Als Meredith am folgenden Morgen ins Büro kam, erfuhr er sogleich, dass Scotland Yard ihn sprechen wolle. Der diensthabende Sergeant meinte, es habe wohl mit den Rother-Fällen zu tun. Meredith ließ sich daher umgehend mit Detective-Inspector Legge verbinden, der die Angelegenheit in der Hauptstadt im Blick behielt. Legge hatte beunruhigende Nachrichten.
»Ja – es hat mit dem Fall Rother zu tun. Unser Mann in Dover meldet, eine Frau, auf die Janet Rothers Beschreibung zutrifft, sei gestern Abend mit der Nachtfähre nach Calais gefahren. Da ja kein Haftbefehl gegen sie vorliegt, konnte er natürlich nichts unternehmen. Ich dachte, Sie sollten das wissen.«
»Ja – dumme Sache«, knurrte Meredith, der sich über diesen Rückschlag gehörig ärgerte. »Verdammt dumme Sache, Legge. Ich hoffe, den Fall in den nächsten Tagen abschließen zu können, dafür wäre die junge Dame eine wesentliche Zeugin gewesen. Ist sie auch weiterhin. Möglicherweise hat sie sich auch der Beihilfe schuldig gemacht. Aber so ist es jetzt eben – Sie wissen so gut wie ich, dass man neuerdings einen Haftbefehl nur dann bekommt, wenn man mit einem ganzen Haufen hieb- und stichfester Gründe aufwartet. Das Blöde ist nur, ich habe zwar Beweise gegen sie, aber nicht genug. Irgendeine Ahnung, wo sie hin könnte?«
»Sie sind gut!« Legges schallendes Gelächter brachte Merediths Trommelfell fast zum Platzen. »Warschau, Jerusalem, Tokio oder Timbuktu! Nichts hindert sie daran, ihren Kurs zu ändern, wann und so oft sie will. Wenn ihr Pass in Ordnung ist – und sie hatte ja jede Menge Zeit, dafür zu sorgen –, kann sie nur Geldmangel bremsen.«
»Dabei fällt mir ein – hat Ihre Überwachung des Postamts in Kensington was ergeben? Wenn Sie sich erinnern, hat ihr Anwalt betont, dass sie noch erscheinen muss, bevor sie an das Erbe rankommt. Tut sich da was?«
»Nichts«, sagte Legge knapp. »Kein bisschen. Wir gehen davon aus, dass die Sache mit dem postlagernd nur Tarnung war. Nichts konnte sie doch daran hindern, am nächsten Tag anzurufen und die Adresse zu ändern, wo sie ihre Post abholen wollte? Und Sie brauchen nicht zu meinen, dass ihr Anwalt plappert. Der doch nicht! Sie kennen diese Typen ja. Die halten alle dicht.«
»Keine Begleitung, als sie an Bord ging?«
»In dem Bericht von Dover steht nichts davon.«
»Aber jetzt sage ich Ihnen was«, verkündete Meredith nicht ohne eine gewisse Befriedigung. »Ich werde auf einen Haftbefehl dringen. Im Moment noch gegen Unbekannt, aber folgende Beschreibung passt auf ihn: eher klein, mittleren Alters, dunkler Stoppelbart, das linke Handgelenk verbunden. Trug zuletzt – vor ungefähr vierzehn Tagen – dunkle Jacke und Hose, dazu Bowler. Sieht aus wie ein Handlungsreisender. Ich gebe das in die Fahndung – ja? Wir lassen sämtliche Häfen überwachen und die üblichen Vorkehrungen anlaufen.«
»Gut. Glauben Sie, der Kerl ist schon verduftet?«
»Das ist momentan mein Lieblingsalbtraum«, sagte Meredith bitter. »Er hatte fast zwei Wochen, um sich zu verdrücken. Andererseits denke ich, dass er für Janet Rother wichtig war. Er würde erst dann außer Landes gehen, wenn sie schon unterwegs ist. Gut möglich also, dass er hier noch irgendwo rumläuft. Ich könnte mir denken, dass er die Post abgeholt hat und Mittelsmann zwischen dem Anwalt und Mrs. Rother war. Zum Teufel, könnten wir diesem verdammten Anwalt doch nur ein bisschen mehr aus der Nase ziehen. Was meinen Sie?«
»Organisieren Sie Ihren Haftbefehl, den Rest überlassen Sie mir«, sagte Legge heiter.
