Am selben Abend fand sich im Salon des Chancton Arms in Washington ein regelrechtes Konklave von »Stammgästen« ein. Es gab nur ein Gesprächsthema – den Mord an John Rother und die Erkenntnisse des Coroner bei der Untersuchung am Vortag. Die Morgenzeitungen berichteten recht wortreich über das Verbrechen, und viele Abbildungen zeigten ohne jeden Bezug ein Bild des Chanctonbury Ring. Die Gespräche fächerten vom Hauptthema in alle erdenklichen Richtungen aus: der Polizei wurden kostenlose Ratschläge erteilt; Theorien wurden vorgetragen; man nickte zustimmend zu diesem und jenem verdächtigen Umstand; man erzählte sich Anekdoten von John und William; man hob die Gläser auf die Verhaftung des »Mordbuben, soll er doch hängen, zum Donner, so wie alle Mordbuben hängen solln«. Im Chancton Arms herrschte offenbar keinerlei Zweifel an der Wirksamkeit der Todesstrafe.
»Ist doch bloß recht und billig, dass die, wo Leben nehmen, auch Leben verlieren«, bemerkte der alte Garge Butcher unter dem vereinten Beifall der Versammlung. »Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie’s im Buche steht. Mister John, das war schon ein selten netter Kerl, das findet ihr doch bestimmt auch, und ich für mein Teil würd nicht anstehen, seinem Übeltäter, wenn der jetzt hier zur Tür reinkäm, eins auf den Schädel zu geben.« Und mit dem ausgestreckten Seidel Mild und Bitter zeigte der alte Garge mit derart dramatischer Gebärde zur Kneipentür, dass sich alle Köpfe in der Erwartung, gleich werde der Mörder eintreten, dorthin wandten.
Tatsächlich öffnete sich die Tür in dem Moment auch, und ein schmaler Junge mit strähnigen Haaren und fliehendem Kinn reckte sein Raubvogelgesicht fragend zu der Gesellschaft hin. Brüllendes Gelächter begrüßte diese seltsame Erscheinung, die im Ort mit der Direktheit bukolischer Spitznamen als »Spinner« Ned bekannt war.
»Na los, hau ihn, Garge!«
»Da steht der Kerl, der Mister John kaltgemacht hat!«
»Am besten gestehst du gleich, dass du’s warst, Ned – der Constable sucht dich schon überall.«
Das Gelächter wogte auf und ab, doch Ned stand nur da und beäugte die Gruppe mit humorvoller Duldung. Er war seine Rolle als Zielscheibe gewohnt und auf seine schlichte Art sogar stolz darauf.
»Und was soll ich gestehn?«
»Jetzt sag bloß, du hast es noch nicht gehört, Ned«, sagte der alte Garge. »Bist ja ein bisschen einfältig, aber so einfältig nun auch wieder nicht.« Garge zwinkerte den anderen zu. »Ich denk mal, der weiß, wer’s getan hat. Was, Ned?«
»Weiß ich auch!«, sagte Ned kämpferisch und nickte langsam, um seine Überzeugung zu untermauern.
»Und wer, Ned?«
»Sie war’s«, sagte Ned mit bewundernswerter Kürze.
»Und wer ist ›sie‹ wohl?«
»Mister Wills Frau.«
Erneutes Gelächter begrüßte diese Meinung, während Ned mit den Füßen scharrte und die Dörfler reihum trotzig anschaute.
»Ich sag’s euch, ich weiß es. Ich hab gesehn, wie sie Teile von der Leiche in den Ofen gelegt hat. Nämlich in der Nacht, wo der Pfarrer sein Whistturnier gemacht hat.«
»Was hastn da gesehen, Ned?«
»Ich hab gesehn, wie Mrs. Will zum Tor von Chalklands rausgekommen ist, mit nem dicken Paket unterm Arm.«
Der alte Garge spielte das Spiel mit. »Und das warn die Leichenteile, wie, Ned?«
Ned nickte, zutiefst überzeugt.
