Paxto n
Während Paxton über die Promenade wanderte, grübelte er über alles nach, was ihn quälte, vor allem jedoch dachte er an den Kirschgeschmack, der auf seiner Zunge verblieben war. Weder verschwand der Geschmack, noch ließ er die Dinge verschwinden, die Paxton lieber vergessen wollte.
Er überlegte, was für ein Tag es war, und kam auf Sonntag, doch als er auf seine Uhr sah, stellte er fest, dass es sich um Mittwoch handelte. Er ging weiter, vergaß aber bald, wo er gerade gewesen war. Ein Neuankömmling erkundigte sich nach dem Weg zu Live-Play, und erst nachdem er ihn auf den Weg geschickt hatte, wurde ihm klar, dass es die falsche Richtung gewesen war. Kurz vor dem Ende seiner Schicht ging er zu CloudBurger und dachte beim Essen, dass dies der Höhepunkt dieses Tages sein würde. Welcher Wochentag das war, hatte er bereits wieder vergessen.
Ach ja, Mittwoch.
Als er das Lokal verließ, querte eine kleine weibliche Gestalt seinen Weg. Mit ihrem kahl geschorenen Kopf, ihrer bleichen Haut und ihrer schmächtigen Statur sah sie aus wie ein Alien. Sie trug ein rotes Poloshirt und wirkte nervös. Ihr Blick zuckte umher, die Muskeln waren angespannt. Paxton meinte schon, die Droge hätte ihm ein Loch ins Hirn gefressen, aber während er die Frau davongehen sah, wurde ihm klar, dass man jemand, von dem man mit einer Waffe bedroht worden war, nicht so schnell vergaß .
Ember hatte ihn nicht wahrgenommen, was ihn störte. Hatte sie jetzt nicht mal mehr einen Blick für ihn übrig? War er denn so unwichtig? Das war zwar eindeutig nicht die richtige Reaktion, aber so fühlte er sich eben, weshalb er ihr folgte. Dabei tastete er nach dem Ding in seiner Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass es noch da war.
Sie stieg in die Bahn, und er stellte sich ein Stück weiter weg hin, aber direkt in die Mitte der Leute, wie um zu sagen: Siehst du mich denn nicht? Aber Ember hielt den Kopf gesenkt und verbarg ihr Gesicht.
In der Administration stieg sie aus und stellte sich an einem Terminal an. Vor ihr warteten etwa ein Dutzend andere. Paxton stellte sich neben sie. Als sie ihn von der Seite her anschaute, erstarrte sie und richtete den Blick nach vorn. Schloss die Augen, als könnte sie ihn dadurch wegzaubern.
»Hallo«, sagte Paxton.
Das war zwar lächerlich, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Sie seufzte lange und tief. Ließ die Schultern hängen.
»Natürlich«, sagte sie. »Natürlich, verdammt noch mal.«
»Da hast du den Einstellungstest also endlich überstanden«, sagte Paxton.
»Ausgerechnet du. Die ganzen Ressourcen, die wir in die Sache reingesteckt haben, und dann …«
Paxton legte ihr die Hand auf den Arm und packte zu, sodass er sie fest im Griff hatte, ohne Aufsehen zu erregen. »Gehen wir«, sagte er.
Er hätte erwartet, dass sie sich wehrte, aber das tat sie nicht. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war ihm vertraut; es war der gleiche, den er jeden Morgen im Spiegel auf dem eigenen sah: vollständige, den ganzen Körper erfassende Niedergeschlagenheit. Sie ließ sich von ihm wie eine Marionette zum Aufzug führen, wo er seine Uhr an den Scanner hielt, um zur Security-Etage hinaufzufahren.
Als Paxton ausstieg, hielt er Ember immer noch am Arm fest. Am Ende des langen Flurs war der offene Eingang des Großraumbüros, hinter dem er Leute in Blau hin und her gehen sah.
Zwischen dem Aufzug und dem Großraumbüro befanden sich sechs kleinere Räume. Einer davon war höchstwahrscheinlich gerade leer, da er nur verwendet wurde, um Besprechungen zwischen dem Security-Team und anderen Abteilungen abzuhalten.
Dritte Tür links.
Neben ihm trat Ember von einem Bein aufs andere. »Na?«
Paxton überlegte, ob er sie ins Büro schaffen sollte. Stellte sich die Blicke von Dakota und Dobbs vor, wenn die hörten, was ihm da gelungen war. Dass er eine Ratte erwischt hatte. Wenn Dobbs ihn dann wieder mit »mein Junge« anredete, war das vielleicht wirklich nett gemeint.
