KAPITEL 36

2. Oktober 1983

Max Mojo war unsicher, was er vom Angebot seines Vaters halten sollte. Es war aus dem Nichts gekommen, und beinahe glaubte Max, dass Washer hellseherische Fähigkeiten besaß. Wie Darlinda vom Daily Record. Washer hatte über Investitionen in Biscuit Tin Records gesprochen, noch bevor Max die Fakten auf den Tisch legen und erklären konnte, dass sie unaufhaltsam auf die Pleite zusteuerten. Washers Angebot – eine Art Vorschuss auf zukünftige Plattenverkäufe – betrug fünfzigtausend Pfund. Angesichts der finsteren Mienen, die Max Tag für Tag in den Gesichtern der arbeitssuchenden Männer am Pfarrhaus sah, war er anfänglich ziemlich überrascht, dass Washer eine derartige Summe überhaupt lockermachen konnte.

Washer erklärte ihm die Investition mit allerlei buchhalterischen Fachbegriffen, die Max jedoch nicht verstand. Unterm Strich war sein Vater nun der neue Sugardaddy der Miraculous Vespas. Max behielt seine Position als Manager der Band und hatte weiterhin volle Kontrolle über alle musikbezogenen Entscheidungen. Er musste lediglich Washer und Gerry Ghee alle zwei Wochen über die geplanten Ausgaben informieren. Das reichte Max, in seinen Augen war das ein guter Deal. Zudem hatte er jetzt eine Antwort auf Grants besorgte Frage, wohin denn nun die Reise ihrer Band gehen würde. Sie lautete: zuerst einmal in die Shabby Road Studios am Glencairn Square, um mit dem Studiobesitzer, dem exzentrischen Plattenproduzenten Clifford X. Raymonde, ein Demo aufzunehmen.

Unter der Schirmherrschaft des Studiochefs mit dem aufgebauschten Haar entwickelte sich zu dieser Zeit eine Art Live-Bandwettbewerb in Kilmarnock, bei dem wöchentlich sehr unterschiedliche Gruppen auftraten. So spielten Penetration, So What!, Nyah Fearties und The Graffiti Brothers bei gut besuchten Gigs in Locations wie The Sandrianne, The Broomhill Hotel oder – wie es die Miraculous Vespas gerade getan hatten – in der Hunting Lodge. Die etablierteren Bands bekamen manchmal sogar die Chance, in der Grand Hall zu spielen, dem Theater von Kilmarnock. Da es 1973 in dieser Location bei einem Konzert der Gruppe Sweet zu legendären Ausschreitungen gekommen war, die unter anderem in deren Song »Ballroom Blitz« verewigt wurden, war der Stadtrat vorsichtig geworden und ließ nur noch selten Konzerte an diesem Ort zu. Für Max stand die Grand Hall ganz oben auf der Liste der kurzfristigen Ziele der Band. In Bezug auf das Label sah sein gegenwärtiger Plan vor, zunächst eine kleine kultige Operationsbasis für weitere Aktivitäten zu schaffen. Postcard Records hatte nach wie vor einen großen Einfluss, aber es war das einzige schottische Label da draußen. Zudem waren Orange Juice mittlerweile nach London gezogen und hatten bei Polydor Records angeheuert, womit die Zukunft der Plattenfirma aus Glasgow eher unsicher war. Max Mojo sah das vorhandene Potenzial. Vielleicht würde er die weniger auf Heavy Metal ausgerichteten Gruppen unter den Lokalbands rekrutieren und zu einem Teil seiner Musikrevolution machen. Und vielleicht würde eine Labelphilosophie à la Tamla Motown, angepasst auf East Ayrshire natürlich, irgendwann in der Lage sein, die Aufmerksamkeit der Musikinteressierten von Glasgow in Richtung Südwesten zu lenken. Die Möglichkeiten schienen unendlich. Eines der größten Probleme war allerdings das Fehlen einer echten Szene, die das Label unterstützen konnte. Die für die Band in Frage kommenden Veranstaltungsorte der Gegend hatten eine eigene Identität und dadurch eine feste Klientel. Die unzähligen Lokalbands, von denen viele ebenfalls in den Shabby Road Studios aufnahmen, versuchten zwar, in den ihnen vertrauten Revieren zu bleiben, mussten aber alle irgendwann einmal den Schritt hinaus wagen und auf fremdem Territorium spielen. Der Angstgegner unter den Locations für Max Mojos Band war das Sandrianne. Im späten September hatte die Band im Rahmen einer einwöchigen Tour alle wichtigen Konzertorte in Kilmarnock abgeklappert. Nur der Gig im Sandrianne stand noch aus.