»Warum würd sie denn sonst lang nach Mitternacht rauskommen, wenn nicht, um Leichenteile in den Ofen zu tun?«
Tom Golds, der Dorfbäcker, weithin bekannt als kluger und gebildeter Mann, schaltete sich ein: »Vielleicht ist da ja was dran, was Ned sagt. Ist doch wirklich merkwürdig, wenn eine Frau weit nach Mitternacht mit einem Paket aus dem Haus geht. Zur Post will sie damit ja wohl nicht. Bist du sicher, Ned, dass es ein Paket war und nicht die Katze? Das wär sozusagen fasslicher und würde die Sache erklären.«
Ned blieb stur bei seiner Meinung.
Der Bäcker fuhr fort: »Und wie kommt’s, dass du noch so spät unterwegs warst, Ned?«
»Der Pfarrer hat mich gefragt, ob ich ihm beim Putzen von der Legion Hall helfen kann. Nach dem Whistturnier war alles dreckig, weil die Burschen alle ihre Pfeife ausgeklopft haben. Also bin ich noch geblieben und hab gefegt und die Stühle richtig hingestellt. Wie ich dann auf die Straße bin, war zwölf schon durch.«
»Und hat sie dich gesehen, Ned?«
»Nö – hab mich versteckt, bis sie bei den Öfen war. Hab mich ganz schön gegruselt, wie ich die da mit dem Leichenteil wie’n Schirm unterm Arm gesehn hab.«
»Jetzt Moment mal, Ned! Das Whistturnier war doch Donnerstag vor einer Woche. Woher hast du denn da schon gewusst, dass das Leichenteile waren, wo’s doch erst heut Morgen in der Zeitung gestanden hat?« Der alte Garge schaute sich ob dieses Beweises seiner Schläue triumphierend um. »Hab ich dich erwischt, Ned, was!«
»Ich hab eben geraten, dass das Leichenteile warn«, erwiderte Ned mürrisch, empört darüber, dass an seiner Geschichte herumgenörgelt wurde.
Tom Golds schien das, was Ned unbedingt gesehen haben wollte, ernster zu nehmen. Er fand es durchaus merkwürdig, dass Janet Rother weit nach Mitternacht durch das Tor von Chalklands ging, egal, was das Paket enthielt.
»Ich glaube«, sagte er schließlich nach allgemeiner Debatte, »Ned hat da was gesehen, was geklärt werden muss. Wir wissen alle, dass Ned nachts schon mal komische Sachen sieht, aber er ist ja doch ziemlich sicher, dass es Mrs. Will war. Außerdem erinnert er sich, dass es in der Nacht vom Whistturnier war. Ich finde, Ned sollte mal mit dem Constable sprechen.«
»Aye – soll er mal«, bestätigte der alte Garge, der nun vollständig zur offiziellen Sicht gewechselt war. »Gesetz ist Gesetz – da führt kein Weg dran vorbei, Ned. Sprich du nur mal mit Constable Pinn.«
Ned schüttelte leicht den Kopf und wich zurück. Bestürzung lag in seinen schweifenden Augen.
»Nö – ich doch nich. Ich mach da kein Ärger! Am Ende sperrt mich der Constable noch ein.«
»Ich sorg dafür, dass er’s nicht tut, Ned«, drängte Tom Golds. »Heut Abend kommst du mit mir, dann sehn wir mal, ob der Constable zu Hause ist.«
»Mir gefällt das nicht«, meinte Ned mit großem Unbehagen.
»Das ist ein Mordfall, Ned«, machte der alte Garge deutlich. »Das bist du auch Mister John schuldig, dass du mit dem Constable sprichst.«
»Gefällt mir trotzdem nicht«, protestierte Ned.
»Ich geb dir auch ein Glas Bitter aus«, sagte Tom Golds diplomatisch.
»Mach zwei draus«, warf der alte Garge ein.
»Drei!«, sagte Charlie Finnet.
»Vier!«, ergänzte Cyril Smith.
»Ich geh hin«, sagte Ned prompt. »Ich mach’s.«
Manchmal schien es, als wäre Ned weit weniger einfältig, als er nach außen hin wirkte.