Auf halbem Wege blieb Paxton vor dem Besprechungsraum stehen, der tatsächlich leer war, und legte seine Uhr an den Scanner. Dann hielt er Ember die Tür auf, und sie trat ein. Das Mobiliar bestand lediglich aus einem Tisch mit einem daran befestigten Tablet und Stühlen auf jeder Seite.
An der Wand hing ein Schild, auf dem in schöner Schrift stand: DU KANNST ALLES MÖGLICH MACHEN!
Ember beäugte die Umgebung, und als Paxton die Tür schloss und das Licht einschaltete, trat sie in eine Ecke und hob schützend die Hände. Sie hatte sichtlich Angst, mit einem Mann, den sie eigentlich nicht kannte, in einem fensterlosen Raum zu stecken. Mit einem Mann, den sie einmal mit einer Waffe bedroht hatte.
»Setzen!«, sagte Paxton.
Sie tappte zum Tisch, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und setzte sich, als würde der Stuhl eine Bombe mit Druckzünder enthalten. Paxton ließ sich ihr gegenüber nieder und sah, dass ihre Angst sich in Verwirrung verwandelte. Sie betrachtete ihn wie ein abstraktes Gemälde, das erst entschlüsselt werden musste.
»Du siehst anders aus«, sagte sie. »Aber nicht auf positive Weise.«
Paxton reagierte mit einem Achselzucken.
Ember sah ihn fragend an. »Die Frau, mit der du zusammen warst. Wo ist die?«
»Du hattest unrecht«, sagte Paxton.
»Wie meinst du?«
»Was die Bücher angeht. Wir haben Exemplare von Fahrenheit 451 . Den Report der Magd haben wir ebenfalls. Cloud unterdrückt solche Bücher nicht; es bestellt sie bloß niemand. Man hat schließlich keine Sachen auf Lager, die keiner haben will. Das ist einfach nur … Das ist eine gute Geschäftsstrategie, oder? Liegt daran, dass der Markt bestimmt.«
Ember machte den Mund auf, sagte dann aber doch nichts. Ihre Miene drückte aus, dass es nicht darauf ankam.
»Wahrscheinlich spielt es gar keine Rolle, ob du recht oder unrecht hast«, fuhr Paxton fort. »Die Sache ist, dass die Leute nicht zugehört haben. Nicht weil man ihnen etwas vorenthalten hätte, sondern weil sie es nicht wissen wollten.«
Ember rutschte auf ihrem Stuhl herum .
»Wieso habt ihr es ausgerechnet auf diese Anlage abgesehen?«, fragte er. »Ihr habt schon einmal versucht, hier einzudringen, und es hat nicht geklappt. Wieso versucht ihr es nicht bei einer anderen MotherCloud?«
»Was soll das hier werden?«, fragte Ember. »Eine Therapiesitzung? Ein Verhör? Willst du meine Lebensgeschichte hören?«
»Beantworte die Frage.«
Ember seufzte. »Meine Eltern haben nicht weit von hier ein Café geführt, in einer hübschen kleinen Stadt. Ich bin dort aufgewachsen. Als die Stadt eingegangen ist, sind auch alle Orte drum herum gestorben. Samt dem Café und meinen Eltern.« Sie blickte auf ihre im Schoß liegenden Hände. »Man könnte es also als persönliches Interesse bezeichnen. Vielleicht zu persönlich.« Sie sah Paxton an. »Was tun wir hier eigentlich?«
»Was hattest du hier vor?«
»Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«
»Sag schon«, stieß er scharf hervor. »Wo ist dein Streichholz?«
»Das habe ich nicht mitgebracht.«
Paxton lachte. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Du hast es endlich geschafft, hier einzudringen, und hast das Programm nicht mitgebracht?«
»Bist du irre? Was, wenn man mich bei der Ankunft damit erwischt hätte? Weißt du, was dann mit mir passiert wäre? Ich habe versucht, eine Möglichkeit zu finden, wie man es reinschmuggeln kann. Außerdem habe ich mich nach einer Gelegenheit umgesehen, anderweitig Schaden zu verursachen.« Sie wandte seufzend den Blick ab. »Aber keine Chance. Alles ist verdammt gut abgeschirmt.«
Paxton griff in seine Hosentasche. Ja, der USB -Stick war noch da. Er zog ihn heraus und spielte damit, ließ die Finger über das glatte Plastik gleiten. Ember riss die Augen auf. Sie hielt den Atem an.