»O. k. Ich gebe Ihnen Bescheid, ob ich Glück habe. Und Sie notieren sich die Beschreibung und sagen Ihren Leuten, sie sollen die Augen offenhalten … Danke. Tschüs.«
Danach rief Meredith den Makler Harris an und erklärte ihm, was mit seinem Verkaufsschild passiert war. Harris war derart perplex, dass er nur etwas herauswürgte, was sich wie eine Abfolge erstklassiger Flüche anhörte.
Dann war Janet Rother also die Flucht geglückt? Falls sie sie aufspüren konnten und die Beweise gegen sie triftig genug waren, konnten sie eventuell eine Auslieferung beantragen. Mal lieber die Pariser Sûreté kontaktieren, falls der Alte einverstanden war. Vermutlich konnten die auch nicht viel tun, aber trotzdem war es notwendig. Derweil war es wesentlicher denn je, sich auf die Aktivitäten und den gegenwärtigen Verbleib des Mannes mit dem Umhang zu konzentrieren. Meredith beschloss, Slippery Sid einen Besuch abzustatten.
Und so lief er nun im Nieselregen durch die Straßen von Lewes zu dem eindrucksvollen, aber bedrohlich wirkenden Eingang der Haftanstalt. Auf sein Klingeln hin ging das äußere Tor auf und hinter ihm wieder zu, während er dem Pförtner den Grund seines Besuches nannte. Daraufhin wurde ein Wärter gerufen, der ihn zu Slippery Sids Zelle führen sollte. Die inneren Tore wurden geöffnet, und der Superintendent trat auf einen trübseligen, regennassen Hof, über den er von dem Wärter eilig hinweggeführt wurde. Sie gelangten in ein hohes Steingebäude mit zahlreichen vergitterten Fenstern und schritten durch einen Korridor, in dem es nach Seife und Karbol roch. Zu beiden Seiten des Ganges waren nummerierte Eisentüren mit kleinen quadratischen Gittern darin. Vor einer dieser Türen blieb der Wärter stehen, zog einen Schlüsselbund hervor und schloss auf.
»Besuch von einem Freund, Sid«, erklang die fröhliche Mitteilung. »Will wohl mal nett mit dir plaudern.« Er grinste über seinen Scherz. »Ich schließ dann wieder ab und lass Sie bei ihm, ja, Sir? Ich warte draußen. Rufen Sie einfach, wenn Sie fertig sind.«
»In Ordnung«, sagte Meredith, dann knallte die Eisentür hinter ihm zu, und die Zelle lag wieder im Halbdunkel.
Slippery Sid hockte seitlich auf seinem Bett und las (ausgerechnet) die Bibel. Beim Eintreten des Superintendent schloss er das Buch sorgsam, nachdem er die Seite mit einem Eselsohr markiert hatte.
»Sie nutzen die Gunst der Stunde, was, Sid?«, fragte Meredith freundlich. »Ich wusste ja gar nicht, dass Sie ein Religiöser sind!«
»Ab un zu«, erklärte Sid mit unverbindlicher Geste. »Ab un zu. Schadet dem Bettler nich, wenn er mal von selber bisschen was Geistliches macht.« Er beäugte Meredith über den begrenzten Raum seiner Zelle hinweg mit starkem Interesse. »Hab ich Sie nicht schon vorher mal gesehen, Sir? Sie sind dochn Polyp, wie? Irgendso’n Plattfuß, oder, hm?«
»Erinnern Sie sich an das kleine Ding, das ’27 bei Colonel Harding gedreht wurde?«
»Na Mensch – jetz kapier ich. Sie sin der Super, der mir damals ne halbe Strecke verschafft hat, und alles bloß wegen ner goldenen Taschenuhr, die mir mein Alter vererbt hat. Und Sie ham gedacht, das is ’ne Schote, nich?«
»Und glaube es noch immer«, grinste Meredith. »Lust auf eine kleine Plauderei, Sid?«
»Über was’n?«
»Die Nacht vom 9. August, beziehungsweise ganz früh morgens am zehnten.«
Sid überlegte kurz, dann wurden ihm die Daten plötzlich klar, und er brauste auf.