Sein Entschluss war folglich der Grund dafür, dass Meredith gleich am nächsten Morgen in Washington erschien. Der Constable hatte ihn am Vorabend noch spät angerufen, worauf der Superintendent verfügt hatte, dass Ned um 9.30 Uhr im Washingtoner Polizeiposten war. Nun saßen die beiden Beamten in dem heißen, stickigen kleinen Raum mit der Holzbank, der Küchenuhr, dem offiziell wirkenden Schreibtisch und den gestrichenen Wänden, die mit polizeilichen Anschlägen gepflastert waren.
»Und wie sehr kann man sich auf die Aussage dieses Mannes verlassen?«, fragte Meredith gerade.
»Na ja«, begann der Constable vorsichtig, »in einer Hinsicht ist er verrückt, in einer anderen nicht. Bei normalen Sachen wie Geld, Politik und Landwirtschaft ist er einfältig. Solche Sachen kapiert er nicht richtig. Andererseits glaube ich nicht, dass Ned so schlau ist, eine Geschichte wie die über Mrs. Rother zu erfinden. Die hätte er nicht mit so was Plausiblem wie dem Whistturnier verbinden können oder damit, dass der Pfarrer ihn gebeten hat, beim Aufräumen zu helfen. Ich würde also sagen, Sir, dass man sich auf Neds Aussage im Großen und Ganzen verlassen kann, wenn auch nicht auf jedes Detail. Aber still! – Da kommt er, Sir, jetzt können Sie ihn selbst befragen.«
Neds Eintreten in den Polizeiposten ging nicht ohne eine aufwendige Pantomime vonstatten. Er blickte die Straße auf und ab, zog eine Uhr hervor, steckte sie zurück, tat, als wollte er sich wieder entfernen, ging auf Zehenspitzen zum Fenster, sah die wartenden Polizisten, tippte sich an die Schläfe, grinste und wollte erneut die Straße hinuntergehen.
»He!«, rief ihm der Constable aus der Tür nach. »Hier wartet ein Herr, der sich gern mal mit dir unterhalten möchte, Ned. Kein Grund zur Sorge. Der beißt nicht.«
Ein wenig beruhigt, kam Ned ein paar Schritte den Hang herauf und fragte demütig: »Kann ich wieder gehn, wenn ich gesagt hab, was ich gesehn hab?«
»Na klar, Ned.«
»Und der sperrt mich auch nicht ein?«
Der Constable lachte.
»Na, komm! Komm! So ist’s brav«, schmeichelte er ihm, als wollte er einen Hund durch die Tür locken. »Der Herr kann nicht den ganzen Vormittag warten, Ned.«
Nun ganz beruhigt, trat Ned in den kleinen Raum, setzte sich unaufgefordert auf den Schreibtischstuhl, knöpfte die Weste auf und streckte die gestiefelten Beine in breitem Winkel von sich.
»Also, Ned«, begann Meredith mit lockerer Vertrautheit, »was habe ich da gehört? Du hast Mrs. Rother gesehen? Wann war das wohl, hm?«
Ned erklärte abermals die Sache mit dem Whistturnier, und Meredith machte sich Notizen, um dem Simpel die Bedeutung seiner Aussage nahezubringen. Nachdem er eine Menge Spreu von den wenigen Weizenkörnern getrennt hatte, verfügte er über die folgenden einigermaßen verlässlichen Fakten: Am Donnerstag, dem 25. Juli, vier Tage, nachdem die Tragödie entdeckt worden war, hatte Ned gesehen, wie Janet Rother das Tor von Chalklands geöffnet hatte und in Richtung der Kalköfen gegangen war. Unterm Arm hatte sie dabei ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket, ungefähr von der Größe eines mittleren Korbs. Ned war ihr nicht gefolgt, weswegen er auch nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass sie tatsächlich zu den Öfen gegangen war. Er schätzte den Zeitpunkt grob auf zwanzig nach zwölf, was Constable Pinn durch einen Besuch im Hope Cottage, wo Ned bei seinem Onkel wohnte, schon hatte bestätigen können. Auch Neds Onkel war bei dem Whistturnier gewesen, danach aber mit seiner Frau direkt nach Hause gegangen. Dort hatte er auf Neds Rückkehr gewartet. Sein Neffe war gegen 0.30 Uhr heimgekommen, was bedeutete, dass er zehn Minuten davor an Chalklands vorbeigelaufen war.
