Im Rückblick auf die Rother-Fälle fand Meredith stets, dass dieses Gespräch mit dem Alten den Wendepunkt in seinen Ermittlungen markierte. Von dem Augenblick an war alles »Hauptlinienfortschritt«. Frische Indizien stellten sich ein, unerwartete Hinweise, und die kleinen, zuvor noch bezugslosen Teile des Puzzles passten mit einem Mal zusammen, ohne die geringste Anstrengung seinerseits.
»Der ganze Fall«, wie Meredith es später formulierte, »schien wie automatisch aufzugehen.«
Tief beeindruckt hatte ihn auch die Theorie des Chiefs, William sei nur ermordet worden, weil die Polizei ihn nicht wegen des Verdachts des Mordes an seinem Bruder verhaftet hatte. Dies erklärte weitestgehend die komplexe Art und Weise, in welcher der erste Mord ausgeführt worden war – der tatsächliche Überfall an einem Ort, die Beseitigung der Leiche an einem anderen und so weiter. Der entscheidende Punkt aber, den Meredith aus seinem Gespräch mit Major Forest mitnahm, war die vernünftige Annahme, dass John Rothers Kleidung nicht zusammen mit seinen sterblichen Überresten vernichtet worden war. Er beschloss daher, jeden Zentimeter des Gartens und der Schuppen vom Brook Cottage zu durchkämmen.
»Tja, Hawkins«, sagte Meredith am nächsten Morgen, »gleich fahren wir wo hin, wo wir noch nie gewesen sind.«
»Und wo ist das, Sir?«, fragte Hawkins begierig.
»Bramber«, grinste der Superintendent.
Hawkins stieß ein unflätiges Wort hervor und setzte sich ans Steuer des kleinen blau-schwarzen Wagens, auf dessen Rücksitz ein Constable zwei Spaten und ein Sieb gelegt hatte. Bald hatten sie die Häuser hinter sich gelassen und fuhren durch die Landschaft, in der schon die ersten braunen und rostfarbenen Tönungen den Herbst ankündigten. Der Regen hatte sich verzogen, und die reglose Hitze des Morgens versprach einen sengenden Tag.
Am Brook Cottage angekommen, machten sie sich sogleich an die Arbeit.
»Als Erstes nehmen wir uns den Garten vor, Hawkins. Wir müssen auch nur da graben, wo der Boden aussieht, als wäre unlängst etwas damit geschehen. Wir lassen also erst mal einfach die Blicke schweifen, ja?«
Doch obwohl sie in dem ungepflegten kleinen Garten hier und da Stellen mit verdächtig lockerer Erde fanden, förderten ihre Grabungen nichts Interessantes zutage. Nach einer Stunde Schufterei erklärte sich Meredith von der Unschuld des Gartens überzeugt und lenkte sein Interesse auf die Schuppen. Der größte war gemauert und hatte ein Ziegeldach, ein Häuschen, wie man es für die Lagerung von Kohlen und Holz nutzen würde oder um darin Gartengeräte aufzuhängen. Es hatte einen Backsteinboden, keine Fenster und roch feucht und modrig. Meredith suchte es in dem Licht, das zur offenen Tür hereinfiel, sorgfältig ab. Der Schuppen war mit allem möglichen Krempel vollgestellt – Säcken, alten Zeitungen, einem Haufen modriger Kartoffeln, ein, zwei zerbrochenen Kisten von Fortnum & Mason, zwei Dutzend Blumentöpfen und einem rostigen Rasenmäher.
Nach und nach räumte Hawkins auf Anweisung seines Chefs sämtliche beweglichen Gegenstände in den Garten, bis der Boden, von dem Kartoffelhaufen abgesehen, vollkommen leer war. Sodann suchte Meredith auf Händen und Knien jeden Zoll des Backsteinbodens ab. Alles schien in Ordnung. Erst als Hawkins den Kartoffelhaufen in eine andere Ecke geschaufelt hatte, stieß Meredith auf eine Spur. Trotz des Drecks und der getrockneten Erde, welche den Boden unter dem Haufen überzog, fielen ihm mehrere Backsteine auf, die herausgelöst und geschickt wieder an ihre Stelle gelegt worden waren. Mit dem Taschenmesser stemmte er einen hoch und konnte so nach und nach einen guten Quadratmeter des unzementierten Backsteinbodens abtragen.