Das Sandrianne in der John Finnie Street war einstmals das erste seriöse Theater der Stadt gewesen. Als The Opera House bekannt, hatte es einige gute Jahre ungewöhnlich großer Beliebtheit genossen, bevor die Gäste irgendwann begannen, ihr kulturelles Amüsement an anderen Orten zu suchen. In der Zwischenzeit hatte sich das Sandrianne eher als Biker-Pub einen Namen gemacht und zog die härteren unter den lokalen Rockbands an. Eine Gruppe, die sich nach einem unter Mods beliebten Motorroller benannte, musste schon verdammt mirakulös sein, um dort punkten zu können. Dem wachsenden Selbstbewusstsein der Band und ihrem musikalischen Können sei Dank, waren toughere Auftritte wie der im Sandrianne nicht mehr die mit krampfenden Schließmuskeln einhergehende Tortur, die sie noch vor wenigen Wochen gewesen sein mochten. Ende September 1983, als das Konzert im Sandrianne anstand, hatten die Miraculous Vespas bereits zweiundzwanzig Gigs gespielt – darunter einen in einer Glasgower Studentenvertretung namens Queen Margaret Union als Support der Band Bourgie Bourgie. Das Konzert selbst war großartig gewesen. Dummerweise hatte Max anschließend die Gage der Vespas sowie den an diesem Tag mitgeführten Teil der Bandkasse in einem Trinkwettbewerb mit dem Headliner verzockt.

Am Tag des Gigs im Sandrianne trug Grant Delgado Leder. Maggie ebenso, auch wenn sich das Leder in ihrem Fall auf einen BH beschränkte. Sein Integralhelm und das Biker-Image machten den Motorcycle Boy schon zum Publikumsliebling, bevor er auch nur eine einzige Note gespielt hatte. Simon Sylvester hingegen machte keine Zugeständnisse an Veranstaltungsort oder Publikum und kam in seinen Alltagsklamotten. Den von seinem Manager empfohlenen, eher unkonventionellen Kleidungsstil lehnte Simon mittlerweile ab und trug stattdessen einen rot-schwarz gestreiften Pullover im Dennis the Menace-Stil und zerschlissene blaue Levi’s. Rein optisch war Max Mojo die Hauptattraktion: hellbraune Doc Martens, rote Hose, ein weites weißes Hemd, graue Nadelstreifenweste. Dazu die schwarze Augenklappe plus Melone und neuer Gehstock. Die Anschaffung des Gehstocks hatte Max seinem Kumpel Grant gegenüber mit einem Verweis auf die lebensrettenden Qualitäten des Vorgängers gerechtfertigt. Der angestrebte Vibe: Clockwork Orange mit Crosshouse-Kante. Auch das Set der Band war auf das Pub-likum zugeschnitten. Grant führte die Vespas durch Coverversionen von »Paranoid«, »Purple Haze« und Led Zeppelins »Ramble On«, allesamt angepasst an den harmoniereichen, gefühlvollen Stil der Band und ihren flirrend obertonlastigen Gitarrensound. »The First Picture« erklang in einer härteren Version, aber die dem Stück zugrundeliegende melodische Anmut blieb erhalten. Auch wenn die Band nicht derart enthusiastische Publikumsreaktionen erntete wie in ihren Stammrevieren, beispielsweise der Hunting Lodge, so ließ sich der Abend im Sandrianne unterm Strich doch als amtlicher Erfolg verbuchen. Leider versaute Max alles, als er am Ende des Konzerts auf dem Weg zu Jimmy Stevensons Kleinbus über seinen Gehstock stolperte und in ein Motorrad fiel. Es kippte um und löste bei den dahinterstehenden Maschinen, die parallel zueinander in einer langen Reihe am Straßenrand parkten, einen Dominoeffekt aus. Kurz darauf lagen alle Bikes am Boden. Das in Denim und Leder gekleidete Publikum des Sandrianne jagte den Kleinbus bis zu den Viaduktbögen der Eisenbahnstrecke. Als die Band entkommen war, verfasste Max Mojo eine mentale Notiz, dass die John Finnie Street von nun an unter allen Umständen zu meiden war.

