KAPITEL 47
September 1984
Das Telefon stand nicht mehr still. Molly Wishart war kurz davor, durchzudrehen. Zeitungen, Musikjournalisten und die A&R-Leute zahlloser Plattenfirmen aus London wollten alle unbedingt und sofort mit Max sprechen. Dank der anerkennenden Worte von Boy George hatte es »It’s a Miracle (Thank You)« in die unteren Regionen der landesweiten Charts geschafft. Von der Qualität der neuen Songs überzeugt, hatte X-Ray Raymonde eine Doppel-A-Seiten-Single mit »Beautiful Mess« auf der Flipside gepresst, in deren Auslaufrille Max den Sinnspruch »We are nothing, and yet we are everything!« verewigen ließ. X-Ray hatte Grants Gesang sehr weit nach vorn gemischt und eine Version in einer ungewöhnlich hohen Tonlage für die Platte benutzt. Beim ersten Durchlauf nahm Max fälschlicherweise an, dass Maggie bei diesem Mix gesungen hatte.
Die von Rough Trades Vertriebsarm Cartel belieferten Plattenläden orderten große Stückzahlen, und Biscuit Tin Records hatte alle Hände voll zu tun, um sämtliche Anfragen bedienen zu können. X-Ray Raymonde kümmerte sich um die Bestellungen beim Presswerk und hatte zudem noch dafür zu sorgen, dass im Oktober komplett abgemischte LP-Aufnahmen vorlagen. Für das Design des Albumcovers hatte Max sogar den gefeierten Künstler Peter Blake angefragt, den Mann hinter dem legendären Artwork von Sergeant Pepper. »Er denkt drüber nach«, hatte Max stolz auf der letzten Gesellschafterversammlung verkündet.
Trotz all der positiven Ereignisse waren in letzter Zeit wieder Spannungen zwischen Max und Grant zu Tage getreten. Ein alkoholisierter X-Ray Raymonde hatte Max gegenüber Details des Musikverlagsvertrags ausgeplaudert, den er mit dem Vespas-Sänger geschlossen hatte. Max hatte den Songwriter nicht darauf angesprochen, diesen Schachzug aber umgehend erwidert, indem er im Namen der Band einen Plattenvertrag mit seinem eigenen Label Biscuit Tin Records unterzeichnete. Auch wenn die prozentuale Verteilung der Tantiemen fair und vernünftig geregelt war, galt Grant die ganze Angelegenheit als ein weiteres Beispiel dafür, wie der Bandmanager im Alleingang Entscheidungen fällte, die sie alle betrafen. Nach Beschwerden der anderen Bandmitglieder legten die Streithähne ihre Differenzen vorerst bei.
Die Single erhielt mehr und mehr Aufmerksamkeit und fuhr jede Menge Kritikerlob ein. Mit Ausnahme von Grant Delgado schien die Band diese Entwicklung relativ locker zu nehmen. Sie spielten eine Reihe von Gigs in verschiedenen Plattenläden, und selbst der in seiner eigenen Welt lebende Motorcycle Boy schien den Rummel zu genießen. Max hatte sogar eine ziemlich bizarre Lizenzanfrage bekommen, bei der es um die Herstellung einer Actionfigur nach dem Vorbild des Motorcycle Boy ging. Ob es sich dabei um ein ernsthaftes Angebot handelte, musste er erst noch herausfinden.
Mitte September dann gingen die Vespas durch die Decke. Die Platte schnellte achtundvierzig Chartpositionen nach oben und landete auf Platz vier der UK-Hitparade. Max war sprachlos: Niemand verstand, wie das passiert war. Biscuit Tin Records verfügte nicht über Horden von A&R-Leuten, die in London herumflitzten, die Musikredakteure der Radiosender bearbeiteten und die Angestellten in den HMV-Läden schmierten, damit diese die Strichcodes manipulierten. Es war wirklich erstaunlich. Die Independent-Platte einer lediglich regional bekannten Band, billig aufgenommen, irgendwo am Arsch der Welt, verkaufte mehr Einheiten als die aktuellen Singles von David Bowie, George Michael und Shakin’ Stevens zusammen.