»Eh, was soll’n das, Sir? Dafür sitz ich doch schon! Sie ham nich das Recht, mich –«
»Ach, das hat nichts mit Ihrem kleinen Bruch zu tun«, unterbrach Meredith ihn beruhigend. »Ich will eine Information – weiter nichts.«
»Soll wohl ’ne Lampe bauen, wie?«
»So ungefähr, Sid. Könnte ja auch Ihnen nützen. Ich will nichts versprechen, aber wenn ich damit was anfangen kann, dann tu ich, was ich kann, damit die entsprechenden Leute davon erfahren. Na?«
»Na schön«, sagte Sid nach langer Pause mürrisch. »Aber bei dem Rushington-Ding war niemand mit dabei, wenn Sie das wissen wolln. Da war ich solo.«
»Sie waren mit dem Fahrrad unterwegs, nicht, Sid?«
»Ja.«
»Sind Sie dabei auf der Worthing-Horsham-Straße gefahren – und dabei durch Washington gekommen?
»Ja.«
»Um Mitternacht?«
»Halb eins«, korrigierte Sid.
»Kennen Sie die Kreuzung in Washington beim Chancton Arms?«
»Ja – fast direkt gegenüber von der Kneipe geht’s nach Steyning.«
»Genau. Kennen Sie den Bostal?«
»Ja – großer Hügel kurz bevor man nach Washington reinkommt.«
»Stimmt. Und jetzt denken Sie mal sorgfältig nach, Sid – ist Ihnen da jemand auf dem Abschnitt zwischen dem Bostal und der Abzweigung nach Steyning aufgefallen – entweder vor oder nach Ihrem kleinen Ding in Storrington?«
»Kann schon sein.«
»Mit anderen Worten: ja?«
»Ja – n Postwagen Richtung Worthing.«
»Auf dem Hinweg, hm?«
»Ja.«
»Sonst niemand?«
»Doch – n Kerl auf’m Fahrrad.«
»Ein Kerl auf einem –!« Meredith verspürte rasch aufwallende Erregung. »Wo genau war das?«
»Unten am Bostal. Sie kenn’ doch den kleinen Weg, wo da vonner Hauptstraße abzweigt, ja?« Meredith nickte. Den kannte er genau! Das war der eingefurchte Weg, der an den Kalköfen vorbei nach Chalklands führte. »Also, da is’ der reingefahrn.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Bowler«, sagte Sid knapp.
»Noch was?«
»Ja – Gesichtsmatratze.«
»Bart, ja? Wie war er gekleidet?«
»Schwer zu sagen – war stockdunkel, nich viel zu sehn.«
»Ist Ihnen was aufgefallen, was auf eine Verletzung hindeutete, Sid?«
»Nö.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Und die Zeit war schätzungsweise –«
»Halb zwei«, warf Sid leichthin ein. Er hatte Übung darin, in einem Verhör Fragen zu beantworten.
