Paxto n
»Wo ist er?!«
Die Worte dröhnten so tief aus Gibson Wells heraus, als würden sie seinen geschwächten Körper gleich zerbrechen lassen. Paxton, der auf Anordnung von Dobbs in einer der Bürokabinen wartete, sprang auf und lief in die Richtung, aus der das Gebrüll kam. Das taten auch fast alle anderen, die in der Nähe waren, weshalb er sich bald mit den Ellbogen durch das Gemenge kämpfen musste.
Wells stand vor Ray Carson, der auf einem Stuhl saß und schützend die Hände über den Kopf gehoben hatte. Es war ein regelrecht komischer Anblick, wie der bullige Mann sich vor jemand duckte, den schon ein Windhauch umblasen konnte.
Dennoch begriff Paxton es. Nachdem er Wells gegenübergesessen und mit ihm gesprochen hatte, begriff er es nur zu gut. Und in diesem Moment machte es auch klick. Er sah wieder vor sich, wie Carson in der Bahn in Panik geraten und herausgestürmt war. Wie wenn er wusste, dass etwas passieren würde.
»Das warst du, oder?«, brüllte Wells.
»Ich hab keine Ahnung, wovon du da redest«, sagte Carson.
»Du lügst! Was sollte das werden, hm? Rache oder was?«
Carson erhob sich langsam und vorsichtig. Dabei sah er sich Hilfe suchend um, aber niemand reagierte. »Was du vorhast, ist völlig irrsinnig«, sagte er. »Ist dir das nicht klar? Du bist nicht so gottgleich, wie du meinst, Gib. «
Wells machte einen Schritt vor, sodass er Carson fast berührte. »Und Claire? Was wolltest du mit der anfangen? Sie etwa auch umbringen?«
»Die ist wie ein Kind. Ich hätte sie einfach an die Zügel genommen.«
»He!« Eine Frauenstimme.
Claire trat aus dem Pulk und versetzte Carson einen Hieb quer übers Gesicht.
Er nahm das hin, wich ein paar Schritte zurück und richtete den Blick auf Wells. »Kein Wort mehr. Jedenfalls nicht hier.«
»Gut.« Wells wandte sich an Dobbs. »Schaffen Sie ihn bloß weg. Stecken Sie ihn einfach zu dieser Frau.«
Dobbs winkte zwei Blauen, die Carson an den Armen packten und wegzerren wollten. Als er sich wehrte, trat Dobbs auf ihn zu und schlug ihm die Faust in den Magen.
Carson krümmte sich stöhnend, dann hob er den Blick. »Sie wissen, dass ich richtigliege, Dobbs. Das wissen Sie!«
Dobbs nahm die schwere Taschenlampe von seinem Gürtel und hämmerte Carson den Stiel ins Gesicht. Man hörte ein feuchtes, dumpfes Krachen, bei dem die Beobachter zusammenzuckten. Nur Gibson Wells nicht. Der lächelte. Carsons Kopf baumelte hin und her wie losgelöst; aus seiner zertrümmerten Nase lief Blut.
Während die beiden Blauen Carson davonschleppten, wandte Dobbs sich an das Publikum. »Besprechungsraum B. Jetzt sofort.« Alle sahen sich an, als hätten sie den Befehl nicht verstanden, weshalb Dobbs nun brüllte: »Sofort!«
Der Pulk löste sich auf, und die Leute gingen auf den Flur zu, der zum Besprechungsraum führte .
Nur Paxton blieb zurück und fasste Dobbs am Arm. »Bevor wir da reingehen, müssen wir miteinander reden«, sagte er.
Dobbs schüttelte die Hand zuerst ab und schien sich zu verweigern, ließ sich von Paxton dann aber doch in einen leeren Vernehmungsraum ziehen, den nächsten Ort, wo sie sich ungestört unterhalten konnten.
»Machen Sie’s kurz«, sagte Dobbs.