In den zwei Stunden nach Bekanntgabe der Charts hatte das Telefon im Pfarrhaus mehr als fünfzig Mal geklingelt. Der Großteil der Anrufe stammte von Gratulanten, einige andere von Plattenfirmen und einer von der BBC, die The Miraculous Vespas für einen Auftritt bei Top of the Pops am folgenden Donnerstag buchen wollte. Grant konnte es nicht fassen. Es schien wie eine surreale Folge von Jim’ll Fix It, nur dass er sich nicht daran erinnern konnte, jemals einen Brief mit einem Wunsch an die Sendung geschrieben zu haben. Die Miraculous Vespas trafen sich kurz nach zehn Uhr abends im Gemeindesaal. Am Anfang sprach keiner von ihnen. Aber als sie sich dann hinsetzten, brachen alle fünf – sogar Grant – in ungläubiges Gelächter aus.
Sie hockten auf der Bühne, stießen mit Bier an und spielten die eine oder andere Vinylscheibe auf dem tragbaren Plattenspieler ab, der mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Einrichtung geworden war. Max lächelte zufrieden, und ein Gefühl der Genugtuung breitete sich in seinem Inneren aus.
Grant war auch happy, schwieg allerdings. Er war sich nicht sicher, ob es jemals wieder so gut sein würde.
Eine Stunde später kreuzte X-Ray Raymonde auf. Er gesellte sich zu der Band und erzählte Geschichten von berühmten Combos und deren Tourabenteuern. Max vermutete, dass die meisten davon erfunden waren.
»Mit den Smiths wird sich für die Indieszene alles ändern. Demnächst wird man ihre Platten im Boots oder im gottverdammten RS McColl kriegen«, sagte X-Ray.
»Aye … früher oder später verkaufen sie sich alle«, meinte Simon Sylvester. Er schleuderte eine »This Charming Man«-Single durch den Saal, als würde er am Irvine Beach Frisbee spielen. Die Platte knallte gegen die Wand und zerbrach in mehrere Stücke.
»Das war ’ne beschissen limitierte Auflage, du Penner!«, schrie Max. »Das gibt ’ne Strafe. Eine Woche kein Gehalt.«
»Kannst ruhig noch ’n paar kaputt kloppen, Simon«, sagte Grant. »Fang am besten mit dieser bekackten Queen-Platte an … ich zahl auch dafür.«
Simon entschuldigte sich und argumentierte, er habe nicht gewusst, dass sich die Platte tatsächlich in der Hülle befand. Angesichts der Masse an coverlosem Vinyl, das auf der Bühne herumlag, war es eine akzeptable, wenn auch unwahrscheinliche Ausrede. Max beließ es dabei. Er besaß vier Exemplare der Smiths-Single. Für den Fall der Fälle.
* * *
Auch Washer Wishart hatte sich die Charts angehört. Er wusste, dass die Aufmerksamkeit für die Band jetzt ins Unvorstellbare steigen und schon bald die massive Gestalt von Gregor Gidney an die Tür der Wisharts führen würde. Washer hatte den Verdacht, dass der Anstieg fremder Gesichter in den Pubs der Gegend mit dem hartgesottenen Muskelberg aus Glasgow zu tun hatte. Gidney, dessen war sich Washer sicher, wusste sehr viel mehr über das plötzliche Verschwinden von Benny Donald, als er zugab. Kürzlich war Frankie Fusi zu Washer gekommen und hatte auf einem Vieraugengespräch mit Gregor Gidney bestanden. Washer war nicht wohl bei der Sache, aber sein alter Freund wollte in diesem Fall kein Nein akzeptieren. Beide wussten, dass die Konfrontation mit den McLartys unmittelbar bevorstand. Don McAllister würde noch Wochen brauchen, um endlich zuzuschlagen, und Washer war sich nicht sicher, ob sie so lange durchhalten würden.
