KAPITEL 10

22. November 1982

»Des?« Fat Franny war einigermaßen überrascht, seinen Kollegen in der Eingangstür der Ponderosie zu erblicken. »Scheiße, Mann, was treibst’n du hier? Wir sind für Freitag verabredet, Des. Heute is Montag.«

»Es is deine Mum, Franny.« Des sah blass aus.

Fat Franny glitt die Milchflasche aus der Hand. Sie knallte auf die oberste Treppenstufe. Er schob sich an Des Brick vorbei in die Wohnung.

»Mum!«, rief er und rannte zum Wohnzimmer. Ihre Hausschuhe lagen auf dem Boden, und im Fernsehen lief Neighbours, aber seine Mutter war nicht zu sehen. Auch in der Küche, in der ein eigenartig riechender Qualm waberte, war sie nicht. Gefolgt von Des Brick jagte Fat Franny die Treppe hinauf. Oben fand er endlich seine Mutter Rose, schlafend in ihrem Zimmer. Des Brick hatte sie beschwichtigt und dann ins Bett gebracht.

»Was zum Henker war hier los?«, wollte Fat Franny wissen.

»Boss, ähm, ich bin nur rumgekommen, um ’ne Nachricht zu überbringen. Die Eingangstür stand offen, also bin ich rein.«

»Aye, und weiter? Spuck’s endlich aus, verdammte Scheiße!«

»Na ja … also deine Mum war in der Küche. Und ich hab dich gesucht, und …«

»Und was? Gott steh mir bei, Des …«

»Deine Mum hatte Salat und Joghurt in der Pfanne … und …« Des überlegte angestrengt, wie er den nächsten Informationshappen formulieren sollte, aber Fat Franny Duncan starrte ihn derart ungehalten an, dass es nur so aus ihm raussprudelte. »… sie dreht sich also rum und meint, dass sie gerade Dinner kocht … für JFK und Jackie O.« Des Brick ließ sich auf die Treppenstufe plumpsen. Die Anstrengungen dieser Enthüllung forderten ihren Tribut.

Fat Franny drehte sich um und ging wieder in das Zimmer seiner Mutter, die sich gerade im Bett bewegt hatte.

»Mum? Alles in Ordnung? Ich war nur zwei Minuten raus zum Laden. Hab dir doch gesagt, du sollst im Sessel sitzen bleiben, weißt du nicht mehr?«

»Ach, tut mir leid, mein Junge. Aber wir haben doch Gäste im Haus. Irgendjemand muss sich doch um sie kümmern.« Rose Duncan lächelte ihren Sohn an und zog ihre winzige Hand unter der Decke hervor, um seine Wange zu streicheln. »Du bist so ein guter Junge, Francis. Dein Dad wäre stolz auf dich.«

Fat Franny traten Tränen in die Augen. Rasch wischte er sie beiseite.

»Geh, Junge, und kümmer dich um die Kennedys. Ich will nich, dass sie denken, in meinem Haus gäb’s keine Gastfreundschaft.«

»Aye, mach ich gleich, Mum. Und du ruhst dich jetzt ein bisschen aus.« Fat Franny zog die Decke hoch und deckte sie sorgfältig zu. So wie sie es früher immer für ihn getan hatte.

Des Brick saß am Küchentisch, als Fat Franny die Treppe runterkam. Die Augen seines Bosses waren rot und feucht, aber Des wusste, dass er ihn besser nicht darauf ansprach.

»Geht’s ihr gut, Franny?«, fragte er.

»Aye«, sagte Fat Franny.

»Tut mir leid, Mann. Ich wollte dir vorhin keinen Schrecken einjagen.«

»Aye, ich weiß. Danke.«

»Hatte ja selbst ganz schön Schiss. Ich meine, hier war ja alles am Qualmen.«

»Aye. Pass auf, Des, ich hab’s kapiert. Danke, dass du dich gekümmert hast. Wirklich. Und jetzt mach dich vom Acker und sieh nach Effie«, sagte Fat Franny. Er war seinem Kollegen wirklich dankbar, aber er schämte sich auch, dass er seine alte Mutter ganz allein im Haus zurückgelassen hatte, wenn auch nur für eine Viertelstunde, um Milch zu holen.

»In Ordnung, Mate. Wir sehen uns später. Also später die Woche, mein ich«, sagte Des. Er stand auf und ging zur Tür. Bevor er das Haus verließ, schaute er sich noch einmal kurz um und sah, wie der Gangsterboss von Onthank mit ausdruckslosem Blick durch das Küchenfenster auf das weite Grün der Felder hinter dem Haus starrte. Des Brick ging durch die Tür, hinaus in die sich langsam über die Stadt senkende Finsternis des frischen Novemberabends.