»Holla! Holla!«, rief er sogleich aus. »Hier haben wir was, mein Junge. Die Erde unter den Backsteinen ist frisch umgegraben. Da – holen Sie mir mal den Spaten. Nun machen Sie schon!«
Hawkins, von derselben Erregung gepackt, reichte ihn dem Superintendent. Mit äußerster Vorsicht begann Meredith zu graben. Fast sofort stieß der Spaten auf etwas, das gewiss nicht einfach nur Erde war.
»Vorsichtig, Sir!«, rief Hawkins aus und ging auf die Knie. »Da steht die Ecke von was raus. Sieht aus wie ein Stück Stoff.« Behutsam zog er daran. Zentimeterweise löste sich der Stoff aus der gepressten Erde, bis kein Zweifel mehr bestand. »Mein Gott! Das ist die Jacke, Sir. Rothers Jacke. Sie passt zu der Tweedmütze, die wir bei dem Hillman gefunden haben.«
»Sie sagen es!«, rief Meredith aus, nahm das Bündel und trat damit ins Licht an der Tür. »Das ist der ganze verdammte Anzug, wie’s aussieht. Weste, Kniehose, Strümpfe, Jacke.«
»Mit Blutflecken?«, fragte Hawkins hoffnungsfroh, als Meredith das fest zusammengewickelte Bündel entrollte.
»Blutflecken? Nein, ich glaube nicht –« Er brach ab. »Na, das ist doch …!«
Hawkins trat hinzu.
»Was denn, Sir?«
»Das da«, sagte Meredith und nahm etwas aus den Sachen heraus. »Haben Sie so was schon mal gesehen?«
»Ein Schädel!«, rief Hawkins und erlebte einen der größten Nervenkitzel seiner Laufbahn. »Der fehlende Schädel!«
»John Rothers Schädel«, ergänzte Meredith. »Der krönende Abschluss des Skeletts vom alten Blenkings, wie?« Dann aber, mit jäh veränderter Stimme: »Was zum Teufel –?«
»Stimmt was nicht, Sir?«
»Da stimmt überhaupt nichts. Kein Haar, keine Spur von Fleisch an den Knochen, vermodert oder anderes. Warum?«
»Vielleicht hat der Bursche ihn als Erstes aufs Feuer gelegt«, meinte Hawkins. »Erinnern Sie sich, wir haben im Kamin die Reste eines Feuers gefunden.«
»Ausgeschlossen«, widersprach Meredith. »Die Knochen sind doch gar nicht angekokelt. Der Schädel wirkt sogar richtiggehend poliert. Und noch etwas, Hawkins. Warum sehen wir nicht den Bruch, wo Rother niedergeschlagen wurde?« Langsam drehte er den Schädel in der Sonne. »Der ist doch mehr oder weniger intakt, nicht? Ein paar Zähne fehlen, aber da ist nichts gesplittert. An diesem Schädel ist irgendwas faul – etwas, was wir noch nicht ganz begriffen haben.«
»Am besten gehen wir damit zu dem alten Professor, wie, Sir?«
»Allerdings, Hawkins. Wir fahren sofort nach Worthing. Unterwegs durchsuche ich noch die Taschen des Anzugs.«
Doch außer dem Etikett mit dem Namen des Herstellers fand sich nichts, womit die Kleider eindeutig identifiziert werden konnten. Aber Farbe und Material passten zu der blutbefleckten Mütze, soweit sich Meredith erinnerte. Doch das ließ sich leicht überprüfen. Ob auch auf dem Anzug Blutflecken waren? Er suchte ihn von oben bis unten ab. Ja – ein schwärzlich-brauner Fleck am linken Ärmelaufschlag. Sonst nichts. Auch das war seltsam. Diese Funde bedurften noch einiger Erklärung.
Professor Blenkings war hocherfreut, die Polizei wiederzusehen. Er begrüßte Meredith begeistert, bestand auf einem Glas, bugsierte ihn in sein Arbeitszimmer und drängte ihm eine Zigarre auf.
»Nun sagen Sie mir nicht, dass Sie schon wieder eine Knochensammlung gefunden haben, Superintendent. Das überstiege ja jede Hoffnung. Äußerst vergnüglich, diese kleine Arbeit, die ich für Sie erledigt habe. Banal, aber von praktischem Nutzen, nehme ich an. Was führt Sie heute zu mir?«
Meredith wickelte den Schädel aus der Weste und hielt ihn hoch.
»Das, Sir.«
Der Professor setzte die Brille auf und warf einen kritischen Blick auf das Beweisstück.