* * *

»Halli-hallo, was haben wir denn hier?« Clifford X. Raymonde trat ein paar Schritte zurück, um einen besseren Blick auf die vier Bandmitglieder werfen zu können. Dabei war der Mann, der diese Frage stellte, selbst eine recht sonderbare Mischung. Seine Haut war so dunkel und ledrig, dass sie gut und gerne mit Teeröl hätte bestrichen sein können, sein Haar so lang wie das von Barry Gibb und ebenso fluffig frisiert, und sein sorgsam getrimmter Stoppelbart hatte was von Captain Black aus der TV-Serie The Mysterons. Er trug eine dieser an John Lennon erinnernden Omabrillen, allerdings mit zwei unterschiedlich gefärbten Gläsern. »Hilft mir, die Farbe deiner Seele zu erkennen«, erklärte er Maggie später. Ein lilafarbenes Hemd mit Paisleymuster, die Ärmel einmal hochgeschlagen, ein blaues Halstuch und eine beigefarbene Cordhose mit Knieflicken aus braunem Leder vervollständigten das Ensemble. Schuhe trug er keine, stattdessen hielt er sich an Sandie Shaw und ging barfuß. Am kleinen Finger der rechten Hand prangte ein gut zweieinhalb Zentimeter langer Fingernagel. Auch wenn viele Elemente seines Looks um den Titel »eindrucksvollstes Detail« wetteiferten, konnten sie nicht mit seinen Zähnen mithalten. Die waren einfach grauenhaft. Wenn er lächelte, was er eigentlich ständig tat, bekam man es mit der Angst, denn sein Gebiss sah aus wie der Hof einer Männerhaftanstalt nach einem amtlichen Gefängnisaufstand. Die Studioeinrichtung spiegelte den wirren Geschmack ihres Besitzers wider. An die Wände der Aufnahmeräume hatte er Teppichmusterfliesen genagelt, an denen Schimmelpilzsporen nach oben kletterten, und Maggie meinte, eine davonhuschende Kakerlake gesehen zu haben, als der Studioboss den Lichtschalter im »Lagerraum« betätigte, um eine blank von der Decke hängende Glühbirne zum Leuchten zu bringen.

»Hmm … schöne Wangenknochen. Das Haar könnte vielleicht eine oder zwei Waves vertragen. Aber der Look gefällt mir, mein Hübscher. Sehr markant«, sagte der Studiobesitzer in reichlich affektiertem Ton zu Grant Delgado. »Und wen haben wir da unter diesem, ähm … Helm?« Max Mojo drängelte sich nach vorn. »Wow! Eine Augenklappe … schmuckes Gimmick, Kleiner. Was spielst du für ein Instrument?«

»Ich bin der scheiß Manager. Und ganz nebenbei … die vier brauchen keine Modetipps.« Er musterte den Produzenten einige Male von Kopf bis Fuß. »Was die brauchen, sind ’n paar gottverdammte Aufnahmen!«

»Na, du bist aber wirklich ein ganz helles Kerlchen, was?«, sagte Clifford. »Ich bin übrigens Clifford X. Raymonde, aber die Leute nennen mich meist nur X-Ray … oder auch einfach nur X, wenn wir uns erst mal ein bisschen besser kennen, okay?«

Die Band nickte. Max Mojo spitzte die Lippen und sagte nach einigem Zögern »Aye. In Ordnung.«

Max war der Situation nicht gewachsen. Er hatte keine Ahnung von den Abläufen in einem Aufnahmestudio, aber er konnte es weder sich selbst eingestehen noch den anderen oder X-Ray gegenüber. Dem erfahrenen Studiobesitzer war diese Tatsache keinesfalls entgangen, und er hatte vor, diese Schwäche zu seinem Vorteil auszunutzen. Er hörte sich die Eigenkompositionen der Vespas an und gab sich unbeeindruckt. In Wirklichkeit jedoch hatte er etwas ganz Besonderes in ihnen entdeckt, und der taktische Teil seines Gehirns arbeitete auf Hochtouren.

