KAPITEL 34
2. August 1983
Wullie der Maler war kein schlauer Mann im konventionellen Sinn. Er hatte keinerlei Schulzeugnisse, keine Aus- oder Weiterbildungsdiplome und war 1972 sogar durch die Fahrradprüfung gefallen. Nein, Wullie war nicht intelligent, dafür mit allen Wassern gewaschen und mit Straßenschläue gesegnet. Zudem war er überzeugt, ein ausgetüfteltes Komplott entdeckt zu haben, in dem er dummerweise nur ein Bauer war. Wullie hatte viel Columbo geschaut. Dieser abgerissene kleine Wichskopp löst echt jeden Fall und braucht noch nich mal ’ne Stunde dafür, erklärte er Des Brick, bevor er seine Theorie zu der von ihm entdeckten Verschwörung darlegte. Sicher, Wullie selbst hatte ein bisschen länger gebraucht, aber der TV-Detektiv mit dem Exhibitionisten-Trenchcoat zählte ja auch auf jahrelange Erfahrung … und auf ein Team von Drehbuchautoren, wie Des anmerkte. Im Vergleich dazu war Wullie der Maler natürlich ein Anfänger.
»Recht haste, Des. Pass auf, ich erklär dir, wie’s läuft«, sagte Wullie. Bevor er seine Version präsentierte, erläuterte er kurz seine Recherchemethode – persönliche Treffen und detaillierte Gespräche mit Terry Connolly, Benny Donald und Ged McClure. Die Unterhaltung mit Letzterem hatte mit einem Kopfstoß geendet und Wullie zwei blaue Augen eingebracht.
»Was zum Henker is’n mit dir passiert?«, hatte Des Brick später beim Anblick von Wullies Gesicht gefragt und dem Maler damit eine Steilvorlage für dessen theoretischen Exkurs geliefert. Über seine Rolle als Don McAllisters bezahlter Undercover-Informant bewahrte Wullie jedoch Stillschweigen. Gewisse Einzelheiten, davon war er überzeugt, behielt man besser für sich.
»Also: Connolly lässt oben in Onthank die Eiscremewagen durch die Gegend fahren. Und das läuft absolut spitzenmäßig. Du würdest es nich glauben, Des! Diese Eiscremewagen sind nur ’ne Fassade, um allen möglichen illegalen Scheiß zu verticken.«
»Verdammt, Wullie … das is ja wohl kaum ’ne wirkliche Neuigkeit, oder?«, sagte Des.
»Aye, aber er bezieht den Stoff von den beschissenen McLartys, und der Fatman schert sich ’nen Dreck drum! Das kapier ich einfach nich«, sagte Wullie. »Und Connolly spricht ganz offen drüber, sogar mit mir. Scheiße, Mann, ich schieb hin und wieder sogar selber ’ne Schicht in den Eiscremewagen.«
»Na ja, dann versteh ich nich, was dein Problem is. Du profitierst doch davon, nich wahr? Bisschen spät fürn moralisches Dilemma, oder?«
»Darum geht’s nich, Des«, sagte Wullie. Es kostete ihn einige Anstrengung, seine Tarnung aufrechtzuerhalten und sich nicht zu verplappern. Dass seine Arbeit in den Eiscremewagen im Grunde von der örtlichen Polizei beauftragt und bezahlt wurde, sollte Des dann doch nicht wissen. »Die ganze Angelegenheit is viel komplexer, als du denkst. Dieser McClure von Quinns Stinktiermob, der bekommt die Shore-Pakete von diesem Rummelboxer Gregor aus Glasgow. Connolly sorgt für den Vertrieb, und dreimal darfste raten, wer die Kohle wäscht … richtig, dieser Wichser von den Wisharts, Benny Donald drüben in Crosshouse.« Wullie der Maler holte tief Luft. »Das is ’ne voll durchorganisierte Nummer, und keiner von den drei Großen rührt auch nur ’nen beschissenen Finger deswegen«, sagte Wullie. Er konnte spüren, wie sein Blutdruck anstieg. Des Brick wirkte gleichgültig. Wullie wusste natürlich, dass Des gerade mit allerlei persönlichen Problemen zu kämpfen hatte. Dennoch war er ziemlich überrascht von dessen Gleichgültigkeit.