»Wären Sie zu einer schriftlichen Aussage bereit, sollte die später mal nötig werden?«
»Wenn Sie glauben, das hilft, ja.«
»Schön.« Meredith erhob sich und schaute sich in der Zelle um. »Bequem hier, Sid?«
»Hatt’s schon schlimmer.«
»Na ja – tja, das wär’s dann. Danke.«
»Glück, Glück, Glück«, wiederholte eine innere Stimme, als Meredith sich auf den Rückweg zur Direktion machte. Das erste Mal seit Beginn der Ermittlungen echtes Glück. Dass diese beiden Männer einander auf diesem kurzen Straßenstück begegneten, das war nichts weniger als ein wunderbarer Zufall. Was an dem Beweis aber nichts änderte. Sids Beschreibung deckte sich in den meisten Punkten mit der von Tom Biggins, dem Wirt des Loaded Wain. Es bestand nicht mehr der Schatten eines Zweifels, dass der Mann, der vom Brook Cottage losgefahren war, derjenige war, den man auf dem Weg nach Chalklands gesehen und der anschließend den armen William Rother umgebracht hatte. Er hatte ordentlich Zeit für die Fahrt gebraucht, aber bestimmt hatte er unterwegs für eine Zigarette angehalten.
In der Direktion begab sich Meredith sogleich zu Major Forest. Leider war der Chief nicht da und sollte erst nach der Mittagspause wiederkommen. Und so zügelte Meredith seine Ungeduld, schloss sich in seinem Büro ein und machte sich daran, seine Notizen ins Reine zu schreiben. Danach widmete er sich einer persönlichen Routinearbeit, die er sich stets auferlegte, wenn er es mit einer besonders komplexen Ermittlung zu tun hatte. Die Aufgabe bestand darin, sämtliche Dokumente zu sichten, die mit dem Fall verbunden waren, und all jene Punkt herauszusuchen, die noch der Klärung bedurften. Eine halbe Stunde später hatte er die folgende Liste erstellt:
NOCH UNGEKLÄRTE FRAGEN IN DEM FALL
Warum hat sich Janet Rother eine Woche, bevor der blutbefleckte Hillman am Fuß des Cissbury Ring gefunden wurde, mit einem Koffer mit John Rother auf dem Rasen von Chalklands getroffen?
Warum hat man bei den durchtrennten Knochen nur die Messingscheibe und die Gürtelschnallen gefunden, aber keinerlei Knöpfe, Manschettenknöpfe oder Hosenträgerklammern?
Wer hat das falsche Telegramm aus Littlehampton geschickt?
Wer ist der Mann mit dem Umhang?
Wo und wie genau wurde John Rothers Leiche zerteilt?
Wer hat die Leichenteile in den Ofen gelegt? Hat Janet Rother gelogen, als sie sagte, sie habe ein Tagebuch verbrannt?
Wer hat John und William Rother getötet? Mit welchem Motiv?
Wer hat das falsche Geständnis getippt, das angeblich William Rother geschrieben hat?
Wo ist John Rothers Schädel?
Warum hat John Rother etliche Wochenenden in Bramber verbracht, verkleidet als Naturkundler Jeremy Reed?
Zufrieden, dass kein wichtiger Punkt ausgelassen war, beschloss Meredith, die Liste nach der Mittagspause mit Major Forest durchzugehen. Oft konnten neue Verbindungen in einer Indizienkette gezogen werden, wenn zwei Personen gemeinsam sämtliche Hinweise unters Mikroskop legten.
In der Arundel Road fragte Tony bei kaltem Braten und Salat seinen Vater in aller Unschuld:
»Warst du bei Slippery Sid, Dad?«
»Kann sein«, lächelte Meredith.
»Ach komm, Dad, kannst mir schon die Wahrheit sagen. Er konnte dir doch weiterhelfen, stimmt’s?«
»Ja, allerdings, Tony – und zwar sehr.«
»Hab ich’s mir doch gedacht«, krähte Tony, langte in die Hosentasche, zog einen zerknitterten Prospekt hervor und reichte ihn seinem Vater.
»Was ist das denn schon wieder?«
»Illustrierter Katalog dieser Radiogeräte, von denen ich dir erzählt hab. Ich dachte, das könnte dich interessieren«, sagte Tony gewieft und setzte hinzu: »Jetzt.«
»Eine solche Beharrlichkeit verdient eine Belohnung, meinst du? Um wie viel Uhr hast du denn Dienstschluss? Um sechs? Na gut. Wenn ich nicht weggerufen werde, treffen wir uns um zehn nach vor Green’s. Und zwar pünktlich.«
»Mach dir da mal keine Sorgen, Dad«, grinste Tony. »Könnte ich bitte noch eine Scheibe Braten haben, Mutter?«
»Sie sind schlau«, bellte Major Forest, als Meredith dessen Büro betrat. »Bin gerade mit dem Bericht durch, den Sie mir hingelegt haben. Gute Arbeit, ja? Bewegung – wie? Setzen Sie sich und reden Sie. Zigarette? Gut. Also, wo genau fangen wir an?«
Meredith hielt dem Chief seine Liste unter die Nase.
