KAPITEL 41

März 1984

Nachdem er alle infrage kommenden Vertriebswege ausgelotet hatte, entschied Max Mojo widerwillig, sich einmal mehr auf den Weg Richtung Süden zu machen. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass der landesweite Erfolg von »The First Picture« reine Formsache wäre. Von schottischen Musikexperten in höchsten Tönen gelobt, hatte sich die Platte bisher jedoch nur vierhundertfünfzig Mal verkauft. X-Ray Raymonde kritisierte Max Mojos Naivität und sah den Grund für die geringen Verkaufszahlen in dessen Arroganz und dem daraus resultierenden Versäumnis, einen Vertriebsdeal mit einer Firma wie Rough Trade abzuschließen. Rough Trade Records hatte bereits eine Reihe bahnbrechender Platten herausgebracht, darunter »Alternative Ulster« von Stiff Little Fingers, und bereitete gerade die erste LP der Smiths zur Veröffentlichung vor. Max hatte herausgefunden, dass das Plattenlabel Rough Trade und dessen Vertriebsabteilung Cartel nun zwei voneinander unabhängige Unternehmen waren, und war fest entschlossen, dem Labelchef Geoff Travis einen Besuch abzustatten.

Bewaffnet mit einer Tüte selbst finanzierter Singles, das Blut angereichert mit jeder Menge Lithium und den Kopf voller Hoffnungen und Träume, bestieg Max Mojo den morgendlichen Flieger vom Glasgow Airport nach London Heathrow. Es war sein erster Flug überhaupt, aber ein paar Gin Tonic und ein Zehnerpäckchen Embassy Club würden seine eventuell blank liegenden Nerven sicherlich beruhigen.

Auch Grant Delgado war an jenem Tag unterwegs, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Maggies unangekündigte Ausflüge hatten zugenommen und wiesen inzwischen eine spontane Regelmäßigkeit auf. Wenn es wieder mal so weit war, packte sie einfach ein paar Sachen in den Campingbus und verschwand ohne Vorwarnung oder Erklärung. Seinen Fragen zu diesen Reisen begegnete sie mit Schweigen. Und so tat Grant das, was jeder besorgte Freund getan hätte: Er mietete sich einen Wagen und folgte ihr.

Simon Sylvester verbrachte seine Nachmittage im Gefängnis. Nach einer weiteren Anzeige wegen Gelegenheitsdiebstahl hatte ein von Max bezahlter Anwalt beim Gerichtsprozess eine Strafminderung für ihn ausgehandelt. Der Richter hatte sich Plädoyers anhören müssen, in denen argumentiert wurde, dass eine Haftstrafe diesen talentierten jungen Mann von seiner einen großen Leidenschaft fortreißen würde: seiner Band, The Miraculous Vespas. Und so wurde Simon Sylvester zu einhundertfünfzig Stunden gemeinnütziger Arbeit verdonnert, abzuleisten im Rahmen eines Musikprogramms für die Insassen des Knasts in Carstairs. Er konnte zwar weder Noten lesen noch anderen das Spielen eines Instruments beibringen, aber es schien allen Beteiligten eine akzeptable, wenn auch etwas naive Form der Strafe zu sein.

Der Motorcycle Boy verbrachte Anfang 1984 viel Zeit mit seiner Therapeutin, die für die Sitzungen stets in das Haus der Familie in Caprington kommen musste.