Nach Beendigung der Befragung, die zu Merediths Ärger viel zu lange gedauert hatte, fuhr er sogleich nach Chalklands. Kate Abingworth zufolge war Janet Rother in Storrington, von wo sie erst am späten Abend zurückkehren wollte.
»Wer putzt Mrs. Rothers Schuhe?«, fragte Meredith.
»Judy.«
»Ich würde mich gern mal mit der jungen Dame unterhalten«, sagte Meredith und ergänzte beiläufig: »Übrigens, Mrs. Abingworth, seit dem Verschwinden Ihres Dienstherrn haben Sie wohl nicht gesehen, dass Mrs. Rother nachts das Haus verlassen hat?«
»Nie, nein.«
»Wer räumt ihr Schlafzimmer auf?«
»Na ich, ja.«
»Und Ihnen ist in dem Zimmer kein eigenartiger Geruch aufgefallen?« Kate Abingworth schüttelte den Kopf. »Und Sie haben auch keine Kleider, ein Stück Papier, ein Taschentuch oder dergleichen mit Blutflecken darauf bemerkt?«
»Gott, nein, ja!«, kam die emphatische Verneinung.
»Schön – dann rede ich jetzt mal mit Judy.«
»Wenn Sie mir folgen wollen – sie ist im Waschhaus, ja. Aber ich bezweifle, dass Sie was aus ihr rauskriegen. Ist ein dummes Ding.«
Meredith dagegen erlebte die siebzehnjährige Judy als hervorragende und intelligente Zeugin. Aus dem einfachen Grund, dass in ihrem Leben kaum einmal etwas außer der Reihe geschah, und wenn doch, dann wurde dieses ungewöhnliche Ereignis in ihrem Kopf mit der extremen Genauigkeit einer Fotografie festgehalten. Insbesondere war ihr in der Woche nach Mr. Johns Verschwinden aufgefallen, dass die Wanderschuhe ihrer Herrin jeden Morgen mit einer dicken Schicht Kalkstaub überzogen waren. »Ganz so, als hätte sie den Arbeitern geholfen«, wie Judy es formulierte. Sie habe es merkwürdig gefunden, es aber nicht erwähnt, weil ihre Dienstherrin oft über die Downs wanderte, was eine ähnliche Wirkung auf ihre Schuhe habe. Andererseits wandere ihre Herrin nicht jeden Tag über die Downs, und Judy war sich sicher, dass ihre Schuhe »an sechs von sieben Tagen« mit Kalk überzogen waren. Ebenfalls war sie sich sicher, dass die Schuhe nur in der Woche nach dem Verschwinden ihres Dienstherrn in diesem Zustand waren. Seitdem habe sie nicht mehr als »Spucke und Lappen« gebraucht.
Befriedigt, gleichzeitig aber zutiefst verblüfft von der neuen Richtung seiner Ermittlungen, ging Meredith hinunter zu den Kalkbrennern, die den Kalk aus den Backsteinbögen gruben und auf die wartenden Karren luden. Ein paar forsche Fragen und Antworten stellten ihn in einem weiteren Punkt zufrieden. Jeden Abend verblieben ein Haufen gebrochene Kreide und ein Haufen cullum an der Öffnung eines jeden Ofens für die Auffüllung am nächsten Morgen. Es war üblich, dass die Männer ihre Schaufeln an die Steinwand lehnten, welche die obere Ebene der Öfen abschloss. Auch eine Gießkanne mit Brause wurde dort gelassen.
»Warum das?«, fragte Meredith interessiert.
»Weil das cullum befeuchtet werden muss, sehn Sie, bevor es auf die Kreide geschaufelt wird.«
»Woher bekommen Sie das Wasser?«
»Gleich dort vom Ententeich.«
»Und das macht man jeden Tag?«
Der Mann nickte.