»Mit Nummer eins, Sir, wenn Sie einverstanden sind – dann der Reihe nach die anderen.«
Major Forest nahm das Blatt und überflog es rasch.
»Hm? Was ist das? Ah, verstehe. Ein Katalog der unerledigten Punkte. Na gut, Meredith, wir machen es so, wie Sie das vorschlagen. Erstens: ›Warum hat sich Janet Rother mit John Rother getroffen?‹ Tja, warum?«
»Keine Ahnung, Sir. Den ganzen Fall durch rätsle ich schon über die Beziehung zwischen der Frau und ihrem Schwager. Barnet meinte, er sei bis über beide Ohren in die Frau verliebt gewesen, sie aber habe nur so getan. Als ich sie später fragte, was sie an dem Ofen gemacht habe, deutete sie dasselbe an. Sie spielte John Rother etwas vor, nur so zum Spaß. Aber wäre dem so, dann ist es doch etwas merkwürdig, dass sie das Risiko eingeht, mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen, um sich mit ihm zu treffen.«
»Haben Sie sie danach gefragt?«
»Ja – sie hat bestritten, sich jemals nachts mit ihm getroffen zu haben.«
»Zeuge verlässlich?«
»Sehr.«
»Dann haben wir zu Nummer eins also keine Antwort? Gut. Nummer zwei: ›Warum fand man keine Knöpfe, Manschettenknöpfe‹ und so weiter. Ah ja. Eigenartiger Punkt, das, Meredith. Wir haben ja schon mal darüber gesprochen, wie ich noch weiß, sind aber damals nicht sehr weit gekommen. Wir müssen es wohl als Tatsache nehmen, dass die Kleidung auch wirklich in den Ofen geschmissen wurde?«
»Glaube schon«, antwortete Meredith langsam. »Sehen Sie, es waren bestimmt Blutflecken darauf, und der Kerl wollte solche Beweisstücke sicher nicht einfach irgendwo herumliegen lassen.«
»Genau. Es sieht also ganz so aus, als wäre es für ihn das Beste gewesen, die Sachen im Ofen zu vernichten. Aber offenbar hat er das nicht getan. Ihre Leute haben den Kalk gründlich durchsucht?«
»Jeden Zentimeter.«
»Hmm!« Der Chief rieb sich das Kinn und grübelte eine Weile. Dann sagte er: »Ihnen ist ja wohl klar, Meredith, dass er, bevor er die Leiche zerteilte, diese entkleiden musste? Ja? Gut. Mal angenommen, unser Mann hat sich aus irgendwelchen Gründen entschieden, die Sachen nicht zu verbrennen, könnte er sie dann mitgenommen haben, als er über die Downs latschte?«
Meredith schlug sich auf den Schenkel.