»Höchst interessant«, murmelte er. »Höchst interessant. Ein äußerst wohlgeformtes Kranium, Superintendent. Zudem noch intakt. Darf ich fragen –?«
Meredith erklärte ihm in knappen Worten, wie er den Schädel im Schuppen hinterm Brook Cottage gefunden hatte und dass er seiner Meinung nach zu John Rother gehörte.
Professor Blenkings schüttelte den Kopf.
»O je, nein«, bestritt er nachdrücklich. »Ich glaube kaum, dass das Mr. Rothers Schädel ist. Sie hatten mir doch gesagt, er habe einen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten. Dafür müssten Anzeichen zu sehen sein, nicht? Ganz selbstverständlich. Dieser Schädel hier ist dagegen vollkommen unversehrt. Sie müssen sich irren.«
»Das hatte ich schon geahnt«, sagte Meredith trocken. »Trotzdem kann ich mir diese Diskrepanz nicht erklären.«
»Nein. Nein. Ganz recht«, brummelte der Professor geistesabwesend, während er den Schädel hin und her drehte, um ihn besser begutachten zu können. »Da fällt mir ein«, fuhr er nach längerem Schweigen fort, »haben Sie zufällig eine Fotografie von Mr. Rother?«
Glücklicherweise hatte Meredith eine in der Brieftasche. Er reichte sie ihm kommentarlos, was ein erneutes langes Schweigen zur Folge hatte.
»Also wirklich«, rief der Professor aus. »Das ist ja eine ganz außerordentliche Sache! Ich will Sie ja nicht enttäuschen, Superintendent, aber ich muss Sie doch darauf hinweisen, dass dies nicht Mr. Rothers Schädel ist. Ganz eindeutig. Natürlich äußerst interessant, für Sie jedoch ärgerlich.«
»Aber er muss es sein!«, rief Meredith aus. »Alle unsere Indizien weisen darauf hin. Warum sind Sie so sicher?«
»Seien Sie doch so gut und sehen Sie sich das Foto an. Besonders Mr. Rothers Kinnlade. Sie ist kantig, aber nicht sonderlich ausgeprägt, ja? Und nun betrachten Sie die des Schädels. Das hier nennen wir einen Unterbiss. Es ist eine ganz andere Form. Und wenn das ein neueres Foto Mr. Rothers ist, dann werden Sie sehen, dass er offenbar hervorragende Zähne hat. Die Zähne dieses Schädels dagegen sind sehr mittelmäßig. Sehr. Eigentlich schlecht. Die müsste sich mal ein Zahnarzt ansehen. Es tut mir leid, Ihre Erwartungen zu enttäuschen, Superintendent, aber die Tatsachen sind völlig unbestreitbar.«
»Aber glauben Sie, der Schädel gehört zu dem Skelett, das Sie angefertigt haben?«
»Nun, das lässt sich leicht feststellen. O je – ja.« Der Professor erhob sich und läutete. Wenige Sekunden später erschien seine ältliche, gestrenge Haushälterin. »Ah, Harriet – seien Sie doch so gut und holen Sie mir das hübsche kleine Skelett aus dem Schrank. Sie wissen ja, wo ich es aufbewahre.«
»Sehr gern, Sir«, sagte Harriet gleichmütig, als hätte sie ihr Leben weitgehend damit verbracht, Skelette aus Schränken herbeizuschaffen.
Wenige Minuten später kehrte die verdrießliche Dame zurück, ihren makabren, kopflosen Begleiter mit einer aus tiefer Verachtung für das Reißerische erwachsenen Gleichgültigkeit an die gestärkte Schürze drückend.
»Könnte mal wieder abgestaubt werden«, bemerkte sie patzig, während sie ihre gruselige Last auf einem Sessel ablegte. »Zwischen den Rippen sind ja schon Spinnweben, Sir.«
»Das wäre alles, Harriet«, sagte der Professor bestimmt und entließ sie mit einer gebieterischen Handbewegung. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, stand er begierig von seinem Stuhl auf, nahm den Schädel und ging damit zu dem fläzenden Skelett. Dort setzte er ihn dem Gerippe geschickt auf die Schultern, als wäre er ein Hut. Er passte perfekt auf die Stellen, wo die Knochen durchtrennt worden waren.
»Sehen Sie – jetzt besteht kein Zweifel mehr. Äußerst verstörend, würde ich sagen, Superintendent, aber ich muss jetzt doch darauf hinweisen, dass auch das Skelett nicht das von Mr. Rother ist! Natürlich unerklärlich – aber so ist es.«
»Also, das ist doch –«, begann Meredith.