Meredith dankte ihm für seine Informationen und machte sich erwartungsvollen Schritts auf den Weg. Dieses unerwartete Stück Kalkbrennerwissen hatte ihn in eine neue Denkrichtung gestoßen. Wenn täglich Wasser auf den cullum gegossen wurde, dann musste der Boden rund um die Öffnung der Öfen ziemlich feucht sein. War die Hoffnung, zwischen den Schuhnägeln auch den Abdruck eines Damenschuhs zu finden, zu verwegen? Er ging zurück ins Haus, inständig betend, dass er dabei nicht auf William stieß, weil der dann Erklärungen von ihm wollte, und stöberte Judy auf. Nein, ihre Dienstherrin habe nicht ihre Wanderschuhe angehabt. Sie habe ein schickeres Paar getragen, da sie ihre Freundinnen in Storrington besuchen wollte. Die Brogues stünden noch zum Putzen unter der Bank im Waschhaus.
Äußerst froh darüber, in diesem Fall, der übervoll mit Theorien war, ein praktisches Indiz zu finden, holte Meredith einen der Schuhe und eilte zurück zur Ofenöffnung. Dort ging er, zum Glück unbeobachtet, auf Hände und Knie und unterzog den kalkigen Matsch, der vom Kohlenstaub geschwärzt war, einer sorgfältigen Prüfung. Eine Minute später fand er in freudiger Erregung genau das, wonach er gesucht hatte – einen vollständigen Fußabdruck am Rand des Kalkhaufens, in den Janet Rothers Brogue exakt hineinpasste.
»Dem Himmel sei Dank«, dachte er, »dass es seit dem 20. Juli nicht geregnet hat! Sonst wäre der nicht mehr da gewesen.«
Eigenartig war, dass er das Fehlen von Spuren in der näheren Umgebung des Überfalls bis jetzt dem trockenen Wetter zugeschrieben hatte. Nun aber war das Kalkpulver, befeuchtet von dem überschüssigen Wasser, das aus dem Kohlehaufen geronnen war, von der warmen Sonne fast zu einer Art Gips verhärtet. Janets Schuhabdruck war mithin so klar konturiert, als hätte ein Bildhauer eine detailgetreue Form erstellt. Aber leider fand er nur diesen einen Abdruck.
Nachdem er den Schuh ins Waschhaus zurückgebracht hatte, beschloss Meredith, zum Chanctonbury Ring und wieder zurück zu laufen, bevor er zu Rodd nach Findon fuhr. Er wollte nachdenken und theoretisieren, und den Rhythmus eines gleichmäßigen Gangs hatte er einer geistigen Tätigkeit schon immer als zuträglich empfunden. Vielleicht hatte er diese Angewohnheit entwickelt, als er in Cumberland stationiert war, wo eine lange Wanderung übers Moor noch jedes Mal eine Klärung der Gedanken bewirkt hatte. Und so stopfte er seine Pfeife, pries den Umstand, dass er bei diesem heißen Wetter in Zivil war, und machte sich, nachdem er die Kreidegrube hinterm Haus umgangen hatte, an den Aufstieg durch die reifenden Getreidefelder. Schon bald erreichte er einen Drahtzaun, darin eingelassen ein knarrendes Eisentor, hinter dem die braun-grüne Flanke des Hügels in einem herrlichen Schwung anstieg. Während er hinanschritt, tauchte zu seiner Linken ganz allmählich das Dorf Washington auf, tief in sein waldiges Tal geduckt. Dahinter hielt eine Windmühle über einer roten Sandgrube Wache, während der nördliche Horizont mit dem gezackten Kamm eines Föhrenwalds gesäumt war. Es war ein großartiger Ausblick, bis weit in die Ferne und dennoch irgendwie vertraut; die Felder wie ein Schachbrett angelegt, dazwischen hier und da einzelne Scheunen und Gehöfte mit roten Ziegeldächern und gelegentlich eine baumgesäumte Straße, die sich durch die Weiden wand.
Meredith seufzte. Er war nicht zum Vergnügen hier. Er musste die Landschaft vergessen, sämtliche Geräusche, Gerüche und Farben von seinen Sinnen fernhalten und sich auf die zunehmende Komplexität dieses verfluchten Rother-Falles konzentrieren.