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Max rauchte während des Fluges eine Zigarette nach der anderen. Die Luft im hinteren Teil der Kabine mochte trübe und rauchverhangen sein, die Vision im Kopf von Max Mojo jedoch war kristallklar. Was die Band brauchte, war mehr Öffentlichkeit. Sie brauchte ein Event. Max landete genau zu dem Zeitpunkt in London, als Arthur Scargill, der Präsident der Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers, die sporadischen Ausstände in verschiedenen Zechen zu einem landesweiten Streik erklärte. Während Max mit der U-Bahn durch die Hauptstadt fuhr, schrien ihm die Titelseiten unzähliger Evening Standards das Wort »STRIKE!« entgegen. Je nach Perspektive des Lesers war das entweder ein Vorbote des Untergangs oder ein Ruf zu den Waffen. Max verstand es in erster Linie als Absichtserklärung. Er war auf dem Weg zu Rough Trade in der Ladbroke Grove, wo er, wie er optimistischerweise annahm, Geoff Travis treffen würde. Am U-Bahnhof Notting Hill Gate stieg er aus. Er lief die pulsierende und farbenfrohe Portobello Road hinauf und fantasierte dabei über eine Tour durch die am stärksten vom Streik betroffenen Städte. Die Miraculous Vespas würden eine Protestband werden und einen Prozentsatz der Einnahmen von ihrer nächsten Single an die Familien streikender Bergarbeiter spenden. Als Finale der Tour schwebte ihm ein riesiger Open-Air-Gig in Ayrshire vor. Er lief unter dem Westway entlang, den schon Joe Strummer besungen und der The Jam als Kulisse für das Coverfoto von This Is the Modern World gedient hatte. Auf den Pfaden dieser Legenden zu wandeln, inspirierte Max. Das Benefizkonzert für die streikenden Bergarbeiter würde mindestens so bedeutend werden wie die Show von The Clash für »Rock against Racism« im Victoria Park. Es würde die Miraculous Vespas als eine Band mit Herz und einem sozialen Bewusstsein etablieren. Außerdem könnten die Vespas als Headliner spielen, da Max Mojo der Geldgeber und Organisator des Festivals wäre. Sein Gehirn explodierte förmlich vor Ideen. Alle Größen der schottischen Musikszene könnten dabei sein – Simple Minds, Orange Juice, Aztec Camera, Lloyd Cole and the Commotions, The Bluebells. Zudem wäre das Festival auch eine Plattform für die neueren Bands: Friends Again, Fairground Attraction, The Trashcans … Ganz sicher würden sie alle für eine sehr geringe Gage auftreten, immerhin hatten sie mit diesem Festival die Chance, Thatcher und ihrem neuen Schoßhündchen Ian MacGregor, dem Chef der Kohlebehörde, öffentlichkeitswirksam den Stinkefinger entgegenzustrecken. Er würde es Louder in Loudoun nennen. Mit einem Mal kam ihm seine London-Reise wie eine unnötige Ablenkung vor.

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Grant Delgado parkte den Wagen an den Toren zu einem Komplex in der Nähe des Old Crookston Castle, südlich von Glasgow, der wie ein altes Schulgebäude im viktorianischen Stil aussah. Er starrte zur Spitze eines imposanten Uhrenturms hinauf, der einem Ausrufezeichen gleich aus den Gebäuden des weitläufigen College-Campus vor ihm herausragte. Grant nahm an, dass Maggie für einen Abschluss der Open University studierte und ihre heimlichen Besuche in dieser Einrichtung mit Prüfungen, Registrierungen, Kursarbeiten oder Ähnlichem zu tun hatten. Während Max und die anderen sich sehr wahrscheinlich lustig darüber gemacht hätten, konnte Grant einfach nicht verstehen, warum Maggie meinte, ihm nichts von ihrem Hunger nach Wissen und Bildung erzählen zu können. Er machte sich auf den Heimweg und war zufrieden mit dem Ergebnis seiner Nachforschungen: Ihre geheimen Aktivitäten gaben keinen Anlass zur Sorge. Als der Wagen vom Parkplatz rollte, erblickte Grant ein Schild, das er zuvor nicht bemerkt hatte. Darauf stand: PSYCHIATRISCHE KLINIK LEVERNDALE.

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Simon Sylvester hatte nichts erwartet, aber inzwischen fand er Gefallen an den Besuchen im Gefängnis. Er war Teil einer noch jungen Initiative zur Rehabilitierung von Gefängnisinsassen durch Musik. Sicher, anfänglich zwang ihn das Gerichtsurteil zur Teilnahme, mittlerweile ging er jedoch gern. Simon versprach seinen Schützlingen sogar, nach Veröffentlichung der ersten LP der Vespas mit der gesamten Band zurückzukommen und im Stil von Johnny Cash ein kostenloses Konzert für die Insassen zu spielen. Durch seine Arbeit im Gefängnis bekam Simon Sylvester einen Einblick in ein Schicksal, das unter geringfügig anderen Umständen sicherlich auch das seine hätte sein können. Die Miraculous Vespas hatten ihm einen anderen Weg eröffnet. Zuerst hatte er die Sache mit der Band nicht ernst genommen, in der Zwischenzeit jedoch war ihm bewusst geworden, dass er dankbar sein musste und eine Schuld zu begleichen hatte. Und so setzte er sich auf seine vier Buchstaben und lernte – erst Klavierspielen, dann Gitarre für Fortgeschrittene. Als sein gerichtlich verordneter Sozialdienst zu Ende ging, hatte er zehn wissbegierigen Kids die komplette Sound Affects-LP von The Jam beigebracht.