»Durchaus. Durchaus. Ich verstehe Ihren Verdruss. Kann ich noch etwas für Sie tun?«
Kopfschüttelnd erhob sich Meredith. Er war derart perplex, dass er ganz vergaß, dem Professor für das Glas zu danken. Wo war er fehlgegangen? Wenn das nicht Rothers Skelett war, wem zum Henker gehörte es dann? Und warum war der Schädel in einen Kniehosenanzug gewickelt, der nahezu sicher Rother gehört hatte? Und wie war das Fleisch vom Knochen gelöst worden, sodass der Schädel so sauber und poliert war? In den acht Wochen konnte es ja nicht vollständig verrottet sein.
Im weiteren Verlauf des Vormittags, beim Mittagessen und fast den ganzen Nachmittag hindurch grübelte er über diesen Fragen. Er verglich die Tweedmütze mit dem Anzug, das Material war exakt dasselbe – was nach wie vor ein starker Beweis dafür war, dass die Kleidung auch wirklich John Rother gehörte. Er besprach die Sache mit dem Chief und untersuchte noch einmal jedes Beweisstück und jedes Dokument im Zusammenhang mit dem Fall. Er las Aussagen durch, stellte neue Theorien auf und verwarf sie nach genauerer Überlegung sofort wieder. Er fluchte und rauchte, rauchte und fluchte und ging in tiefer Verzweiflung nach Hause zum Abendessen. Würde der Fall jemals abgeschlossen sein? Sollte er zu dem einen hervorstechenden Fehlschlag in seiner Karriere werden? Die Sache im Lake District war ein Kinderspiel gewesen verglichen mit den Verzwicktheiten dieser vermaledeiten Ermittlung. Er hatte diesen verdammten Fall gründlich satt!
Dann, mitten in der Nacht, stieß er einen scharfen Ruf der Erleuchtung aus, tippte seiner Frau auf die Schulter und riss sie unter Mühen aus ihrem Tiefschlaf.
»Ich hab’s, Schatz! Ich hab’s! Ich weiß jetzt, was am 20. unterhalb des Cissbury passiert ist. Mein Gott – was war ich doch blind –«
»Was hast du?«, knurrte seine Frau grämlich.
»Die Antwort auf den Rother-Fall«, krähte Meredith triumphierend in Erwartung der Glückwünsche seiner Frau.
»Ach, das«, sagte sie unbeteiligt, drehte sich wieder um und schlief weiter.
Am Morgen aber, nach einem zeitigen Frühstück, hatte sie ihr Desinteresse abgelegt. Während sie Meredith die Mütze reichte und ihm die Uniform abbürstete, ließ sie sich von ihm umarmen und inbrünstig küssen.
»Wunderbar, wie?«, fragte ihr Mann.
»Das bist du«, murmelte Mrs. Meredith. »Und du hast nur darauf gewartet, dass ich es sage. Also dann, viel Glück, du dummer Junge, und dass du mir auch irgendwo gut zu Mittag isst, falls du nicht nach Hause kommen kannst.«
Doch an diesem denkwürdigen Tag vergaß Meredith ganz, zu Mittag und auch zu Abend zu essen – über der Arbeit, mit der er befasst war, vergaß er alles. Immerhin gönnte er sich einen schnellen Schluck an der Bar des Chancton Arms und gegen halb fünf eine Tasse Tee beim Pfarrer von Washington. Nachdem er bei Aldous Barnet den Schlüssel geholt hatte, fuhr er nach Chalklands und nahm von dort ein großes, in Packpapier eingeschlagenes Bild mit. Anschließend wies er Hawkins an, den Tank des Polizeiwagens zu leeren, danach exakt neun Liter einzufüllen und ihn zuallererst von Chalklands nach Littlehampton zu fahren. Von Littlehampton ging es dann die Küste entlang über Goring nach Worthing und weiter durch Tarring nach Findon und zur Bindings Lane, wo Hawkins das verbliebene Benzin abließ, den Tank mit einem Ersatzkanister nachfüllte und auf Merediths Anweisung zur Direktion zurückkehrte. Dort maß der Superintendent, wie schon einmal zuvor, das aus dem Tank abgelassene Benzin und stellte mithilfe seiner Bartholomew-Karte einige rasche Berechnungen an. Danach kehrte er erschöpft, aber äußerst zufrieden zu einem späten Abendbrot in die Arundel Road zurück.
