»Bist du wach?«
Jemand sagt etwas. Die Worte treiben auf mich zu, und sie tun weh. Schmerzen in meinen Ohren. In meinem Kopf. Lass mich in Ruhe, denke ich.
Aber die Stimme spricht weiter: »Willst du noch eine Decke? Oder ist dir nicht mehr kalt?«
Kalt? Vage erinnere ich mich an Kälte. An weiße Wände, Schmerzen in den Füßen, festgebunden werden ... Ich will nicht daran denken und drehe mich um.
»Immer mit der Ruhe, Mädchen«, sagt die Stimme. »So ziehst du dir die Infusion aus dem Arm.«
Ich blinzele. Grellweißes Licht und ein dunkler Schatten über meinem Kopf.
»Gut so«, murmelt die Stimme. »Mach die Augen ruhig auf.«
Der Schatten bekommt Augen, einen Mund, Augenbrauen, blonde Haare. Ein Frauengesicht sieht mich lächelnd an.
»Guten Morgen, Tyrza«, sagt die Frau freundlich.
Neben ihrem Kopf sehe ich einen Monitor, auf dem grüne Linien und Zahlen blinken, und einen Infusionsständer.
Bin ich in einem Krankenhaus? Aber warum? Es ist doch nichts ...
Oh.
Gott.
Nein!
Es ist, als würden meine Erinnerungen auf einen Schlag zurückkommen. Jonathan! Der Kühlraum! In meiner Panik richte ich mich ruckartig auf. Sofort fängt der Monitor an zu piepsen.
»Ganz ruhig«, sagt die Frau, und drückt mich ins Kissen zurück. Mit einer kühlen Hand streicht sie mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist im Krankenhaus und in guten Händen. Möchtest du vielleicht etwas trinken?«
Trinken? Ich schnalze mit der Zunge an meinen Gaumen und merke jetzt erst, wie trocken mein Mund ist.
»Gern«, sage ich heiser.
»Ich hole dir ein Glas Limonade.« Lächelnd verschwindet sie durch den grünen Vorhang, der um mein Bett hängt.
Stocksteif bleibe ich liegen. Ich höre Leute reden, gedämpft und weit entfernt. Schritte, die an meinem Bett vorübergehen, ohne dass ich sehen kann, wer es ist.
Was ist, wenn Jonathan zurückkommt ...
Ich kralle meine Hände in das Laken unter mir, bis es durchnässt ist von meinem Schweiß. Bilder treiben hoch, ohne dass ich sie sehen möchte. Der Eiszapfen, der aus Jonathans Hals ragte. Blut, das seinen Hals hinunterlief. Die Panik in seinen Augen.
Und dann war er plötzlich verschwunden.
Ich verstand es nicht, verstehe es immer noch nicht.
Ab diesem Moment habe ich Erinnerungslücken. Meine Finger, die endlos an den Seilen friemeln. Die Kühlraumtür, die offen steht. Warme Luft auf meiner Haut. Straßenlaternen, Wasser. Autotüren, die aufgehen und zuschlagen, Hände, die mich halten. Eine Stimme, die etwas ruft. Aber ich höre es nicht mehr, schwerelos treibe ich davon in die Finsternis.
Der Vorhang wird zur Seite geschoben. »Da bin ich wieder.«
Die Krankenschwester hilft mir auf und steckt mir den Trinkhalm in den Mund. Gierig trinke ich die Limonade. Sie schmeckt süß und lecker.
»Sehr gut«, murmelt sie. »Der Arzt kommt gleich auch noch kurz und schaut nach dir. Du hast unglaublich viel Glück gehabt, weißt du das? Du warst so stark unterkühlt, dass wir befürchteten, deine Fingerspitzen und Zehen hätten bleibenden Schaden genommen.«
Es ist, als würde ich zum ersten Mal wieder an meine Hände und Füße denken. Erschrocken starre ich auf meine Finger. Ich habe so große Angst, sie könnten schwarz sein. Aber sie sind rosa. Und warm. Und zart. Und als ich in meine Hände kneife, spüre ich alles. Unter den Decken wackele ich mit den Zehen. Der Stoff kitzelt an meiner Haut.
Die Schwester streicht sie glatt. »Weißt du, wen ich gerade durch die Schiebetür habe kommen sehen?«
Ich schüttele den Kopf.
»Deine Mutter und deine kleine Schwester! Sie waren auch gestern Abend hier, aber da warst du noch nicht ansprechbar.« Sie geht zum Vorhang. »Wenn etwas ist, musst du auf den roten Knopf neben deinem Bett drücken, okay?«
Sie verschwindet zwischen den grünen Falten.
Wenige Sekunden später steckt Livia ihren Kopf durch den Vorhang.
»Tyrzaaaaa!«, ruft sie und springt auf mein Bett. Sie wirft mir die Arme um den Hals. »Du hast mir so gefehlt. Du darfst nie wieder weggehen, versprichst du mir das?«
»Das verspreche ich«, sage ich und lache. »Aber jetzt musst du mich loslassen, Liv, sonst ersticke ich gleich.«
Erschrocken schlägt sie eine Hand vor den Mund. »Hab ich dir wehgetan?«
»Nein, natürlich nicht, du verrücktes Huhn.« Grinsend ziehe ich sie an mich.
»Ich wusste, dass du nicht tot bist«, sagt sie, den Kopf an meiner Schulter. »Mama war total hysterisch und ...«
»Hallo.«
Meine Mutter steht am Fußende des Betts. Ihr Gesicht ist blass und müde, und für ein paar Sekunden wirkt sie reglos wie ein Denkmal. Dann kommt sie in Bewegung und setzt sich neben mich auf die Bettkante.
Ich rücke ein Stück zur Seite, damit sie mich nicht berühren kann. Sie tut so, als würde sie es nicht merken.
Ich warte, dass sie sauer auf mich wird.
»Wir waren so beunruhigt«, sagt sie schließlich mit belegter Stimme. »Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo du sein könntest. Und du bist nicht ans Telefon gegangen. Ich ... ich hatte so eine Angst, dass ich dich nie wiedersehen würde.«
Verblüfft starre ich sie an.
Sie fängt an zu weinen.
»Dann wäre alles meine Schuld gewesen. Ich hätte dich nie zum Arzt schicken dürfen. Aber ich habe mir solche Sorgen gemacht ... Du warst immer so müde, und du sahst so traurig aus nach Papas Tod.« Die Tränen rollen über ihre Wangen, in ihren Mund, am Kinn entlang. »Ich wollte dir doch nur helfen.«
Plötzlich wird mir klar, was ich eigentlich immer schon wusste: Sie liebt mich. Ich sehe es in ihrem Blick, an ihren gekrümmten Schultern.
Warum habe ich das nicht früher sehen wollen?
Ich suche nach Mamas Hand und halte sie fest.
Sie schaut mich mit großen Augen an, als könnte sie nicht glauben, dass dies wirklich geschieht, und drückt dann fest zurück. Livias warme Hand schiebt sich zwischen unsere Hände.
Wir bleiben eine Ewigkeit so sitzen.