»Genug geredet«, sagt Jonathan scharf. »Ich suche jetzt die Flasche mit dem Äther, und danach bereite ich dich für die Operation vor.«
Sein Blick geht suchend von links nach rechts. »Wahrscheinlich steckt sie in der Tasche in meinem Auto. Ich bin gleich wieder da.«
Mit großen Schritten läuft er zur Tür, die mit einem Knall hinter ihm zufällt.
Die Stille dröhnt in meinen Ohren nach. Verwirrt starre ich ihm hinterher. Eine winzige Ecke in meinem Gehirn wird wach: Er ist weg, Tyrza. Weg!
Ich reiße an den Seilen und versuche, meine Hände aus den Fesseln zu zwängen. Das Seil scheuert an meiner tauben Haut, ohne dass ich es spüre. Ich ziehe immer fester, bis ich Flecken vor den Augen sehe.
Keine Bewegung.
Tränen steigen in meinen Augen auf. Warum bin ich letzten Freitag nur zum Arzt gegangen? Warum bin ich heute nicht mit Sanne und Noor gefahren? Es fühlt sich an, als wäre es meine eigene Schuld, dass ich hier liege. Schluchzend drehe ich den Kopf zur Wand, damit ich diese Tür nicht mehr sehen muss.
Das letzte Mal habe ich so heftig geweint, als Papa gestorben ist. Damals hat Livia mich getröstet. Sie hat sich auf meinen Schoß gesetzt und die Arme um mich gelegt. »Wir haben immer noch uns beide«, hat sie leise gesagt.
Und bald hat sie nur noch Mama.
Plötzlich bekomme ich eine richtige Wut auf mich selbst.
Jetzt hör auf zu heulen, Tyrza. Glaubst du, dass du Livia damit hilfst? In höchstens einer Minute ist dieser Jonathan zurück, und dann wird er dich aufschneiden. Das hier ist hundertprozentig deine allerletzte Chance. Versuch es noch einmal. Für Livia.
Es ist, als könnte ich auf einmal übernatürliche Kräfte mobilisieren. Ich drücke mich auf Fersen und Ellenbogen hoch und ruckele wild hin und her. Die Krankenliege stößt gegen die Wand und den eisernen Stützpfeiler. Eiszapfen brechen ab und fallen zu Boden. Einer von ihnen landet neben meinem linken Bein. Noch einmal, Tyrza, noch einmal! Ich ziehe gleichzeitig an den Seilen um Arme und Beine, und höre mich stöhnen. Alles in meinem Körper protestiert. Die Krankenliege prallt erneut gegen den Stützpfeiler.
Das Geräusch von Metall auf Metall ist laut.
Plötzlich ist mein linker Arm frei. Ungläubig starre ich darauf. An meinem Handgelenk baumelt das Seil. Der Zusammenstoß hat die Stange der Liege gebrochen!
Ich fange an zu lachen, unter Tränen. Es ist, als würde das Blut in meine Gliedmaßen zurückströmen. Als könnte ich wieder Dinge spüren. Ich muss so schnell wie möglich meinen anderen Arm befreien, und dann ...
Klick.
Schnell drehe ich den Kopf in Richtung der aufschwingenden Tür. Jonathan betritt lächelnd den Raum.
»Da bin ich wieder«, sagt er und zwinkert mir zu. »Der Äther lag tatsächlich noch im Auto.«
Nein. Nein! Neeeiin! Das kann nicht wahr sein. Darf nicht wahr sein.
Jonathan dreht sich um und schließt die Tür. »Ich hatte ihn natürlich im Tunnel benutzt.«
Geistesabwesend stiere ich auf seinen Rücken.
Dein Arm, zischt eine Stimme in meinem Kopf. Erschrocken schaue ich auf meinen freien Arm, der auf meinem Bauch liegt.
Blitzschnell lasse ich ihn zwischen Liege und Wand rutschen.
»Entschuldige, dass ich dich so lang habe warten lassen«, sagt Jonathan, als er sich wieder umdreht. »Ich verspreche dir, dass ...«
Ich höre ihn reden, aber ich höre nicht zu. Mein Gehirn geht fieberhaft alle Möglichkeiten durch. Soll ich ihm ins Gesicht schlagen? Das bringt nichts, Tyrza. Er ist viel stärker. Gibt es denn eine Möglichkeit, meinen anderen Arm freizubekommen? Nicht, solange er neben dir steht, Tyrza.
Aber was soll ich denn sonst machen?
Es bleibt still in meinem Kopf.
Es gibt keine anderen Möglichkeiten mehr ... Dieser Gedanke trifft mich wie ein Keulenschlag. Es ist vorbei. Wirklich vorbei.
»Wenn ich gleich das Tuch mit dem Äther auf dein Gesicht lege, musst du ganz tief einatmen«, höre ich Jonathans Stimme. »Es riecht ein bisschen eklig, daran kann ich leider nichts ändern.« Er schraubt den Verschluss einer braunen Flasche ab. Aus seiner Tasche zieht er ein Stofftuch, das er gegen die Flaschenöffnung drückt. Ich kann es nicht mehr mit ansehen. Ich schließe die Augen und balle meine Hände zu Fäusten. An meiner linken Hand spüre ich den abgebrochenen Eiszapfen. Ich umklammere ihn und drücke ihn wie ein Baby, das bei seinem Kuscheltier Trost sucht.
Denk an etwas Schönes.
Denk an etwas, das nicht wehtut.
Denk an ...
Mein Instinkt übernimmt. In einer fließenden Bewegung hole ich aus.
Der Eiszapfen durchbohrt Jonathans Hals.