Mehr denn je stand er vor einem Rätsel. Nach dem starken Verdacht, dass William seinen Bruder umgebracht hatte, sah er sich nun gezwungen, einen weniger gewissen Standpunkt einzunehmen. Zunächst einmal musste das seltsame Verhalten des Mannes mit dem Umhang bedacht werden – seine Rolle bei dem Verbrechen. Dann dieses neue, erstaunliche Indiz im Zusammenhang mit Janet Rother. Inwieweit war sie darin verwickelt? War sie in diesem teuflischen Plan eine dritte Beteiligte? Es galt ihm als sicher, dass Ned sie in jener Nacht am Donnerstag nach dem Mord gesehen hatte, wie schlicht der Bursche in mancher Hinsicht auch war. Ebenso sicher war, dass sie etwas unterm Arm trug. Ferner ging sie in Richtung der Öfen. Irgendwann war sie in der Nähe der Ofenöffnung, was aus dem Schuhabdruck geschlossen werden konnte. Und schließlich waren ihre Schuhe in der Woche nach dem 20. Juli auch noch mehr als üblich mit Kalkstaub überzogen.
Die ersten Knochen waren am 31. Juli zum Vorschein gekommen, die restlichen hatte man in Kalkladungen entdeckt, die zwischen dem 22. und 26. Juli ausgeliefert worden waren – das hatte Meredith mithilfe des Auftragsbuchs ermittelt. Demnach waren also Teile der Leiche in fünf aufeinanderfolgenden Nächten in die Öfen verbracht worden. Es lag auf der Hand, dass diese unerfreuliche Aufgabe zeitlich gestreckt worden war, damit nicht zu viele Leichenteile auf einmal unter den nachts von einem der Komplizen hineingeschaufelten Schichten Kreide und cullum verborgen werden mussten. Und dadurch auch nicht in auffälligen Mengen im Kalk erschienen.
Blieb die Frage: War Janet Rother von dem Mörder für diese grausige Arbeit benutzt worden? Wenn William der Mörder war, schien es doch eigenartig, dass er dies nicht selbst erledigt hatte. In jedem Fall aber stand für Meredith fest, dass, wenn Janet darin verwickelt war, sie und ihr Mann gemeinsam gehandelt hatten. Janet konnte den Mord unmöglich selbst begangen und dann auch noch die Leiche vom Cissbury weggeschafft haben. Zum einen war sie an jenem Abend in den Downs wandern gewesen, zum andern hatte ihr in der Garage der Rothers kein Wagen zur Verfügung gestanden. Johns war am Cissbury, und William war mit seinem nach Littlehampton gefahren.
Meredith blieb, einen Grunzlaut ausstoßend, abrupt stehen, knackte mit den Fingern, entzündete seine ausgegangene Pfeife und stieg weiter den Hang hinauf. Doch in dieser kurzen Unterbrechung seiner Wanderung war ihm jählings eine neue Idee durch den Kopf geschossen.
Janet Rother und der Mann mit dem Umhang? War das die kriminelle Verbindung, und William hatte gar nichts damit zu tun? War das Telegramm von Littlehampton einzig aus dem Grund abgeschickt worden, um William wegzulocken, damit Janet die Leiche unbemerkt nach Chalklands schmuggeln konnte?
Hastig zerrte Meredith seine 1:63 000-Karte aus der Brusttasche, wohin er sie am Morgen in weiser Voraussicht gesteckt hatte. Janet hatte den Hof vorgeblich verlassen, um zum Ring hinaufzuwandern. Was hätte sie daran gehindert, in diese Richtung loszugehen, dann aber auf einem weiten Umweg zu der Straße zu laufen, die Washington und Findon verband? Dort konnte sie sich versteckt haben, bis sie sah, dass William nach Littlehampton fuhr. An irgendeiner vorher vereinbarten Stelle an der Straße konnte der Mann mit dem Umhang mit einem Wagen gewartet haben. Und dann? Janet steigt ein, und sie fahren zur Bindings Lane, wo sie kurz nach halb acht eintreffen. Da war John Rother schon überfallen und getötet worden, die Leiche schon zerlegt. Im Wagen des Mannes mit dem Umhang –
Merediths Gedankengang kam jäh zum Stillstand, um gleich darauf in eine andere Richtung loszuschießen. Wie konnte der Mann mit dem Umhang einen Wagen gehabt haben, wenn er doch gesehen wurde, als er sich an jenem Abend über die Downs »davonmachte«? Hatte er einen gehabt, musste er ihn da schon losgeworden sein – ein schwieriges und gefährliches Unterfangen. Doch für seinen Plan war ein Wagen wesentlich. Wie zum Teufel hatte er das dann geschafft? Geliehen? Gestohlen? Gemietet?