Kaum hatte er zu Ende gegessen, klingelte das Telefon. Der diensthabende Beamte teilte ihm mit, der Yard wolle dringend mit ihm sprechen. In höchster Anspannung brach Meredith erneut zur Direktion auf. Am anderen Ende der Leitung war Detective-Inspector Legge.
»Ah – da sind Sie ja. Tut mir leid, dass ich Sie so rausreiße, aber ich habe Nachrichten, die keinen Aufschub dulden. Ihr bärtiger Mann wurde heute Nachmittag in Dover festgenommen, als er sich davonmachen wollte. Verweigert die Aussage. Gibt seinen Namen mit Jack Renshaw an und als Adresse ein Londoner Hotel. Natürlich hat man ihn belehrt, und die Jungs in Dover bringen ihn auf Anweisung des Chefs noch heute Abend hierher. Die Frage ist nun – können Sie mit dem Zug kommen und ihn identifizieren?«
»Einen Moment«, sagte Meredith und zog den Fahrplan der Southern Railway heran. »Ja – das geht. Ich bin gegen 22.30 Uhr da. Würde wohl über Nacht bleiben und erst morgen zurückfahren.«
»Das regle ich. Meinen Sie, damit ist der Fall abgeschlossen?«
»Ich meine nicht«, lachte Meredith vor berechtigter Befriedigung. »Ich weiß es!«
Er fuhr noch schnell nach Hause, packte ein paar Sachen und erklärte seiner Frau, was geschehen war. Dann lief er zum Bahnhof, wo er eine Minute vor dem Zug ankam. Auf der Fahrt schlief er wie ein Stein. Kaum hatte der Zug jedoch in der Victoria Station angehalten, sprang er in alter Frische heraus, winkte ein Taxi heran und gebot dem Fahrer, ihn zu Scotland Yard zu bringen. Legge erwartete ihn schon im Vorraum.
»Pünktlich auf die Minute«, grinste er. »Keiner ist so effizient wie ihr Grafschaftsburschen. Sollen wir noch kurz raus auf ein Glas, oder wollen Sie diesen Mr. Renshaw gleich sehen? Wenn wir schnell machen, wäre noch Zeit.«
»Nein«, sagte Meredith entschieden. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – das ist mein Motto. Sie vergessen, Legge, dass das für mich der Höhepunkt von zwei Monaten Ermittlung sein kann! Und dazu noch ein schlagzeilenträchtiger! Sie können sich denken, dass ich ziemlich angespannt bin. Wo ist der Kerl?«
»Ich lasse ihn herbringen«, erwiderte Legge. »Der Super hat mir sein Büro überlassen. Wir armen Teufel müssen uns ja ein Zimmer teilen. Eine Riesenschande, das. Haben Sie mal versucht, einen Bericht zu schreiben, wenn neben Ihnen zwei über Fußball streiten? Sehr hilfreich, kann ich Ihnen sagen. Also los – hier lang.«
Ein Constable wurde in Marsch gesetzt, um Mr. Jack Renshaw aus der Arrestzelle ins Büro von Superintendent Hancock zu geleiten.
»Zigarette?«, fragte Legge. »Die gehören dem Super, aber ich kann sie bestens empfehlen.«
Meredith nahm eine und bemerkte zu seiner Verblüffung, als er das brennende Streichholz daran hielt, dass seine Hand zitterte wie Blätter im Wind. So viel hing von den nächsten Minuten ab. Es klopfte. Meredith fuhr hoch.
»Herein«, rief Legge.
Zwei Constables traten ein, zwischen ihnen ein eher kleiner, gedrungener Mann mit dunklem Bart und einem Verband am linken Handgelenk. Er trug die Sachen, in denen Biggins, der Wirt des Loaded Wain, ihn gesehen hatte – dunkler Anzug, gestärkter Kragen, Bowler. Beim Eintreten in das hell erleuchtete Zimmer nahm Renshaw instinktiv den Hut ab, trat einen Schritt vor und blickte fragend von Meredith zu Legge.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte er mit kultivierter Stimme. »Sie haben nach mir geschickt?«
»Ich bin Polizeibeamter und mit dem Mord an Mr. William Rother befasst. Ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Setzen Sie sich doch bitte.«
Mit einem leichten Nicken des Danks ließ sich der Mann auf einen Stuhl nieder, während Legge die beiden Constables mit einer kleinen Handbewegung entließ. Meredith trat vor den Schreibtisch und lehnte sich dagegen; das Licht schien über seine Schultern hinweg in Renshaws Gesicht.