»Okay, Leute«, sagte er. »Bringt euer Equipment rein und kommt erst mal an. Mein Assistent Colum wird euch dabei helfen.« X-Ray griff sich das sehr wahrscheinlich schmuddeligste, zerfleddertste Buch, das Max je gesehen hatte. Es besaß einen hellblauen Einband, auf der von unzähligen Klebebandstreifen zusammengehaltenen Vorderseite war die Songschreiber-Ikone Tony Hatch abgebildet. Das Buch war Max schon beim Betreten des Studios ins Auge gefallen, hauptsächlich wegen seines Titels: So You Want To Be in the Music Business. »Ich zieh mich mal eben in mein Büro zurück. Wir sehen uns«, sagte X-Ray. Dann zwinkerte er Max zu und ging zu einer Tür, auf der das Wort »Thronraum« gekritzelt stand.

»Scheiße, Mann, wie lang wird’n das dauern?«, fragte Max.

»Oh, ich lass mir eigentlich immer Zeit dabei. Um das Erlebnis richtig zu genießen, verstehst du? Manchmal bleib ich auch einfach sitzen und warte auf den nächsten Schiss.«

»Verdammt, Max …«, flüsterte Grant. »Wie viel wird denn das alles kosten? Bezahlen wir den alten Hippie pro Song oder pro Stunde?« Grant klang ungewöhnlich nervös.

»Hauptsache, wir bezahlen ihn nich pro Schiss«, warf Simon Sylvester ein.

»Hört mal zu. Baut einfach euer Zeug auf und lasst uns loslegen, in Ordnung? Über die Kohle braucht ihr euch keine Gedanken machen. Darum kümmer ich mich. Ich will einfach nur ’n paar anständige Aufnahmen von hier mitnehmen«, sagte Max und hielt dabei den Motorcycle Boy am Arm fest, damit dieser nicht über eine am Boden stehende Topfpflanze stolperte.

Trotz seines bizarren Äußeren genoss Clifford X. Raymonde einen ausgezeichneten Ruf, wenn es darum ging, die verborgenen Qualitäten in den Aufnahmen der Bands herauszuarbeiten, die den Weg in die Shabby Road Studios – diese Ansammlung von vermüllten Zimmern in einer ausgebauten, hinter einem China-Restaurant versteckten Parterrewohnung – gefunden hatten. Alles begann in den Siebzigern, als Clifford das Wohnzimmer seines damaligen Apartments umbaute, um sich dort ein Studio mit Vierspur-Tonbandmaschine einzurichten. In jenem Jahrzehnt spielte er in vielen verschiedenen Bluesbands, die zwar nie landesweit erfolgreich, in ihrer Heimat jedoch sehr angesehen waren. Anschließend verfolgte er sein Interesse an Sound und Tonaufnahmen weiter und wandte die Einkünfte aus der Musik dafür auf, erst die Wohnung zu kaufen und sie anschließend zu einem Studio auszubauen und mit grundlegendem Recording-Equipment auszustatten. Sein Spaß am Experimentieren – sowohl mit Klang als auch mit Drogen – machte ihn zu einer festen Adresse in der lokalen Musikszene, sicherte ihm aber auch die Aufmerksamkeit der örtlichen Drogenfahndung.

Max Mojo spazierte durch die sechs kleinen Räume, die zu den mittlerweile erweiterten Shabby Road Studios gehörten. X-Ray mochte ein bizarrer Kauz sein, schien jedoch den Respekt der Unterhaltungsbranche zu genießen. An den Studiowänden des fünfundfünfzigjährigen Produzenten hingen signierte Fotos von DJ und Moderator Jimmy Savile, Plattenproduzent Mickie Most, Bluesrockgott Alexis Korner und – sonderbarerweise – auch von STVs Kinderprogrammmoderator Glen Michael. Überall lagen Plattencover herum, und obwohl sich seine Assistentin Rhona, finanziert durch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Youth Opportunity Scheme, alle Mühe gab, schien das Studio in einem ewig währenden Zustand des Chaos gefangen. Max wusste, dass in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe akzeptabler Bands hier aufgenommen hatten. Hairy Doug zum Beispiel hatte ihm von Aztec Camera erzählt, die Gerüchten zufolge im Vorjahr in den Shabby Road Studios aufgenommen und dabei so viel Geld ausgegeben hatten, dass sie den Rückweg nach East Kilbride per Anhalter antreten mussten.