»Großer Gott! Die Aktentasche! Ich dachte natürlich, dass er darin die Gummiplane und die chirurgische Säge hatte. An die Kleider habe ich gar nicht gedacht. Ja – er hätte sie gut darin mitnehmen können.«
»Hatte er eine Aktentasche bei sich, als Wimble, dieser Fuhrmann, ihn in Bramber sah?«
»Nein – einen Koffer. Hat Wimble ausgesagt. Ich nahm an, dass er den Koffer in den Downs oberhalb von Steyning mit seiner Jeremy-Reed-Verkleidung darin versteckt hatte. Vielleicht war die Aktentasche ja in dem Koffer.«
»Gut möglich. Jedenfalls würde ich vorschlagen, Sie lassen nach Rothers Kleidung suchen. Gehen wir mal davon aus, dass sie nicht verbrannt wurde, hm? Vielleicht hat er sie ja im Garten des Brook Cottage vergraben. Gut – dann Nummer drei: ›Wer hat das falsche Telegramm abgeschickt?‹«
»Natürlich der Mann mit dem Umhang«, versetzte Meredith sogleich. »Das Telegramm wurde detailliert in dem falschen Geständnis erwähnt, das wir bei Williams Leiche gefunden haben. Wir müssen mittlerweile annehmen, dass der Mann mit dem Umhang es geschrieben hat, weswegen er auch das Telegramm abgeschickt haben muss, oder er hat es schicken lassen, sonst hätte er ja gar nichts davon gewusst.«
»Q. E. D.«, grinste der Chief. »Das können wir mal so stehen lassen. Nummer vier. Knifflig, Meredith. ›Wer ist der Mann mit dem Umhang?‹«
»Das muss offenbleiben, Sir. Vorerst keine Ahnung.«
»Ich auch nicht. Tja – Nummer fünf: ›Wo und wie genau wurde John Rothers Leiche zerteilt?‹ Vermutlich bleiben Sie bei Ihrer früheren Theorie – dass die Zerteilung auf einer großen Gummimatte oder -plane zwischen den Ginsterbüschen unterhalb des Cissbury mittels Messer und Säge vorgenommen wurde?« Meredith nickte. »Und dass die Teile dann in die Plane gewickelt, von dem Mann mit dem Umhang in Rothers Wagen nach Chalklands gefahren und dort in einem metallenen Schrankkoffer versteckt wurden, wahrscheinlich in der Arbeitsgrube?«
»Genau, Sir.«
»Haben Sie einen Grund, Ihre Annahme zu ändern?«
»Momentan nicht, Sir.«
»Sechs«, fuhr Major Forest fort. »›Wer hat die Leichenteile in den Ofen gelegt? Hat Janet Rother …‹ und so weiter. Und?«
»Oh, das hat bestimmt Mrs. Rother erledigt«, versicherte Meredith. »Ihre Flucht auf den Kontinent beweist mehr oder weniger ihre Schuld. Das Indiz des Kalks an ihren Schuhen legt nahe, dass sie in der Woche nach dem Mord an John Rother mehrmals am Ofen war. Sie tat das damit ab, dass das Bauernhaus auf einem Kalkberg steht. Aber ich habe bemerkt, dass während der ganzen Zeit, die ich dort war, meine Schuhe oben auf der Spitze keine einzigen Kalkkratzer aufwiesen. Nur einen Kalkrand um den Rahmen herum – mehr nicht. Nein – ich gehe davon aus, dass ihr Komplize diesen grausigen Part in der Tragödie ihr überlassen hat.«
»Was uns«, sagte Major Forest, »zur Crux der ganzen Sache führt – zu Ihrer Hauptfrage: ›Wer hat John und William Rother getötet? Mit welchem Motiv?‹ Sehe ich das richtig – wenn Sie das beantworten können, können Sie auch alle anderen Fragen beantworten?«
»Nicht unbedingt, Sir«, betonte Meredith höflich. »Es ist durchaus möglich, dass man weiß, wer einen Mord begangen hat, ohne dadurch auch nur ein einziges Faktum im Umkreis des Falles beweisen zu können. In diesem hier ist das so. Ich meine, wir gehen mehr oder weniger recht in der Annahme, dass beide Morde von ein und demselben Mann begangen worden sind. Das falsche Geständnis enthält so viele der entdeckten Details des ersten Mordes, dass wir zwangsläufig davon ausgehen müssen, dass der Mann, der das Schriftstück in Williams Tasche steckte, ebenso viel wie wir, wenn nicht mehr, über Johns Tod weiß. Sämtliche Indizien weisen darauf hin, dass der Mann mit dem Umhang beide Morde begangen hat. Wenn wir diese Behauptung jedoch erhärten wollen, indem wir bestimmte problematische Aspekte in Verbindung mit den beiden Fällen restlos aufklären, stoßen wir auf Probleme. Die Hälfte dieser Fragen können wir weiterhin nicht beantworten. Wir sind nicht mal so weit, eine Theorie zu formulieren. Sehen Sie, was ich meine, Sir?«
Der Chief kicherte ob Merediths emphatischer Darstellung in sich hinein.