»Zigarette?«
»Danke.«
»Feuer?« Meredith hielt ihm die Flamme hin.
»Danke.«
Legge lief umher und blieb schließlich zwischen der Tür und Renshaw stehen.
»Also«, begann Meredith, »ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Sie müssen meine Fragen nicht beantworten, aber ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass es nur zu Ihrem Vorteil ist, wenn Sie es tun. Ich habe hier einige Sachen, die ich gern von Ihnen identifiziert haben möchte. Möglicherweise haben Sie sie schon einmal gesehen. Falls Sie von selbst eine Erklärung abgeben möchten, können Sie dies tun, aber ich warne Sie, dass alles, was Sie sagen, schriftlich festgehalten wird und gegen Sie verwendet werden kann.« Meredith bückte sich, öffnete seinen Koffer und nahm die blutige Mütze heraus. »Haben Sie die schon einmal gesehen, Mr. Renshaw?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht? Nun gut. Und das?« Meredith breitete die drei Teile des Kniehosenanzugs langsam auf dem Schreibtisch des Superintendent aus. »Wissen Sie etwas darüber?«
»Nichts.«
»Sicher?«
»Ganz … sicher«, sagte der Bärtige stockend und schob abwehrend das Kinn vor. »Es ist mir noch immer vollkommen schleierhaft, warum ich hier in dieser Weise festgehalten werde. Man hat mir gesagt, es habe mit dem Mord an William Rother zu tun. Ich bin ein ehrbarer Bürger, und ich verstehe nicht –«
»Soso«, fiel ihm Meredith ins Wort und lächelte leise. Dann, nach einer Pause: »Schon mal vom Brook Cottage gehört?«, fragte er scharf. »Oder von Jeremy Reed? Na kommen Sie, Mr. Renshaw – was gibt’s da zu zögern? Haben Sie davon schon einmal gehört? Na kommen Sie! Oder haben Sie Ihre Zunge verschluckt?«
»Nein … na…türlich nicht«, stammelte Mr. Renshaw. »Ich meine«, ergänzte er mit einem matten Lächeln, »dass ich natürlich noch nie davon gehört habe.«
»Und das haben Sie wohl auch noch nie gesehen, wie?«, blaffte Meredith, holte den Schädel aus dem Koffer und hielt ihn hoch. »Na los! Antworten Sie! Schon mal gesehen?«
»Ich … nein …«, begann der Mann mit zittriger Stimme. »Ich … nein … vielleicht –«
»Sie haben ihn also doch gesehen? Nicht wahr, hm? Lügen nützt Ihnen nichts, Renshaw. Dazu wissen wir zu viel. Kommen Sie schon – raus mit der Sprache! Die Wahrheit.«
Mit einem Mal wich jeglicher Kampfeswille aus der gedrungenen Gestalt. Die Schultern sackten ein, die Augen mieden Merediths festen Blick und hefteten sich auf den Fußboden; seine zuvor noch rötlichen Wangen verloren jede Farbe. Er saß nur gebeugt da und fingerte an seinem Bowler, außerstande, ein einziges Wort zu sagen.
Doch dann: »Mein Gott!«, flüsterte er gebrochen, entsetzt über die Lage, in der er sich befand. »Wie haben Sie das herausgefunden? Ich habe mich so sicher gefühlt. Um Himmels willen, wie haben Sie das herausgefunden?«
Meredith lächelte schwach.
»Genügt es nicht, dass es so ist?«
»Und Sie wissen … wer ich bin?«, fragte der Bärtige mit bebender Stimme.
Meredith wandte sich an den Inspector.
»Wissen Sie’s, Legge?«
»Nun, er hat seinen Namen mit Jack Renshaw angegeben, aber ich glaube gern, dass das ein Deckname ist.«
Meredith nickte.
»Richtig. So ist es. Genauso, wie Jeremy Reed einer war.«
Legge trat näher und starrte Meredith verwirrt an.
»Aber, meine Güte, ich dachte, Jeremy Reed wurde von Ihnen identifiziert als ein und dieselbe Person wie –?«
»John Fosdyke Rother«, ergänzte Meredith. »Auch damit liegen Sie richtig, Legge. Sehen Sie …«
Meredith ließ den Satz bewusst unvollendet. Er blickte auf Renshaw. Der Mann nickte langsam.
»Sehen Sie«, erklärte er mit ersticktem Flüstern, »ich bin John Fosdyke Rother.«