* * *

Am Ende des ersten Tages war X-Ray klargeworden, dass die willkürlichen Ausbrüche und nutzlosen Ratschläge des Managers die bandinternen Spannungen unnötig verschärften. Obwohl Max ständig gestört hatte, war dem erfahrenen Studioboss etwas ganz und gar Bemerkenswertes an der Band aufgefallen, als die vier sich mit spontanen Jams aufgewärmt hatten. Irgendwann im Laufe des Tages schlug Max vor, eine Hammond-Orgel ins Studio zu bringen, um den Refrain von einem der Songs etwas »aufzumotzen«. Er ging sogar so weit, den Fußgängerweg vor dem China-Restaurant absperren zu wollen, damit ein kleiner Kran die Orgel durch die Fenster der Wohnung hieven konnte. Als er dann X-Ray eine krakelige Strichzeichnung unter die Nase hielt, die ihm verdeutlichen sollte, welche Fenster wie demontiert werden müssten, um die Orgel in das Studio heben zu können, hatte der Produzent endgültig die Nase voll und erteilte Max Studioverbot.

Als Max aus dem Weg war, machte sich X-Ray an die Arbeit. Als Erstes legte er für jedes Bandmitglied eine Line Koks auf seinem Holzschreibtisch parat. Die vier standen in einer Reihe vor X-Ray und wirkten wie ein paar Kamikazepiloten, die nach Monaten der spirituellen Vorbereitung ihre finale Mission antreten.

»Das wird euch entspannen. Los, zieht’s euch rein!«, sagte X-Ray Raymonde. Wie zu erwarten folgte Simon Sylvester der Einladung als Erster. Er zog eine zuvor von Max stibitzte Zehn-Pfund-Note aus der Tasche, drückte sie glatt und schaufelte mithilfe seiner rechten Handkante das feine weiße Pulver auf den Geldschein. Verwirrt sah X-Ray zu, wie Simon seinen Kopf in den Nacken legte und sich das Pulver vom Geldschein in die Nase rieseln ließ.

»Was für ’ne Scheeeeeeeiße, Mann!«, fluchte Simon, als er mit einem weißen Pulverschnurrbart über der Lippe ein paar Schritte zurückwankte und zu würgen begann.

»Das Zeug muss man schniefen … glaub ich zumindest«, sagte Grant und blickte auf der Suche nach Bestätigung für seine These zu X-Ray. Der nickte, und sofort machten sich Grant und Maggie über ihre Lines her. Dann schauten alle den Motorcycle Boy an. Dieser nahm den Geldschein, beugte sich nach vorn, öffnete das Visier, schniefte seine Line und hustete. Dann klappte er das Helmvisier wieder runter. Die anderen lachten, als der Gitarrist sich schüttelte und kurz darauf den Daumen in die Höhe streckte wie ein gesichtsloser Paul McCartney.

»Wow, was für ein komischer Kauz«, sagte X-Ray.

»Die richtig heftigen Sachen weißt du noch gar nich«, erwiderte Grant. »Der Junge hat sich ’ne Aggrophobie von ’nem Hypnotiseur eingefangen. Wir mussten das Innere von seinem Helm anmalen, damit’s wie sein Zimmer aussieht.«

»Wie bitte? Wenn du jetzt schon so ein Zeug erzählst, muss das ja wirklich astreiner Schnee sein«, sagte X-Ray und löffelte seine Line mit seinem langen und extra für diesen Zweck stehen gelassenen Fingernagel von der Tischplatte. »So … und jetzt ist es an der Zeit für ein bisschen Magie!«

Eine Stunde später sprangen die Miraculous Vespas wie die Irren zu den Klängen von New Orders »Blue Monday« durch die Studioräume. Colum Grabbe, der junge Tonassistent des Studios, hatte das Stück aufgelegt und den Regler bis zum Anschlag hochgedreht. Es folgte »Love Song« von den Simple Minds, und dieses Mal mischte sich auch X-Ray unter die Tanzwütigen.