Tatsache war, dass Washer Wishart nicht alle Konsequenzen bedacht hatte, als er die McLartys um den Lohn ihrer illegalen Machenschaften erleichterte. Benny Donalds Vermisstenstatus bewies nun zumindest die Herkunft des Geldes. Der Junge tat Washer leid, sicher, aber sein Dilemma hatte Benny größtenteils selbst verschuldet. Wenn es hart auf hart kam, konnte Washer immer noch abstreiten, jemals Geld von Benny erhalten zu haben. So sah es zumindest der Plan von Don McAllister vor. Es brauchte allerdings unumstößliche Beweise, damit die vereinten Kräfte der örtlichen Polizei handeln und das Syndikat der McLartys hochnehmen konnten. Ein Corpus Delicti und/oder ein glaubwürdiger Zeuge mit Insiderwissen und genug Mumm, um vor Gericht auszusagen, fehlten der Staatsanwaltschaft leider nach wie vor.
* * *
Während eines Anrufs von der Sun erfuhr Max, dass, basierend auf den Verkaufszahlen des Wochenanfangs, »It’s a Miracle (Thank You)« sehr wahrscheinlich auf Platz eins der Charts steigen würde. Max wurde informiert, dass ein DJ von Radio 1 die Single zu seiner Platte der Woche erkoren hatte. In einer Zeit von heftigen Arbeitskämpfen und IRA-Anschlagsserien hatte der DJ »die fröhliche und optimistische Grundstimmung der Platte« gelobt, die doch »so hervorragend zum aktuellen Anlass passt«. Alle Welt, so erzählte man Max, hatte dieser Tage den Song der Vespas auf den Lippen. Wiederholt wurde er nach seiner Einstellung zur Königsfamilie gefragt. Waren alle in der Band Anhänger des Königshauses? Oder nur Grant Delgado? Max Mojo war einigermaßen überrascht, aber da er momentan ohnehin mit allerlei merkwürdigen Anfragen bombardiert wurde, schienen ihm diese Fragen nicht komplett abwegig. Als Sprecher der Band hatte er bereits die unmöglichsten Fragen beantworten müssen: Wie sah es mit der sexuellen Orientierung der Bandmitglieder aus? Und wie mit seiner eigenen? War Maggie eine illegale Immigrantin? War der Motorcycle Boy ein Außerirdischer? Fragen nach seinen Gedanken zum Nachwuchs in der Königsfamilie erschienen vergleichsweise logisch. Max Mojo kam allerdings nicht darauf, dass »It’s a Miracle (Thank You)« fälschlicherweise als Lied über und für Prince Harry, das neugeborene Baby der Royals, interpretiert wurde. Radio-1-Moderator Mike Read hatte live auf Sendung sogar das Wort »Boy« in den Text eingebaut und über den eigentlichen Refrain gesungen. Unabhängig von seinem tatsächlichen Hintergrund passte der Song damit in den unionistisch geprägten Freudentaumel um die Königsfamilie und traf nicht zuletzt den Nerv der konservativen Hörerschaft. Folglich ließ er die Band als Royalisten dastehen. Max war verwirrt, aber euphorisch. Er hoffte, dass Grant die ganze Sache erst nach dem Auftritt bei Top of the Pops kapieren würde.
Die Miraculous Vespas sollten am Donnerstag zur Mittagszeit in den BBC Studios in Shepherd’s Bush eintreffen. Nach einem kompletten Probedurchlauf sollte dann am Abend live gesendet werden.
Inzwischen versuchte Max Mojo, Zeit für die Organisation des Benefizgigs zugunsten der Bergarbeiter zu finden und, was vielleicht noch wichtiger war, einen Abstecher in die Shabby Road Studios zu machen, um sich das Band mit den LP-Aufnahmen anzuhören.
* * *
»Wie geht’s, Frankie? Is ’ne ganze Weile her, was?«, sagte Gregor Gidney.
»Aye, mein Junge, könnte man sagen.« Die Formulierung »mein Junge« war eigenartig. Frankie Fusi war einige Jahre jünger als Gregor Gidney.