»Sie meint, dass man sie umbringen wird.«
»Wer meint was?«
»Zinnia. Sie meint, dass man sie töten wird, damit sie nichts ausplaudern kann.«
Dobbs kniff die Augen zusammen und betrachtete Paxton, als könnte er kaum glauben, was er da hörte. Dann lachte er. »Wir sind hier nicht in einem Kinofilm. Von uns wird niemand umgebracht.«
Paxton hatte ja gewusst, dass Zinnia sich täuschte, dass sie irrationale Ängste hatte, aber es tat trotzdem gut, die Bestätigung zu hören. Er überlegte, ob es noch etwas anderes gab, was er jetzt sagen oder tun sollte.
»Es ist schwer, ich weiß«, sagte Dobbs. »Wir müssen ein bisschen Schadensbegrenzung betreiben, aber alles wird wieder in Ordnung kommen, ganz bestimmt. Wie ich sehe, sind Sie total geschafft. Also wie wär’s, wenn Sie jetzt einfach in Ihre Wohnung gehen? Ruhen Sie sich erst mal aus.«
Paxton holte tief Luft, um den Mut aufzubringen, die Frage zu stellen, die er nicht stellen durfte. »Darf ich sie noch einmal sehen? Ein letztes Mal?«
Dobbs schüttelte den Kopf. »Unmöglich, mein Junge.«
Paxton stand wie angewurzelt da. Er wollte kämpfen, nahm sich das jedoch zugleich übel. Außerdem war er wütend auf sich, weil er überhaupt gefragt hatte. Er war aus so vielen Gründen wütend auf sich, also sagte er einfach nur: »Ich verstehe«, drehte sich um und ging.
Auf dem Weg zu den Aufzügen, in der Bahn und beim Gang durch die Eingangshalle von Oak kam ihm sein Kopf wie ein großer, leerer Raum vor. Wie ein Raum, der voller Dinge hätte sein sollen, es aber nicht war. Als er am Aufzug sein CloudBand an den Scanner hielt, fiel ihm ein, was Zinnia ihm aufgetragen hatte. Er machte sich auf zu Maple und fuhr dort in ihre Etage hinauf, aber als er vor Wohnung Q stand, fragte er sich, was er ihr eigentlich schuldete.
Dieser Frau, von der er angelogen und manipuliert worden war. Die sich seine Stellung zunutze gemacht hatte.
Gut, er hatte auch schon Scheiße gebaut.
Aber nicht so.
Jeder machte mal einen Fehler, und Paxton hatte viele gemacht.
Aber nicht so wesentliche.
Das sagte er sich vor wie ein Mantra.
Er hob die Hand und klopfte. Hörte auf der anderen Seite der Tür absolut nichts. Überlegte, ob er sich wieder davonmachen sollte. Etwas in Zinnias Stimme hatte ihm jedoch Sorgen gemacht, weshalb er nun noch einmal klopfte. Dann spähte er nach allen Seiten, und weil er niemand im Flur sah, hielt er einfach seine Uhr an die Scannerscheibe. Sie leuchtete grün auf, und er trat ein.
Die Wohnung stank nach schalem Essen. Auf der Matratze lag jemand zusammengerollt unter der Decke. Eigentlich hätte er wieder gehen sollen, aber die Gestalt rührte sich nicht, obwohl das vom Flur her eindringende Licht auf sie fiel. Er betrachtete sie in der Hoffnung, dass sie sich doch noch bewegte, aber das tat sie nicht. Daraufhin trat er zum Bett und schlug die Decke zurück. Sah eine hübsche junge Frau mit langen Haaren daliegen. Er musste sie nicht berühren, musste ihr nicht den Puls fühlen, um zu wissen, dass sie tot war.
Er hob seine Uhr und wollte Meldung erstatten, drückte die Krone und hätte dann etwas sagen sollen, schwieg jedoch. Er war fertig. Hatte keine Kraft übrig. Heute jedenfalls nicht mehr.
Die Blase, in der er sich befand, platzte, und alles in ihr strömte wirr ins Leere. Er drehte sich um, ging zurück zu Oak, fuhr in seine Wohnung hoch, ließ sich auf die Matratze fallen und starrte an die Decke.
Da fiel ihm etwas anderes ein, was Zinnia gesagt hatte.
Etwas über die Freiheit, die man habe.