die Einwohnerschaft manch einer Stadt. Es würde ein Vermögen kosten, einen solchen Ort mit entsprechend vielen Polizisten auszustatten.«
Wells lehnte sich zurück und atmete tief durch, wie um neue Energie zu schöpfen.
»Nun ist es jedoch so, dass ich das gar nicht tun muss«, fuhr er fort. »Wenn man sich die Zahlen ansieht – das Vorkommen von Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung, Raub –, so sind die erheblich niedriger als die einer Stadt in vergleichbarer Größe. Ist Ihnen klar, was für eine Leistung das ist? Dafür sollte ich den Friedensnobelpreis bekommen, verdammt noch mal!«
»Sie sind ein Wohltäter der Menschheit.«
Wells hob eine Augenbraue, ignorierte die Spitze sonst aber. »Jedenfalls habe ich hier etwas geschaffen.« Er wies mit großer Geste auf den kleinen, dürftigen Raum. »Ein besseres Modell, als wir es früher hatten. Ich habe Städte von Grund auf neu gebaut.« Sein Gesicht verzog sich zu einem grässlichen Lächeln. »Allerdings muss man von Zeit zu Zeit den Reifendruck und den Ölstand prüfen. Überwachungsaufnahmen mag ich nicht, das stimmt. Es ist wirklich unangenehm, wenn man bei jedem Blick nach oben eine Kamera sieht. Teuer ist es außerdem. Deshalb dachte ich mir, wenn die Leute überall eine Tracking-Uhr tragen, wissen sie im Unterbewusstsein, dass sie kaum etwas ungestraft anstellen können. Das ist wie ein eingebautes Sicherheitssystem. Wieso sollte man doppelt Geld ausgeben?« Er zuckte die
Achseln. »Genau das ist meine Aufgabe. Etwas in die Hand nehmen, es rationalisieren und dafür sorgen, dass es besser funktioniert. Was allerdings bedeutet, dass ich das System ab und zu überprüfen muss. Was Sie heute entdeckt haben, ist etwas ganz Neues, und ich muss dafür sorgen, dass es geheim bleibt, bis ich bereit bin, es zu enthüllen.«
»Leicht haben Sie es mir nicht gemacht, das muss ich zugeben. Bis auf die Tatsache, dass im Empfangsbereich der Energieanlage nur eine einzige Frau saß. Das war ein echter Patzer.«
»Wir haben zu viele Leute zur Zeremonie gehen lassen, was ein Fehler war. Aber wir sind bewusst ein Risiko eingegangen. Ich hätte ohnehin nie gedacht, dass Sie es so weit schaffen. Wie haben Sie eigentlich die Bahnlinie entdeckt, die vom CloudBurger zur Recyclinganlage führt?«
»Das kann ich Ihnen schon sagen, aber es ist ein bisschen kompliziert.« Sie beugte sich vor, was er daraufhin ebenfalls tat. Doch anstatt seine Neugier zu befriedigen, sagte sie: »Sie können mich mal am Arsch lecken. Sie und Ihre Shitburger.«
»Also bitte«, sagte er und schnaubte, was wohl ein Lachen imitieren sollte. »Solche Ausdrücke ziemen sich nicht für eine so hübsche junge Dame. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ganz ausgezeichnete.« Er wedelte mit der Hand. Das tat er offenbar gern. Als würde ein Wedeln mit der Hand ausreichen, alles zu verscheuchen, was ihn störte. Als ob alles auf der Welt für ihn nur ein Rauchkringel wäre. »Was die Hamburger angeht … Nun ja, das würden die Leute leider nicht verstehen. Durch das Abfallrecycling ergibt sich eine gewaltige Ersparnis für die Umwelt. Die Reduktion der Rinderpopulation be
deutet einen erheblich geringeren Methanausstoß. Außerdem hat sich bisher kein Einziger beschwert. Bei CloudBurger essen mehr Menschen als in jedem anderen Restaurant einer MotherCloud.«
Im Magen von Zinnia gluckerte es. Mit großer Sicherheit hatte sie vorhin schon alles ausgekotzt, hätte aber gern noch ein bisschen auf den Tisch gespuckt, nur um zu sehen, wie der alte Kerl da zurückzuckte.