»Irgendwann lassen wir Sie noch mal Vorträge beim Yard halten. ›Probleme und Prinzipien der kriminalistischen Ermittlung‹. Wie wäre das als Titel? Aber ich sehe durchaus, was Sie meinen, Meredith. Die nächste Frage zu dem falschen Geständnis illustriert ja, was Sie sagen. Selbst wenn wir sicher wissen, dass der Mann mit dem Umhang William ermordet hat, müssten wir immer noch beweisen, dass er dem Toten das Geständnis in die Tasche gesteckt hat. Glauben Sie, das hat er getan?«
Meredith nickte.
»Außer es war Janet Rother, was ich aber bezweifle. Ich glaube, dass der Mörder die Taschen des Opfers durchsucht hat, bevor er es in die Grube geworfen hat, um zu sehen, ob er den Zettel, den er, wie wir annehmen, erhalten haben muss, um das Treffen zu vereinbaren, auch wirklich dabei hatte. Wahrscheinlich zog er dieses Papier heraus, mit Handschuhen, und steckte dafür das Geständnis rein. Das kann ich natürlich nicht beweisen. Noch ist das eine reine Vermutung.«
»Sehr richtig. Und haben Sie so eine auch zum Verbleib von John Rothers Schädel? Das ist der nächste Punkt auf Ihrer Liste.«
»Nein, Sir. Das ist eine der Fragen, auf die wir absolut keine Antwort haben. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wo der Schädel abgeblieben sein könnte. Meine Theorien, warum er nicht mit den anderen Körperteilen in den Ofen kam, habe ich ja schon vorgebracht.«
»Was uns zu Ihrer letzten Frage führt: ›Warum hat John Rother etliche Wochenenden in Bramber verbracht?‹ und so weiter. Sehen Sie da inzwischen klarer?«
»Tja«, meinte Meredith, »ich sehe keinen Grund, meine Erpresser-Theorie aufzugeben. Ich glaube noch immer, dass der Mann mit dem Umhang etwas über Johns Verhalten gegenüber Janet Rother wusste und dass er damit drohte, es William zu sagen. Vielleicht hat es ja sogar ein Komplott gegeben, bei dem Mrs. Rother John anstachelte und ihn so in die Gewalt des Mannes mit dem Umhang brachte. Schließlich hatte dieses hübsche Gaunerpärchen es auf Geld abgesehen. John und William wurden aus Habgier umgebracht. Sie mussten aus dem Weg geräumt werden, damit Janet erben konnte. Erpressung liegt bei einem so geldgierigen Paar natürlich nahe.«
Der Chief Constable nickte zustimmend, entzündete seine Pfeife, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte lange dem träge aufsteigenden Rauch nach. Meredith, der die Eigenarten seines Vorgesetzten kannte, hütete sich, ihn zu unterbrechen. Der Alte dachte nach. Unvermittelt richtete er sich auf und zeigte mit der Pfeife auf Meredith, als wäre sie eine Pistole.
»Haben Sie schon mal daran gedacht«, begann er abrupt, »dass Johns Mörder eigentlich gar nicht vorhatte, William zu töten? Kam mir grade in den Sinn, als wir die Fragen durchgingen. Der Mann mit dem Umhang ermordete John und versuchte dann, den Verdacht auf William zu lenken. Sie erinnern sich ja, wie Sie in einem frühen Stadium Ihrer Ermittlungen ziemlich sicher waren, dass William der Mörder war. Erst das falsche Telegramm aus Littlehampton. Der Mörder wusste sehr wohl, dass William sofort zu seiner Tante fahren würde. Er konnte mehr oder weniger genau absehen, wann William Littlehampton verlassen würde, und schlug die Uhr am Armaturenbrett so ein, dass die Zeiger auf einer plausiblen Zeit stehen blieben – plausibel heißt hier bezogen auf Williams Schritte. Er beging den Mord in der Nähe von Findon, weil er wusste, dass William auf seiner Rückfahrt von Littlehampton zwangsläufig an dem Dorf vorbeikommen musste. Ort und Zeit waren wunderbar gewählt, weil William leicht um 21.55 Uhr am Cissbury sein konnte, also zu der Zeit, zu der die Uhr stehen geblieben ist.