»Na, könnt ihr es fühlen?«, schrie X-Ray. »Ist es schon in euch?«

»Ich will in dir sein!«, brüllte Grant Maggie ins Ohr. Sie nahm seine Hand und zog ihn in Richtung des improvisierten »Büros« von X-Ray. Der Studioboss lächelte wissend, als er die beiden hinter der Tür verschwinden sah.

Maggie hatte schon oft Dope geraucht, aber wie für die anderen auch war dies ihre erste Erfahrung mit Kokain. Mit raschen Bewegungen setzte sie sich auf Grants Schwanz und überstreckte den Rücken so weit ins Hohlkreuz, bis sie mit den Armen an den Boden des Spülkastens reichte. Auf diese Weise hatte sie das wundervolle Gefühl, komplett ausgefüllt zu werden, als Grant so tief er konnte in sie eindrang, und spürte dann das gleichermaßen herrliche Reiben, als er seinen Schwanz wieder herauszog. Sie wünschte sich, dass es nie enden und Grant sie ewig ausfüllen würde. Grant seinerseits hatte das Gefühl, tatsächlich ewig so weitermachen zu können. Noch nie zuvor hatte er einen derart heftigen Energieschub gespürt. Es war unglaublich intensiv. Grant kam vor Maggie, stieß aber, sobald er seinen Rhythmus wiedergefunden hatte, weiter in sie hinein. Kurz darauf erreichte auch Maggie diesen Zustand der Euphorie.

»Verdammt, ich liebe dich!«, keuchte sie.

»Und ich liebe die ganze scheiß Welt!«, brüllte er.

Grant hatte keine Ahnung, wie lang sie auf der Toilette waren. Es hätten Stunden sein können oder sogar Tage. Tatsächlich waren fünfundvierzig Minuten verstrichen. Als sie wieder rauskamen, hämmerte der Motorcycle Boy auf den Drums herum, als wäre er Keith Moon, und Simon Sylvester lag auf dem Rücken und trällerte »What a Wonderful World« in ein Mikro.

»Okay, da wir uns jetzt alle etwas entspannt haben, können wir loslegen, oder?«, sagte X-Ray. Grant fragte sich, ob der Studioboss all seine Kunden mit einem derart persönlichen Service verwöhnte, und glaubte, langsam eine Vorstellung davon zu bekommen, warum das Studio Shabby Road hieß.

Den Rest des Nachmittags und den Großteil des nächsten Tages experimentierte X-Ray Raymonde mit der Band und den vier Songs, die sie aufnehmen wollten. Er war äußerst beeindruckt von »The First Picture«, hatte jedoch das Gefühl, dass im Sound der Band etwas fehlte. Er ahnte, dass dieser Umstand für Probleme mit dem Teenage-Impresario sorgen könnte, wenn dieser wie vereinbart am Donnerstag wieder ins Studio käme. Doch X-Ray wusste, was er tat. Er war fest entschlossen, sich die zweitausend Pfund zu verdienen, die er, auf die realistische Gefahr einer Absage hin, riskanterweise verlangt hatte. Er benutzte die volle Kapazität seines Achtspurgeräts, um als Erstes die Tracks der Rhythmussektion einzeln aufzunehmen. Das war sein Modus Operandi: Für das Fundament der Songs nahm er die verschiedenen Instrumente auf separaten Spuren auf, eins nach dem anderen. Er wies die leicht reizbare Maggie an, das Schlagzeug im Aufnahmeraum aufzubauen, und stöpselte Simon Sylvesters Bassgitarre direkt in das Mischpult des Achtspurgeräts ein, um später für den einen oder anderen Song mit einem Reggae-Feeling experimentieren zu können. Da er ahnte, dass Max bei seiner Rückkehr etwas ungehalten sein würde, beschloss er, ihn zu besänftigen, indem er der Rhythmussektion auf einer Begleitspur noch eine Orgel hinzufügte.

Der Aufnahmeprozess war unheimlich inspirierend für Grant. Er stand direkt neben X-Ray und ließ sich erklären, wie die verschiedenen Schlagzeugspuren zu einer Spur konsolidiert wurden, um damit Platz für die Overdubs zu schaffen.