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Eddie Sylvester – oder Motorcycle Boy, wie ihn alle außer seiner Therapeutin nannten – erging es weniger gut. Im Rahmen seiner Therapiesitzungen sollte geklärt werden, ob er tatsächlich unter Agoraphobie litt oder ein anderes, noch zu bestimmendes Problem für seinen Zustand verantwortlich war. Sein kindliches Verhalten bei Erwähnung des Namens seiner Mutter deutete darauf hin, dass er das ein Jahrzehnt zuvor erlittene Trauma nicht verarbeitet hatte. Wie sich herausstellte, litt Eddie Sylvester unter einer psychischen Störung, bei der er ständig auf die Anerkennung anderer angewiesen war. Er hatte keine Agoraphobie im eigentlichen Sinne, funktionierte in größeren Menschenmengen jedoch nur noch, wenn er die Personen in seiner Umgebung ausblendete und sich auf seine tote Mutter als die oberste Instanz für all seine Handlungen fixierte. Sein Vater wurde informiert, dass extremes Lampenfieber der ursprüngliche Auslöser für seinen gegenwärtigen Zustand war. Eddies Therapeutin war jedoch nicht der Meinung, dass der Junge Auftritte mit der Band meiden sollte. Er bräuchte die Band als eine Art Ventil, sagte sie. Gleichzeitig müsste er sich aber auch öffnen und mehr über seine Gefühle in Bezug auf den Verlust seiner Mutter sprechen. Eddies Vater hatte eine ähnliche Bewältigungsstrategie wie sein Sohn gewählt und die Erinnerungen an seine Ehefrau einfach verdrängt. Am Tag des Unfalls hatte er mit ihr über das Thema Rasenmähen gestritten. Nun musste er mit der schrecklichen Schuld seiner letzten an sie gerichteten Worte leben – einer Beleidigung, die sie veranlasst hatte, hinauszugehen und die Arbeit zu erledigen, die eigentlich zu seinen Aufgaben gehört hatte. Jetzt über dieses Thema zu sprechen, würde für ihn genauso schwierig sein wie für seinen Sohn. Und so lag es an Simon und seinem erst kürzlich entdeckten Mitgefühl für andere, den überbordenden Schmerz in dem gebrochenen Herzen seines Bruders zu lindern und ihm zu helfen, in einer Welt voller verständnisloser und voreingenommener Menschen so normal wie eben möglich zu funktionieren.

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Grant Delgados Gesicht brannte von dem Treffer, den Maggie in selbigem gelandet hatte. Er hatte versucht, sie auf beiläufige, aber sensible Art nach den Besuchen in dem psychiatrischen Krankenhaus zu fragen, jedoch dabei offensichtlich nicht die richtigen Worte gefunden. Nun warf sie ihm vor, ihr nachzuspionieren und ihre Individualität zu ersticken. Sie war außer sich vor Wut, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihre Entrüstung auszuhalten. Grant war beschämt darüber, dass er ihr gefolgt war. Als er zu erklären versuchte, dass er es aus aufrichtiger Liebe und Sorge heraus getan hatte, klangen seine Worte jämmerlich, kontrollierend und verzweifelt. Bevor Maggie ihn anschrie, dass sie ihm nun nicht mehr vertrauen könne und die Beziehung zu Ende sei, informierte sie ihn mit knappen Worten über den Hintergrund ihrer Besuche in dem Krankenhaus. Sie war nach Leverndale gefahren, um ihre Mutter zu besuchen, ihre leibliche Mutter, die sie nach langer Suche und Jahren der Ungewissheit, ob sie überhaupt noch lebte, endlich gefunden hatte. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr war Maggie Abernethy in einer Pflegefamilie in Shortlees aufgewachsen. Es war die erste Familie gewesen, in der sie sich wohl und zugehörig gefühlt hatte. In den zwölf Jahren davor hatte sie bei acht verschiedenen Familien gelebt, sieben Mal den Wohnort und die Schule wechseln müssen. Keine langfristigen Freundschaften. Keine konventionellen Beziehungen. Irgendwann hatte sie damit begonnen, den Leuten Geschichten über ihre Eltern aufzutischen, alle detailreich, alle erfunden. Darüber, wie sich die beiden kennengelernt hatten und wie ungewöhnlich ihr ethnischer Background war. Es war ein Schutzschild. Bindungsängste und fehlendes zwischenmenschliches Vertrauen. Es war ungeheuer schwierig für Maggie, sich in der Gegenwart anderer zu entspannen, und noch schwieriger, sich geliebt zu fühlen. Vom ersten Blickkontakt an hatte sie bei Grant das Gefühl gehabt, dass es anders sein, dass sie etwas anderes mit ihm empfinden könnte. So etwas wie Sicherheit. Irgendwann hätte sie ihm bestimmt von ihrer psychotischen Mutter erzählt, aber dazu musste sie selbst erst mal alles verarbeiten. Und jetzt war er ihr nachgeschlichen und hatte alles kaputtgemacht, der bescheuerte, egoistische Wichser.