»Großer Gott!«, rief der Superintendent unvermittelt aus. »Warum denn nicht Rothers Hillman?«
Blitzartig sah er alles vor sich. John Rother überfallen und getötet. Die zerlegte Leiche in einer Gummiplane zwischen den Ginsterbüschen versteckt. Mit dem Hillman Janet abgeholt, dann zurück zum Cissbury. Die Überreste, nach wie vor in der Gummiplane, werden vor den Vordersitz des Hillman gekippt, wo zusätzliche Blutflecke nicht weiter auffallen. Dann werden sie entsprechend Janets Anweisungen und in Williams Abwesenheit nach Chalklands gefahren und versteckt – vielleicht in einem metallenen Schrankkoffer. Während Janet Kate Abingworth im Auge behielt, könnte der Mann mit dem Umhang Rothers Überreste heimlich zu dem vorbereiteten Versteck geschleppt und in den Koffer gelegt haben. Anschließend fährt er zum Cissbury zurück, stellt den Wagen dort ab, wo er am nächsten Morgen entdeckt wird, und macht sich über die Downs Richtung Steyning davon. Würde das, dachte Meredith, nicht auch das vom Hillman zusätzlich verbrauchte Benzin erklären? Rother war tatsächlich direkt zum Cissbury gefahren, aber wegen dieser drei zusätzlichen Fahrten waren die gut fünf Liter Sprit verbrannt worden. Die zurückgelegten Kilometer, schätzte Meredith, würden die sechseinhalb Liter nicht ganz erklären, aber vielleicht ließ der Mann ja irgendwann den Motor laufen – möglicherweise als er an der Straße auf Janet wartete.
Janet Rother sagte, sie sei gegen Viertel vor zehn vom Chanctonbury zurück gewesen – ein Zeitpunkt, den, wie sie wusste, die Haushälterin bestätigen konnte. Demnach muss der Mann mit dem Umhang Chalklands kurz danach verlassen haben. Der Schäfer Mike Riddle hatte die merkwürdige Gestalt auf dem Pfad nach Hound’s Oak (ungefähr) um zehn Uhr gesehen. War es möglich, dass der Mann diese Strecke binnen fünfzehn Minuten bewältigt haben konnte?
»Verflixt noch eins«, dachte Meredith entmutigt, »das wäre nicht gegangen. Dafür hätte er wenigstens fünfundzwanzig Minuten gebraucht.«
Hatte Janet Rother beim Zeitpunkt ihrer Rückkehr ins Haus gelogen, um dem Mann mit dem Umhang ein Alibi zu verschaffen? Vielleicht hatte sie darauf spekuliert, dass Kate Abingworth nicht auf die Uhr schaute. Janet brauchte ja nur fünfzehn Minuten früher gekommen sein, damit Merediths Theorie Bestand hatte. Dazu musste er gleich noch einmal die Haushälterin befragen, bevor er nach Findon zum Sergeant fuhr.
Trotzdem war Meredith entschlossen, bis zum Ring zu gehen, bevor er wieder nach Chalklands hinabstieg. Er hatte gehört, dass der Blick von dem Buchenwäldchen aus einzigartig und unvergesslich sei. Einen Regentümpel passierend, an dem gerade ein paar Schafe tranken, bewältigte er den verbleibenden Kilometer des letzten Buckels mit ausgreifenden Schritten. Kurz darauf schien halb Sussex zu seinen Füßen zu liegen, zur einen Seite das weite, schachbrettartige Land, zur anderen das in der Ferne flimmernde Meer. Er setzte sich an den Stamm einer großen, silberrindigen Buche, breitete seine Karte auf den Knien aus und erkannte darauf etliche Sehenswürdigkeiten – den Devil’s Dyke Richtung Brighton, im Norden den blassblauen Kamm namens Box Hill in Surrey, in einem nahen Tal lag Steyning, vor ihm Wiston Park, Washington und weiter hinten die Dächer Storringtons.