Grant nahm seine Gesangsparts mehrmals und auf unterschiedliche Weise auf: im Stehen, in der Hocke, auf der Toilette und auf dem Rücken liegend, wie Simon und Marvin Gaye es schon vor ihm getan hatten. Der gewiefte Produzent ließ sämtliche Signale durch seine selbst gebauten Equalizer und Kompressoren laufen, bevor sie in seinem Achtspurgerät auf ein Viertelzoll-Tonband gebannt wurden. Als alles im Kasten war, schnitt X-Ray die verschiedenen Songteile aus dem Band heraus, mischte sie einzeln ab und klebte anschließend das Tonband wieder per Hand zusammen.

Mit seinem Fachwissen hatte sich der Studiobesitzer Grants Vertrauen erarbeitet und setzte nun zum Angriff an. Zuvor, als Max und die Band davon ausgegangen waren, er würde den Guinness-Weltrekord für den längsten Schiss aller Zeiten knacken wollen, hatte sich X-Ray in Wirklichkeit nur auf die Toilette verzogen, um in aller Eile einen Musikverlagsvertrag für Grant aufzusetzen. Als Vertragspartner fungierte ein Tochterunternehmen des Studios namens Mondo Bongo Publishing, und der Vertrag sah vor, dass Grant gegen Zahlung eines Vorschusses zukünftig fünfundsechzig Prozent aller anfallenden Songwriting-Tantiemen selbst erhalten, den Rest aber an Mondo Bongo abtreten würde. Nachdem Clifford X. Raymonde ihm die Sache unter vier Augen erklärt hatte, schien Grant der Vertrag ein extrem guter Deal zu sein. Max war noch nicht wieder ins Studio zurückgekehrt, und so nutzte X-Ray die Gunst der Stunde, um Grant davon zu überzeugen, dass dieser Musikverlagsvertrag nur für ihn allein galt, da er schließlich derjenige war, der momentan und sehr wahrscheinlich auch in Zukunft alle Songs der Band schrieb. Was er dem Vespas-Sänger jedoch nicht en détail erklärte, war einerseits der Ablauf der Tantiemenauszahlung und andererseits die Tatsache, dass sich Grant – weil er das Kleingedruckte nicht komplett gelesen hatte – mit seiner Unterschrift einverstanden erklärte, die Rechte an seinen Songs auf Dauer an Mondo Bongo abzutreten. Grant bestand X-Ray gegenüber auf einer Aufsplittung seines Anteils nach folgendem Muster: fünfundachtzig Prozent für ihn und jeweils fünf Prozent für die anderen Bandmitglieder. Seiner Meinung nach war das nur fair. Anfänglich wollte er auch Max diese fünf Prozent zugestehen, aber X-Ray überredete ihn, es nicht zu tun. Max würde schon nicht schlecht abschneiden. Dafür wollte X-Ray selbst sorgen, indem er ihm mit dem Label half. X-Ray stimmte der von Grant gewünschten Aufsplittung zu, stellte aber heraus, dass diese Regelung höchst ungewöhnlich war, und bestand darauf, dass Grant vorerst Stillschweigen über die Vertragsbedingungen bewahrte. Der Vorschuss betrug zehntausend Pfund für Grant und jeweils eintausend Pfund für die anderen Bandmitglieder. Die Auszahlung an die anderen sollte jedoch erst nach Aufnahme und Produktion der ersten Single erfolgen.

* * *

Nach drei langen und überaus anregenden Tagen waren »The First Picture« und ein neuer Song namens »Take It, It’s Yours« auf Tape gebannt. Die anderen beiden Stücke wurden vorerst zurückgestellt, aber X-Ray Raymonde hatte bereits Pläne für sie. »The First Picture« war ein musikalischer Türöffner für die Miraculous Vespas, und sowohl die Band als auch ihr leidenschaftlicher Manager waren verständlicherweise stolz auf dieses Stück. Grant wusste, dass es ein guter Song war. Und die anderen wussten es auch.

»Hat mir wirklich Spaß gemacht, Max«, sagte X-Ray. »Und wegen unserem holprigen Start … Schwamm drüber, oder?«

»Also, ich war schon ’n bisschen sauer, muss ich dir ganz ehrlich sagen. Hab echt überlegt, nochmal zurückzukommen und dir den scheiß Laden abzufackeln!«, gab er mit ernster Miene zu.