Beide wussten, dass ihr kurzfristig verabredetes Treffen in Gewalt enden würde. Die Gelassenheit des anfänglichen Smalltalks war eine Vorbereitung auf den Tanz, der ihnen bevorstand.
»’Nen Drink?«
»Whisky … kein Eis«, sagte Frankie.
»Cheers«, sagte Gregor, als er Frankie das Glas reichte. »Wär besser, wir hätten dieses Treffen vermeiden können, was?«
»Ich musste dich persönlich sprechen. Hat kein Weg dran vorbeigeführt«, sagte Frankie gelassen.
»Wenn Typen wie wir sich unterhalten müssen … auf diese Weise, also von Angesicht zu Angesicht … gibt’s meistens nichts mehr zu bereden«, sagte Gregor Gidney.
»Manchmal is man einfach auf Kollisionskurs, wie diese kleinen Scalextric-Autos. Man merkt, dass man zu schnell unterwegs is, hat aber den Drücker nich mehr in der Hand. Verstehste, was ich mein?«
»Aye. Versteh ich«, sagte Gregor. Er stand auf und schob den Glastisch in der Mitte des Zimmers zur Seite. Frankie Fusi erhob sich ebenfalls und zog seine Jacke aus. Dann standen sie sich gegenüber – zwei massive Blöcke, hartgesottene Männer mittleren Alters. Italiener. Schotte.
Und es hieß: Ring frei!
* * *
Fünfundvierzig Minuten später trat einer der Männer aus der Tür des Mehrfamilienhauses im Süden von Glasgow. Er war übel zugerichtet: ein zugeschwollenes Auge, ein ausgeschlagener Zahn, eine Stichverletzung in der Seite. Trotzdem war er in besserer Verfassung als sein Gegner. Frankie war nach Howwood gefahren, und er stand noch. Ein etwas glücklicher Uppercut, geführt von einer beschlagringten rechten Faust, hatte den Kiefer seines Kontrahenten zertrümmert. Besser so, denn Gregor Gidney hatte den anfänglich fairen Faustkampf durch den Einsatz eines Messers vorzeitig beenden wollen. Die Stichwunde war nichts Ernstes, musste aber genäht werden. Frankie humpelte die Straße entlang, bis sein verschwommener Blick eine Telefonzelle ausmachte. Die Chance, dass sie funktionieren würde, war gering, aber er hatte Glück, dieses Mal zumindest. Er wählte eine Nummer. Es klingelte sechs Mal. Dann die Antwort:
»Ich höre.«
»Washer, ich bin’s …«
»Alles klar bei dir?«
»Aye, mir geht’s gut. Die Fotze hatte ’ne Klinge, aber is nur ’n Kratzer. Haste jemanden an der Hand, der mir das nähen kann?«
»Aye. Komm wieder runter, ich kümmer mich drum«, sagte Washer.
»Hör zu, ich hab ’nen Stapel Postkarten vom alten McLarty gefunden. Ich glaube, die sind hinter deinem Jungen her!«
»Is der Endspurt vorm großen Finale, Kumpel. In ’ner Woche oder so ist’s vorbei. McAllisters Truppe braucht nur noch eine Sache, dann haben sie den Alten am Arsch und können ihn hochnehmen.« Washer Wishart kritzelte etwas auf einen Zettel. Was für ein Glück, dass Max und die Band am folgenden Tag Richtung England aufbrachen. Max hatte diverse Angebote für Grant Delgado angenommen: einerseits ein Shooting für das Teenie-Magazin Smash Hits, andererseits eine bizarre Fotoabenteuerstory für die Zeitschrift Look-in, bei der auch der »Freund der Band« Boy George mitwirken sollte. Diese Termine – und weitere Anfragen für Interviews und In-Store-Gigs – würden dafür sorgen, dass Max und die Band fern der Heimat waren, unterwegs, mindestens bis Mitte kommender Woche. Washer konnte seinen Sohn nicht in die tatsächlichen Hintergründe der für ihn bestehenden Bedrohung einweihen. Und so musste vorerst ein zusammengeflickter Frankie Fusi als Schutzschild herhalten.