Just in diesem Augenblick spazierte ein kleines Mädchen in einem gelben Kleid nur drei Kilometer entfernt auf der Suche nach Wildblumen auf dem Round Hill von Steyning herum. Es war ein ernstes Kind und machte sich große Hoffnungen, bei der alljährlichen Blumenschau, die in wenigen Tagen stattfinden sollte, den ersten Preis in der Kategorie »Wildsträußchen« zu gewinnen. Sie kam etwas früher als von ihren Eltern erwartet nach Hause und war so merkwürdig gewandet, dass der Großvater des Kindes, der auf einem Küchenstuhl in der Sonne saß, ein erstauntes hohes Bellen ausstieß und seine Tonpfeife auf den Backsteinboden fallen ließ. Auf dem Kopf trug das Kind einen großen, breitkrempigen schwarzen Hut. Von den schmalen Schultern hing, die staksigen Beine vollkommen verdeckend, ein riesiger schwarzer Umhang.
Zehn Minuten später stapfte ihr Vater auf der Suche nach dem Constable von Steyning die Straße entlang. Ihm waren auf dem dunklen Stoff rostfarbene Flecken aufgefallen, Flecken, die er als ehemaliger Militär als getrocknetes Blut erkannte. Diese sowie die polizeiliche Bekanntmachung, die er erst am Vortag im Lokalblatt gelesen hatte, hatten einen Verdacht in ihm geweckt.
Als Meredith nach seinem Besuch bei Mrs. Abingworth in Findon anlangte, hatte Rodd, mit dem er noch am Vormittag telefoniert hatte, sich dieses neue Indiz bereits besorgt und händigte es nun seinem Vorgesetzten in braunes Packpapier verpackt aus. Er erklärte ihm, wo und wie die Sachen entdeckt worden waren.
»Was«, ergänzte er mit erfreutem, etwas selbstgefälligem Grienen, »die Geschichte des alten Mike Riddle bestätigt.«
Meredith stimmte ihm zu. Wegen seines Gesprächs mit Kate Abingworth, in dem die Haushälterin nachdrücklich darauf beharrt hatte, dass Mrs. Will »nicht später als Schlag halb zehn« ins Haus zurückgekommen sei, war er recht optimistisch. Bedeutete das, dass William Rother aus dem Spiel war und Janet Rother das Verbrechen zusammen mit dem Mann mit dem Umhang verübt hatte?
»Merkwürdig«, dachte er, »wie der Verdacht in einem solchen Fall vom einen zum anderen schwingt. Bald verdächtige ich mich noch selbst oder gar den Chief Constable! In Kriminalromanen hat den Mord schließlich auch immer die unwahrscheinlichste Person begangen!«
»Übrigens«, fragte er Rodd, »haben Sie jemanden aufgetrieben, der William Rother am Abend des zwanzigsten irgendwo in Findon gesehen hat?«
Rodd schüttelte den Kopf.
»Nur Clark von der Tankstelle – aber das wussten Sie ja schon.«
»Ich verfolge jetzt jedenfalls einen neuen Ansatz«, erklärte Meredith. »Schnüffeln Sie doch mal rum, ob Sie jemanden finden, der John Rothers Hillman irgendwann zwischen 19.00 und, sagen wir, 21.30 Uhr durchs Dorf hat fahren sehen. Wahrscheinlich mit demselben Kerl am Steuer, den Riddle bei Hound’s Oak gesehen hat.«
»Mit Hut und Umhang?«, fragte Rodd mit vielsagendem Grinsen.
Meredith lachte.
»Ein bisschen zu auffällig, oder, Sergeant? Nein – ich schätze mal, die Nummer mit Hut und Umhang wurde einzig unseretwegen aufgeführt. Er hat die Maskerade nur benutzt, um von der Bindings Lane über die Downs nach Steyning zu gelangen. Hat jemand aus Steyning übrigens spät an dem Abend noch irgendwo einen Fremden gesehen – hat jemand was gesagt, als Sie heute Vormittag den Umhang abholten?«
»Nichts dergleichen. Ich habe diese Frage extra noch einmal gestellt.«
»Verdammt!«, sagte Meredith. »Überall ungelöste Fragen, Rodd, und der Mord ist inzwischen schon drei Wochen her!«