X-Ray lachte lauthals los.

Max Mojo konnte nicht verstehen, warum.

»Pass auf, Max«, sagte er, nachdem die anderen gegangen waren. »Ich denke, du hast da was ganz Besonderes mit dieser Band an der Hand. Grant ist ein großartiger, feinsinniger Sänger, und seine Songs sind einfach wundervoll.«

Max stimmte mit einem Nicken zu. »Aye … und?«

X-Ray lachte erneut, dieses Mal über das Gebaren, das er für jugendliche Geringschätzung gegenüber den Erfahrungen der Älteren hielt. Aber das war nichts Neues für ihn. Er hatte ein Alter erreicht, in dem er dieses Verhalten sogar fast schon charmant und liebenswert fand. »Mach einen Vertrag mit ihm. Binde ihn. Und dann lass uns eine richtige Platte machen«, sagte er.

Max überlegte.

»Wenn du aus der Veröffentlichung einer Independent-Platte eine gewinnbringende Angelegenheit machen kannst, dann gibt es nach oben keine Grenzen, Junge. Jeder, der eine Platte rausbringen kann, kann auch ein Label aus dem Boden stampfen. Produzier das Ding selbst, verkauf es selbst … und vergiss die ganzen Zwischenhändler. So sicherst du dir den kompletten Gewinn!«

»Wen interessiert schon die scheiß Kohle?«, sagte Max. »Wir machen das nich, weil wir uns mit der Knete ’n sorgenfreies Leben machen wollen!«

»Ja, so denkst du jetzt, Max … aber warte nur, bis du siehst, wer sich das Geld einsteckt, wenn du nicht zugreifst.«

»Wir haben ja noch nich mal ’nen Plattenvertrag«, sagte Max, als wäre dieser Umstand nicht allen Beteiligten bestens bekannt.

»Du verstehst mich nicht, Kumpel. Ich sage: Bring die Platte selbst raus. Du hast mir doch erzählt, dass dein Dad die ganze Chose finanziert. Biscuit Tin Records, hast du gesagt. Also los, Junge … ran an die Buletten. Man lebt nur einmal.«

Erstaunlicherweise wollte Max Mojo darauf nichts Schlaues einfallen. Seine Gedanken überschlugen sich.

»Es geht nicht darum, ob du die Aufnahme, die Produktion oder den Vertrieb stemmen kannst. Jeder Trottel mit einer akzeptablen Erbschaft kriegt das hin … es geht um eine Geisteshaltung, die es braucht, eine Einstellung, verstehst du? Und die Frage ist, ob du sie hast«, stichelte X-Ray.

Max sprang sofort auf die Herausforderung an. Fieberhaft nickte er mit dem Kopf. Es waren keine weiteren Worte mehr nötig. Sie besiegelten die Sache mit einem Handschlag. Auch wenn er Postcard Records bewunderte, hatte Max vor diesem Gespräch noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, Gigs, Aufnahmen, Promotion und all diese Dinge selbst zu finanzieren. Zumindest musste er auf diese Weise nicht so oft wie geplant nach London reisen. Bald schon würden sie eine Dubplate haben und mit diesem acetatbeschichteten Unikat ihre Songs einflussreichen Leuten vorstellen können. Und dann, so hatte Max beschlossen, würde er seinen Sänger dazu verdonnern, noch einmal mit ihm in den Süden zu fahren, um Grants Connections zu Morrison Hardwicke und Boy George spielen zu lassen. Und da diese Reise voraussichtlich erst im nächsten Jahr stattfand, konnten sie sich in der Zwischenzeit auf den Vertrieb konzentrieren und versuchen, die Platte bei Radio 1 unterzubringen. Max dachte auch über ein erneutes Treffen mit Billy Sloan nach, das aber dieses Mal definitiv bei McDonald’s stattfinden würde.

Sie wussten es beide nicht, aber Clifford X. Raymonde und Max Mojo hielten nun den Schlüssel zur Unsterblichkeit in ihren Händen. Jetzt kam es darauf an, die richtige Tür zu finden.