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Max Mojo fühlte sich wie der King. Die beiden gut dreißig Zentimeter langen Lines, die er sich in der winzigen Toilette der Boeing 737 reinpfiff, hatten den Grundstein gelegt. Mittlerweile durchflutete ihn jedoch eine natürliche Euphorie. London war die großartigste Stadt des Planeten. Es war Sinatras New York, Bowies Berlin und The Blue Niles Tinseltown – alles in einem. Er hatte sich sogar vorgenommen, noch einmal in die Bar in Soho zu gehen, wo die Kerle miteinander rummachten. Die Sache mit Morrison Hardwicke allerdings war reine Zeitverschwendung gewesen. Wie zu erwarten hatte der sich nämlich nicht daran erinnern können, im Vorjahr mit Max telefoniert zu haben. Dummerweise hatte Max die Losung von Boy George vergessen und konnte Hardwicke die Abfuhr deshalb nicht allzu übelnehmen. Er hatte die Telefonnummer des Managers in sein kleines schwarzes Buch geschrieben, nicht aber die Parole. Das spielte allerdings keine Rolle mehr, denn Max Mojo träumte mittlerweile davon, unabhängig von anderen Akteuren im Musikgeschäft Erfolg zu haben. Er würde es selbst machen und mit Biscuit Tin Records triumphieren. Die Majorlabel konnten ihn alle mal kreuzweise. Do it yourself, verdammt. Der personifizierte Punk-Spirit.

Geoff Travis war sehr entgegenkommend. Er mochte die Platte und bot an, die restlichen Exemplare der Erstpressung zu verkaufen. Er machte auch Andeutungen hinsichtlich eines umfassenderen Vertriebsdeals für zukünftige Veröffentlichungen. Max behielt vier Singles von dem Stapel, den er mit nach London gebracht hatte, und ließ den Rest bei Rough Trade. Er fuhr mit der Tube zurück nach Oxford Circus und marschierte dann zielstrebig zum Broadcasting House, dem Hauptquartier der BBC. Er war viel zu früh dran, um John Peel auf dessen Weg zur Arbeit abzupassen, aber Geoff Travis hatte ihm von der neuen Single der Smiths erzählt und wie er das allmächtige Playlist-Komitee von Radio 1 dazu gebracht hatte, der Scheibe ordentlich Airplay zu verschaffen. Dieses »Komitee« war erst kürzlich in den Nachrichten gewesen, nachdem der Radio-1-DJ Mike Read den Song »Relax« von Frankie Goes To Hollywood aus den Playlisten des Senders verbannt hatte. Max hatte bis dato nichts von der Existenz eines derartigen Komitees geahnt. Jetzt war er jedoch im Bilde, und dank Geoff Travis wusste er auch, wo es seinen Sitz hatte.

Am BBC-Gebäude angekommen, bezahlte Max Mojo den Fensterputzern fünfzig Kröten, damit sie ihn in ihre Gondel steigen ließen und an der zur Portland Street gewandten Seite des Gebäudes nach oben fuhren. Im anvisierten fünften Stock standen vier Fenster offen, durch die Max Mojo jeweils eine Vespas-Single in die dahinterliegenden Büros warf. Einer dieser Räume musste der des Playlist-Komitees sein.

Unterm Strich war es ein – in jeder Hinsicht – großartiger Trip gewesen.