* * *

Fat Franny saß oben, im dunklen Zimmer seiner Mutter. Er schaute zu, wie sich die Decke über ihrem kleinen Körper leicht hob und senkte. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, schien sie so stark und jederzeit bereit, ihn zu beschützen. So unsterblich. Ganz besonders an jenem Abend, als sie sich Fat Frannys besoffenem Nichtsnutz von einem Vater in den Weg stellte. Sie kassierte die Schläge und Tritte, die eigentlich für ihren Sohn gedacht waren. Später an diesem Abend vor fünfundzwanzig Jahren ging Abie Duncan noch einmal auf seinen Sohn los, dieses Mal allerdings mit einem Besenstiel bewaffnet. Wieder beschützte die Mutter ihren Sohn. Am Ende war es nur dem Einschreiten der Nachbarn zu verdanken, dass Frannys Dad seine Mutter nicht in die Notaufnahme prügelte. Vier Jahre lang durchlitten Mutter und Sohn ähnliche Angriffe, aber keine der späteren Attacken nahm Franny so sehr mit wie die an jenem Abend, am Abend seines elften Geburtstags. Am 5. September 1961, an Frannys fünfzehntem Geburtstag, hatte er schließlich genug. Franny und sein bester Freund, der ein Meter dreiundneunzig große Bob Dale, knöpften sich gemeinsam Abie Duncan vor und schlugen ihn grün und blau. Anschließend zog Franny, noch komplett außer Atem von der Prügelei, einen Zehn-Shilling-Schein hervor, den er von seiner Großmutter bekommen hatte, steckte ihn seinem Vater in die Hemdtasche und sagte seinem alten Herrn, dass er ihn totschlagen würde, sollte er ihn noch einmal sehen. Damit hatte er sich selbst einen lang gehegten Geburtstagswunsch erfüllt. Rose Duncan fragte nie, wo ihr Ehemann abgeblieben war, und weder Mutter noch Sohn erwähnten jemals wieder seinen Namen … bis zu diesem Tag.

Fat Franny fühlte sich mittlerweile vollkommen alleingelassen. Er hatte letztes Jahr ein paar schlechte Entscheidungen getroffen und sich selbst in eine einsame Ecke manövriert. Des Brick hatte einen eigenen Haufen alles verschlingender Probleme. Wullie der Maler war nur loyal, solange er keinen besseren Job angeboten bekam. Und Terry Connolly konnte man nicht einen Meter über den Weg trauen. Einzig Theresa, seine junge Freundin, genoss momentan sein Vertrauen. Sein Business hatte sich seit dem Tod von Bob Dale sprichwörtlich in Luft aufgelöst. Und genau deshalb musste diese neue Geschäftsidee mit den Videokassetten unbedingt funktionieren. Fat Franny wusste, dass er seinen Kindheitsfreund schlecht behandelt hatte. Er hatte ihn nicht nur ausgenutzt, sondern in seiner Selbstzentriertheit auch angenommen, dass Bob immer bei ihm bleiben und sich seine Schäbigkeiten bis in alle Ewigkeit gefallen lassen würde.

Paradoxerweise war es Hobnail gewesen, der die ganze Zeit über die Macht besessen hatte. Vor ihm hatten die Leute Angst gehabt, nicht vor Fat Franny. Mit seinem Tod blieben die regelmäßigen Zahlungen aus, und die von Fat Franny ausgesprochenen Drohungen galten nunmehr als heiße Luft. Die Einnahmen der kompletten Fat-Franny-Crew brachen ein. Allein Terry Connolly schien gute Geschäfte zu machen. Allerdings hatte Fat Franny mit Terry ganz bewusst einen anderen Deal als mit dem Rest abgeschlossen. Terry durfte einen sehr viel größeren Anteil seiner Einnahmen aus dem Geschäft mit den Eiscremewagen behalten, weil er dabei auch sehr viel höhere Risiken einging. Auf diese Weise sicherte Fat Franny sich das Vertrauen von Connolly.

Unter Umständen wie diesen war Zeit für gewöhnlich eine sonderbar flexible Angelegenheit. Trotzdem konnte Fat Franny nicht glauben, wie schnell es bergab gegangen war. Es kam ihm so vor, als wäre es erst ein paar Monate her, dass seine Mutter sich das erste Mal bei den Namen der Besucher geirrt hatte. Tatsächlich hatte das schon vor fünf Jahren begonnen. Anfangs waren es nur kleine Dinge gewesen, und sie beide hatten darüber gelacht und es als normale Schusseligkeit abgetan. So hatte sie saubere Teller in den Kühlschrank gestellt, war aus dem Haus gegangen, ohne die Türen zu schließen, hatte die Nummern der Buslinien vergessen, mit denen sie in die Stadt fuhr. Einmal verirrte sie sich auf dem Rückweg zur Ponderosie, und Fat Franny musste anschließend vor dem jungen Polizeibeamten katzbuckeln, der sie freundlicherweise nach Hause gebracht hatte. Das war mittlerweile zwei Jahre her. Seitdem hatte es weitere Vorfälle gegeben, die schließlich in dem Einbruch gipfelten, bei dem Fat Frannys Ersparnisse aus dem Haustresor gestohlen worden waren. Er hatte eine beachtliche Summe angespart, um seiner Mutter eine erstklassige Pflege bezahlen zu können. Jetzt allerdings konnte er nicht verhindern, dass alle naselang irgendein Idiot auftauchte und ihn stillschweigend, aber trotzdem unmissverständlich dafür verurteilte, Rose nicht schon Jahre zuvor in einem Seniorenheim untergebracht zu haben. Das Geld war futsch, seine Einnahmen waren drastisch gesunken und sanken weiter, und der geistige Verfall seiner Mutter hatte sich beschleunigt.

»Tut mir leid, Mum. Ich bin ’ne Enttäuschung. Alles geht vor die Hunde. Ich will den ganzen Scheiß nich mehr.« Fat Franny Duncan brach in Tränen aus. Seit jenem Abend 1957 hatte er nicht mehr geweint. Jetzt hatte er das Gefühl, nie mehr aufhören zu können. Seine Mutter konnte ihn nicht hören. Er saß in der Dunkelheit, fuhr sich mit der Hand durch sein von Mal zu Mal dünner werdendes Haar und über den ergrauenden Pferdeschwanz. Ein Imperium war im Begriff zu zerfallen, und wie Brando am Ende von Apocalypse Now musste sich Franny nun dem Herz seiner ganz eigenen Finsternis stellen.