Er wusste nicht, weshalb er das Ding überhaupt behalten hatte. Eigentlich hatte er es damals im Wagen aus dem Fenster werfen wollen. Als er in die Anlage zurückgekehrt war, hatte man es nicht entdeckt – da er ein Blauer war, hatten seine Kollegen an den Scannern nur flüchtig auf den Bildschirm geschaut. Einer von den Vorzügen. Erst in seiner Wohnung hatte er gemerkt, dass etwas in seiner Tasche steckte, und weil es ein Speicherstick war, der einen gewissen Wert besaß, hatte er ihn zunächst in die Schublade neben der Spüle gelegt, anstatt ihn wegzuwerfen.
Es war nur ein kleines Stück Plastik. Dennoch war es irgendwie nett gewesen, dass es in der Schublade lag, und seit der Begegnung mit Rick trug er es wie einen Schmeichelstein in der Hosentasche mit sich herum und rieb den Daumen daran, wenn er sich beruhigen und sammeln wollte.
Er hatte den Stick einfach bei sich haben wollen. Etwas herumzutragen, dem so viel Kraft innewohnte, vermittelte ihm ein bestimmtes Gefühl. Gut war nicht das richtige Wort. Keine Ahnung, wie er es nennen sollte. Er wusste nur, dass der Stick mehr Gewicht besaß, als es den Anschein hatte.
Jetzt legte er ihn auf den Tisch, mehr auf seiner Seite als auf der von Ember. »Was bewirkt der?«
Ember beugte sich vor, als wollte sie den Stick an sich nehmen. Paxton legte die Hand darauf.
»Es ist ein Virus«, sagte sie. »Er setzt die Triebwerke an den Cloud-Satelliten in Gang, um die aus ihrer Umlaufbahn zu schieben, aber nur ein winziges bisschen. Deshalb würde das niemand merken, bis sie ein paar Wochen später plötzlich ihre Bahn verlassen und abstürzen. Cloud käme vollständig zum Stillstand, weil nichts mehr funktionieren würde, weder die Versandsysteme noch die Drohnennavigation, die Mitarbeiterverwaltung, das Banking. Ein Todesstoß wäre es nicht, aber es würde Cloud sehr, sehr lange lahmlegen. Vielleicht so lange, dass etwas anderes Wurzeln schlagen kann.«
»Aber dann würden viele Leute leiden«, sagte Paxton. »Viele würden ihre Arbeit verlieren. Und ihre Wohnung.«
Ember setzte ihr Pokerface auf. Zusammengekniffene Augen, Mund wie ein Strich. Sie richtete die Wirbelsäule auf. »Das System ist im Eimer. Es gibt nur eine Möglichkeit, es wieder einzurenken – indem man es niederbrennt und ganz von neuem anfängt. Angenehm kann so was natürlich nicht sein.«
»Und was ist, wenn es nicht klappt?«
Ember lächelte leicht. »Dann haben wir es wenigstens versucht. Ist das nicht besser, als gar nichts zu tun?«
Paxton taten die Füße weh. Der Rücken ebenfalls. Sein Magen fühlte sich von den Hamburgern im CloudBurger fettig und aufgebläht an. Außerdem verschwand der Kirschgeschmack einfach nie. Dabei mochte er Kirschen gar nicht.
Er schob ihr den USB -Stick zu. Sie griff danach und steckte ihn sofort in das Tablet. Tippte auf den Bildschirm. Er war gesperrt. Paxton beugte sich über den Tisch und hielt seine Uhr daran, um das Gerät einzuschalten.
»Mach schon«, flüsterte er.
Ember tippte auf das Display, während Paxton dasaß und sich wünschte, dass die Tür aufging, Dobbs hereinkam und alles sah. Irgendwie war er mit sich uneins, ob er wollte, dass jemand ihr Tun unterband, oder ob er dabei erwischt werden wollte.
Er beobachtete Ember, während die Minuten verstrichen.
Schließlich lehnte sie sich zurück und atmete ächzend aus.
»War es das?«, fragte Paxton.
Sie lächelte ihn an. Es war ein echtes Lächeln, das eine tiefe, substanzielle Emotion ausdrückte. Dieses Lächeln hätte er gern aufbewahrt, um es in der Tasche mit sich herumzutragen.