»Jetzt kommt die wirklich wichtige Frage«, sagte Wells. »Wieso haben Sie versucht, mich umzubringen? Das hat nämlich bestimmt nicht zu dem Auftrag gehört, den man Ihnen übermittelt hat.«
»Das verrate ich Ihnen, wenn Sie mir auch was verraten«, sagte Zinnia. »Der Kasten in der Energieverteilungsanlage. Was ist das?«
Wells legte den Kopf schief und stellte das übergeschlagene Bein wieder auf den Boden. Strich die Hose glatt. Zinnia dachte schon, er würde sich sperren, doch dann sah er sie an und sagte: »Es kommt wohl nicht mehr darauf an.«
Zinnia stockte der Atem.
»Kalte Fusion«, sagte er. »Wissen Sie, was das ist?«
»Nur in einem sehr allgemeinen Sinne.«
»Fusion ist eine Kernreaktion«, sagte Wells, beugte sich wieder vor und legte die Ellbogen auf den Tisch. »Normalerweise findet sie in Sternen statt, unter gewaltigem Druck und bei Millionen Grad Hitze. Dabei entsteht eine fantastische Menge Energie. Deshalb versucht die Wissenschaft seit langer Zeit, das Geheimnis der kalten Fusion zu entschlüsseln. Das ist derselbe Prozess, aber bei Zimmertemperatur. Diese Anlage hier …« Er machte wieder eine weit ausholende Geste. »Diese gesamte Anlage wird mit einem jährlichen Energieaufwand be
trieben, der einigen Hundert Litern Benzin entspricht. Wir stehen kurz vor der Massenproduktion.«
»Das … würde die Welt verändern«, sagte sie. In ihrem Bauch spürte sie einen Funken Hoffnung, der aber gleich wieder erlosch, weil ihr klar wurde, dass sie das – falls es wirklich je dazu kam – nicht mehr erleben würde.
»Ja, das wird es«, sagte Wells. »So viel wir auch für grüne Energie getan haben, an manchen Stellen wird noch Gas und Kohle gefördert. Nun aber haben wir eine Zauberformel dafür, diese Branchen endgültig zu erledigen. Es wird ausnahmsweise ein Vergnügen für mich sein, Leute arbeitslos zu machen.«
»Wieso halten Sie es dann bislang geheim?«
Er richtete sich auf und sah sie an, als ob sie ihn veräppeln wollte. »Weil es sich um nahezu grenzenlose Energie handelt. Da stellt sich die Frage, wie man das zu Geld machen kann. In Wahrheit habe ich mir allerdings ein höheres Ziel gesetzt. Ich glaube, es ist an der Zeit, die Regierung, diesen schwerfälligen Dinosaurier, von ihrem Elend zu erlösen. Und damit wird mir das gelingen.«
»Das hört sich jetzt aber sehr nach irgendwelchem Superschurkenblödsinn an«, sagte Zinnia. »Wollen Sie etwa die Weltherrschaft an sich reißen?«
»Nein, meine Liebe, ich werde diese Technologie völlig kostenlos jedem Land anbieten, das sie haben will, und zwar im Austausch dafür, dass es den überwiegenden Teil der öffentlichen Dienstleistungen privatisiert und von uns organisieren lässt. Bei der Luftfahrtbehörde habe ich bereits bewiesen, dass wir so etwas besser können. Wollen Sie eine Technologie, die die Welt verändert, denn wirklich diesen Witzfiguren im Parlament überlassen? Was würden die wohl damit tun? Sie würden alles verzögern. Es zu Tode regulieren. Falls sie nicht sogar
versuchen würden, es ganz zu verhindern, weil es gegen die Interessen der Gas- und Erdöllobby verstößt. Nein. Ich bin derjenige, der das in die Hand nehmen wird.«
»Mit welchem Recht?«
Er setzte ein derart breites Grinsen auf, dass Zinnia schon befürchtete, sein Gesicht werde gleich bersten. »Weil ich außergewöhnlich bin.«
Er sagte das mit großem Stolz, aber sein Blick zuckte dabei im Raum umher, als handelte es sich um eine Eigenschaft, die er allzu lange vor der Welt verborgen gehalten hatte, und jetzt hätte er endlich jemand gefunden, dem er sich genau so mitteilen konnte, wie er es wollte. Durch diese vier Wörter erfuhr Zinnia alles über ihn, was sie wissen musste.