»Pass auf, Wullie. Ich hab keine Ahnung, was ich dir dazu sagen soll. Wenn du dir Gedanken um deine Sicherheit machst …«, Des deutete auf Wullies Veilchen, »… dann zieh dich zurück. Ich hab’s auch gemacht. Is nich wirklich schwierig. Versuch einfach, ’nen richtigen Job zu finden.« Kaum hatte er sie ausgesprochen, merkte Des, wie verrückt sich seine Worte anhörten.
»Um mich mit drei Millionen anderen um nich vorhandene Jobs zu prügeln?! Scheiße, Des … is nich gerade so, als könnt ich ’nen Ordner voll mit Empfehlungsschreiben ausm Ärmel schütteln.«
Die Unterhaltung verlief nicht so, wie Wullie der Maler es sich vorgestellt hatte. Er hatte Des Brick als Mentor gesehen, als jemanden, zu dem er aufblicken konnte. Jetzt empfand er eigentlich nur noch Mitleid für ihn. Des war zu einem Schatten des Mannes geworden, der er vor einem Jahr noch gewesen war. Effie Brick würde nach dem Jahreswechsel nicht mehr viel Zeit bleiben. Die Pflege, die sie erhielt, hatte in erster Linie palliativen Charakter. Dennoch war sie, nach allem, was man so hörte, gut gelaunt und fröhlich. Des hingegen sah aus, als hätte er bereits aufgegeben. Die Belastungen hatten ihn schrecklich altern lassen. Sein Haar war dünn und grau geworden. Die Stufen in seinem Fassonschnitt waren ein klares Indiz dafür, dass er zu Auld Joe ging – einem achtzigjährigen Alleskönner, der Fenster putzte und sich gelegentlich als Friseur verdingte. Ein »Auld-Joe-Schnitt« galt in Onthank als ultimatives Zeichen ernsthafter finanzieller Schwierigkeiten. Ganze Familien liefen mit diesem Haarschnitt herum, sogar die Frauen. Des war ausgemergelt und blass. Seine Jacke hing an ihm herunter, als wäre sie zwei Nummern zu groß für ihn. Im Grunde war Des derjenige, der so aussah, als würde er an Krebs zugrunde gehen.
»Tut mir leid, Wullie. Ich bin ausgestiegen. War ’ne gute Zeit, aber Franny hat jetzt selber ’nen Haufen Probleme. Gut möglich, dass seine Zeit gekommen is. Weißt ja, Kumpel, nichts währt ewig.«
»Aye. Verstehe, Des. Nur noch eine Sache, wenn’s dir nix ausmacht«, sagte Wullie.
»Klar doch, Kumpel, schieß los.«
»Wenn die McLartys wieder herkommen und hier Geschäfte machen, versteh ich nich, warum sich die Bullen nich auf die Sache stürzen.« Wullie hatte das Gefühl, die Antwort bereits zu kennen – wenn nicht sogar die kompletten Hintergründe. Aber er musste wissen, ob auch Des im Bilde war.
»Keine Ahnung, Wullie. Ich weiß nur, dass die Fotzköppe in Uniform ihre eigenen Arschlöcher nich mal mit ’nem Bullshit-Detektor finden würden. Warum sonst is nie jemand von uns ins Kittchen gewandert? Mag simpel klingen, aber ich denk, das is die Antwort.«
Nach diesem Gedankenaustausch wünschte Des Brick seinem ehemaligen Kollegen alles Gute, und der Maler machte sich ohne große Worte oder Anteilsbekundung auf den Weg. Wullie empfand zwar aufrichtiges Mitleid für Des und natürlich auch für dessen Frau und den Rest der Familie, aber er konnte es nicht entsprechend ausdrücken. Gut gemeinte Worte glitten bei ihm stets in Sarkasmus ab oder waren von zynischem Humor durchzogen. Er war sich im Klaren darüber, dass sich besorgte Worte aus seinem Mund gekünstelt angehört hätten, und deshalb beschloss Wullie der Maler, Des Brick nicht noch einmal aufzusuchen.
Sein nächster Schritt bestand in einem Treffen mit Charlie Lawson, um diesem seine Beobachtungen mitzuteilen. Er vermutete jedoch, dass sein Bericht den Polizeibeamten nicht wirklich überraschen würde und dass man ihn, Wullie den Maler, in Bezug auf die eigentliche Story weiterhin im Dunkeln tappen ließ. Wenn diese Story erst mal auf die große Leinwand kam, das wusste Wullie, musste er höllisch aufpassen, nicht im Licht der für die Hauptdarsteller reservierten Scheinwerfer zu stehen.