»Du bist ein Held, dass du so etwas tust«, sagte sie.
»Nein«, sagte er ruhig und fügte dann lauter hinzu: »Nein, bin ich nicht.«
»Darüber können wir später diskutieren«, sagte sie. »Jetzt müssen wir hier raus.« Sie stand auf und ging zur Tür.
Paxton folgte ihr. Er wusste nicht, warum, aber er tat es. Es kam ihm in diesem Moment richtig vor, ihr zu folgen. Sie nahm es wahr, hielt ihn jedoch nicht davon ab und ließ ihn hinter sich hergehen, bis sie zu den Aufzügen kamen. Nachdem er seine Uhr an den Scanner gehalten hatte, standen sie da und warteten. Ember trat von einem Bein auf das andere, als wollte sie davonrennen. Paxton behielt den Eingang des Großraumbüros im Blick und hoffte, dass niemand herauskam und ihn sah.
Die Aufzugtür ging auf. Dakota und Dobbs traten heraus.
Mit ihren braunen Uniformen kamen sie Paxton wie zwei Sandsteinblöcke vor. Sie nickten ihm beinahe gleichzeitig zu, dann musterten sie Ember von oben bis unten, wohl um abzuschätzen, ob sie sie kannten .
Paxton war wie versteinert. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte das Gefühl, sich selbst zu sehen, wie er da mit Ember, Dakota und Dobbs stand. Die beiden wussten, was geschehen war, das mussten sie einfach wissen.
Es war vorbei. Zeit zu gehen. Dorthin, wo Zinnia jetzt war.
Dakota wollte etwas sagen, aber Paxton hüstelte schnell, um seine Stimme wieder in Gang zu bringen. »Die ist neu hier und hat sich verirrt«, sagte er. »Ich bringe sie wieder runter in die Eingangshalle.«
Dobbs nickte. »Kommen Sie danach in mein Büro. Ich muss was mit Ihnen besprechen.«
Paxton nickte, hielt den Atem an und stieß die Luft erst aus, als er mit Ember in den Aufzug getreten war und sich die Tür geschlossen hatte.
An der Bahnstation angelangt, stand Paxton in der regenbogenfarbenen Menge und hatte das Gefühl, von einem Scheinwerfer erfasst zu werden. Er erwartete, dass sich jeden Moment alle Blicke auf ihn richteten, aber nichts geschah. Er war nur ein Shirt, das sich von einem Ort zum anderen bewegte. Ember starrte so fest geradeaus, dass sie fast vibrierte. Als wollte sie irgendwie erzwingen, nicht geschnappt zu werden.
Sie stiegen in die Bahn und fuhren zur Aufnahme, und da Paxton Blau trug, achtete niemand auf sie, als sie auf das Rechteck aus weißem Licht zugingen. Draußen sah er über der öden Landschaft wellenförmig die Hitze aufsteigen, und dann hatten sie die Schwelle zwischen Dunkelheit und Sonnenlicht erreicht. Es war August, was man leicht vergessen konnte, wenn man sich nie draußen aufhielt. Als die Sonne auf Paxtons nackten Unterarm auftraf, verbrannte sie ihm fast die Haut.
Hinter sich fühlte er vom Inneren des Gebäudes her kühle Luft heranwehen. Dort gab es alles, was man brauchte, man musste nur auf eine Taste drücken.
Ein Bett, ein Dach über dem Kopf und einen Job fürs ganze Leben.
Die Welt, die sich vor ihm ausbreitete, war eine flache Einöde voll toter Städte, in der es nichts zu hoffen oder zu erwarten gab – außer auf dem langen Weg zu etwas, was sich vielleicht als nichts erwies, an Durst zu sterben.
Aber vielleicht konnte man wirklich einfach davongehen. Vielleicht war das der erste Schritt. Das Streichholz war angezündet, und mit genügend Zeit und Sauerstoff konnte man das alles niederbrennen.
Aber ob etwas derart Großes so leicht zu zerstören war?
Mitten im Licht stehend, drehte Ember sich um und sah ihm fest in die Augen. Es war ein Blick, bei dem man sich zugleich größer und kleiner fühlte. Man erkannte den Fehler, den man gemacht hatte, war jedoch von der Hoffnung beseelt, man habe genügend Zeit, ihn wiedergutzumachen.
»Kommst du?«, fragte Ember, doch das hörte Paxton kaum, weil die Stimme von Zinnia ihm etwas ins Ohr flüsterte.