»Sehen Sie sich doch an, was ich geschaffen habe«, fuhr er fort. »Ich versuche, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, und ich habe es satt, die Hände in den Schoß zu legen, während andere Leute meine Bemühungen zu Fall bringen wollen. Dieser ganze Unsinn, diese widersprüchlichen Regeln und Regulierungen, die dem wahren Fortschritt im Weg stehen und die Rettung verhindern …« Seine Stimme hatte sich gehoben, sein Gesicht gerötet. »Nur eines bedaure ich – dass ich diese Entwicklung nicht mehr erleben werde. Aber dafür habe ich Claire. Sie wird die größte Expansion von Cloud in die Wege leiten, die es je gegeben hat. Wir haben ein Modell gefunden, das funktioniert, und es ist an der Zeit für alle anderen, es zu übernehmen. Selbst das kleinste Ding auf dieser Welt, das nicht läuft, wie es soll, werden wir in Ordnung bringen.«
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Legte dabei eine Hand auf die Brust.
»Tut mir leid, das ist ein Thema, bei dem ich ein
bisschen leidenschaftlich werde«, sagte er. »Was aber kein Wunder ist. Wissen Sie, dass wir inzwischen mehr medizinische Leistungen erbringen als die nicht zu uns gehörenden Krankenhäuser? Dass an Cloud-Schulen mehr Kinder angemeldet sind als an allen anderen? Auf unseren Servern speichert selbst die CIA
ihre Daten. Deshalb ist das der logische nächste Schritt.«
»Soll das ein Witz sein?«, stieß Zinnia so laut hervor, dass Wells auf seinem Stuhl ein Stück weit zurückrutschte. »Waren Sie in letzter Zeit einmal im Freien? Auf der ganzen Welt sterben die Menschen. In diesem Moment stirbt ein Kind, und Sie haben die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, wollen es aber zurückhalten, bis Sie dafür eine Gegenleistung bekommen?«
Wells hob mit zufriedener, koboldhafter Miene die Schultern. »Wir werden bekommen, was wir brauchen, und die Welt wird ein besserer Ort sein. Aber jetzt schulden Sie
mir eine Antwort, glaube ich. Wer wollte mich umbringen lassen?«
Zinnia nickte. Sie freute sich darüber, es ihm heimzuzahlen. »Das waren Sie selbst«, sagte sie.
Sein Gesicht verdüsterte sich.
»Vor etwa einer Woche habe ich zusätzlich die Instruktion erhalten, Sie zu töten. Das habe ich natürlich nicht angezweifelt, weil ich da noch nicht wusste, dass Sie hinter allem stecken. Ich dachte tatsächlich, es wäre ein konkurrierendes Unternehmen. Wenn Sie also wissen wollen, wer Ihnen den Tod wünscht, müssen Sie nur die Person fragen, die mir die Anweisung überbracht hat.« Sie machte eine dramatische Pause. »Offenbar liebt man Sie nicht so sehr, wie Sie denken.«
Wells sank in sich zusammen. Er betrachtete die im Schoß liegenden Hände, zwei knochige Gebilde, die in
papierdünne, von Venen durchzogene Haut gehüllt waren. »Dieser Dreckskerl …«, murmelte er, schüttelte jedoch gleich wieder alles von sich ab und sah Zinnia mit jenem Glitzern in den Augen an. »Ich danke Ihnen«, sagte er. »Adieu!«
»Moment«, sagte Zinnia. »Wie geht es jetzt weiter?«
Wells, der bereits aufgestanden war, lachte nur kurz auf und setzte sich in Bewegung.
»Was geschieht mit mir?«
Er blieb stehen. Drehte sich zu ihr um. Musterte sie abermals von Kopf bis Fuß. »Wenn ein Elefantentrainer einen kleinen wilden Elefanten fängt, bindet er ihn an einen Baum. Der kleine Elefant wehrt sich und versucht mit aller Kraft, sich loszureißen, aber er ist einfach nicht stark genug. Nach einigen Tagen gibt er auf. Auch wenn er größer wird, glaubt er daher, er könne seine Fesseln nicht zerreißen. Deshalb ist es möglich, einen ausgewachsenen Elefanten mit einem Seil, das er mit einem simplen Ruck zerfetzen könnte, an einen Baum zu binden. Man nennt das erlernte Hilflosigkeit. Alles hier ist auf Leuten aufgebaut, die meinen, das Seil könnte nicht reißen. Das Allergefährlichste für mein Geschäftsmodell ist daher jemand, der erkennt, wie brüchig das Seil in Wirklichkeit ist.«
Er zwinkerte ihr zu, dann schloss sich hinter ihm die Tür. Etwas jedoch war geblieben, und nach wenigen Augenblicken wurde Zinnia bewusst, dass es sich um den Schatten des Todes handelte. Der war ihm hereingefolgt, jedoch nicht mit ihm verschwunden.