Um es William noch schwerer zu machen, ein Alibi zu finden, wandert Janet Rother während der Zeit, in der William vermeintlich die Tat ausführt, in die Downs oder entfernt sich jedenfalls von Chalklands. Sie beteuert, dass sie um Viertel nach zehn wieder im Haus war, aber William noch nicht zurück in Chalklands. Mit anderen Worten, da sie wusste, dass der Mann mit dem Umhang die Zeiger um 21.55 Uhr anhielt, ging sie weg, damit Williams Schritte in unseren Augen noch verdächtiger wirkten. Selbst wenn William vor 22.15 Uhr zurückgekehrt wäre, hätte er sich das von Janet nicht bestätigen lassen können, weil sie sich höchst ärgerlicherweise absentiert hatte. In diesem Fall hätte es lediglich Kate Abingworths Aussage gegeben. Die einer ältlichen, emotionalen Frau, die dem Kreuzverhör eines cleveren Staatsanwalts ausgeliefert gewesen wäre. So viel dazu.
Das Motiv liegt auf der Hand. John stahl die Zuneigung seiner Frau. Der Mann mit dem Umhang wusste, dass wir diesen Tratsch schnell in Erfahrung bringen würden. Um eine Verbindung zwischen dem Mord und Chalklands herzustellen, mussten Teile der Leiche verbrannt werden. Hier wurde Janet nützlich. Es war nur natürlich, dass wir William des Mordes verdächtigten, sobald wir erfuhren, dass ein Versuch unternommen worden war, die Leiche sozusagen vor seiner eigenen Haustür zu vernichten. Das führt mich zu einem weiteren sehr interessanten Punkt. Die Frage der Knöpfe und Manschettenknöpfe. Und wenn die Kleidung gar nicht in den Ofen kam? Was dann? Die Identität der Überreste durfte auf keinen Fall im Unklaren bleiben. Was also macht unser Mörder? Er lässt Janet die Messingscheibe und Johns Gürtel zusammen mit einem Teil der Leiche in den Ofen legen, da er genau weiß, dass diese Gegenstände, sobald die Knochen entdeckt würden, ebenfalls ans Licht kämen.
Den Verdacht, dass William für den Tod seines Bruders verantwortlich war, verstärkte der Umstand, dass er Johns Alleinerbe war. Bedauerlicherweise unterschätzte der Mann mit dem Umhang die Intelligenz der Polizei, denn William wurde nicht verhaftet. Ein lästiger Umstand, durch den ihr Plan, sich das Geld unter den Nagel zu reißen, nicht aufging. Da der Mörder nun erkannte, dass die Polizei nicht willens war, William aus dem Weg zu räumen, beschloss er, dies selbst zu tun. Doch auch da hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, wie das falsche Geständnis klar aufzeigt. Er hoffte noch immer, uns Sand in die Augen zu streuen, indem er einen Selbstmord inszenierte, dessen angeblicher Grund Williams Wissen sein sollte, dass die Polizei ihn verdächtigte. Und ganz ehrlich, Meredith, dieser zweite Kniff hätte womöglich funktioniert, wenn William nicht vorher Aldous Barnet geschrieben hätte. Das war das unerwartete Haar in der Suppe des wahren Mörders. Dieser Brief könnte ihn noch an den Galgen bringen, Meredith. So, das wäre jetzt meine Theorie. Sie müssen sie nicht übernehmen, aber ich finde, es lohnt sich, gründlich darüber nachzudenken.«