Kapitel 14

FRANZ

Ich versetzte mich zurück zu dem Tag meiner Ankunft auf Dimö. In jenem Herbst herrschten extreme Witterungsverhältnisse, dichter Nebel – sogar für Dimö-Verhältnisse. Eine eiskalte, feuchte Nebelwand hatte die Insel in einen grauen Dunst gehüllt.

Als ich mit meiner Geschichte beginne, klingt meine Stimme fremd. Und das ist seltsam, denn schließlich ist alles, was ich sage, wahr. Aber ein Teil meiner Erinnerungen und meines Bewusstseins muss in den Ereignissen auf Glimmingeholm hängen geblieben sein. In der Zeit, bevor ich nach Dimö zurückgekehrt bin. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Aber die Tragödie, die sich damals ereignet hat, ist so eng mit der Zeit danach verbunden, dass ich sie kaum voneinander trennen kann. Ich muss mich zurückhalten, damit ich Thor nicht die ganze Geschichte erzähle, die er niemals erfahren darf. Und es war eine schreckliche Tragödie. Normalerweise erhole ich mich schnell von Katastrophen. Das war aber nicht dieses Mal so. Sie hat mich zu Fall gebracht. Unaufhörlich plapperte eine innere Stimme, wie ich es hätte verhindern, was ich hätte anders machen können. Hätte ich nur, hätte ich nur, hätte ich nur. Unzählige Möglichkeiten.

Ich fühlte mich wie ein wildes Tier, das von seiner Herde getrennt worden war, dazu verdammt, mir meine Wunden zu lecken und in Einsamkeit zu verenden. Die ersten Tage waren ein einziges Auf und Ab zwischen blinder Wut und totaler Gleichgültigkeit. Ich habe viel geschlafen, daran kann ich mich gut erinnern, denn tagsüber wurde ich von meinem Körper durch Flashbacks mit Adrenalin vergiftet, was mich grenzenlos erschöpfte. Aber davon wird Thor niemals erfahren. Deshalb beginnt meine Geschichte mit dem Tag, als ich mit der Fähre auf Dimö ankam und in der größten Krise meines Lebens steckte. Natürlich möchte Thor wissen, was vorgefallen ist. Ich gebe ihm die Wahrheit, allerdings mit Abwandlungen. Bis dahin hatte ich ein dekadentes, ausschweifendes Leben geführt, das mir plötzlich erschreckend sinnlos vorkam und mich anwiderte. Ich war am Ende. Außerdem hatte ich mein Studium abgebrochen und sah keine Zukunft vor mir. Kurz gesagt, ich hatte meinen inneren Kompass verloren. Zwar hatte ich unfassbar viel geerbt, aber keine Ahnung, keine Vision, was ich damit anfangen sollte.

Thor ist misstrauisch. Er kann sich seinen Vater nicht als einen gebrochenen Mann vorstellen. Das passt nicht zu dem Selbstbild, das ich ihm eingetrichtert habe. Mir geht es ganz genauso. Ich hatte mich immer auf mein Selbstbewusstsein verlassen können, als Kind, als Jugendlicher und vor allem später als spiritueller Führer. Aber an dem Tag, als ich auf Dimö an Land ging, war ich von Selbsthass und Zweifel durchdrungen.

»Dafür gibt es keine einfache Erklärung«, sage ich. »Mich holte einfach alles ein, was ich getan hatte. Alles Sinnlose, Zerstörerische. Es war, als würde ich in ein tiefes, dunkles Loch stürzen. Heute würde ich sagen, das war ein Nervenzusammenbruch. Ich hoffe, du weißt, dass du mit niemandem darüber sprechen darfst?«

Vielsagend hob Thor die Augenbrauen.

»Weil?«

»Meine gesamte Karriere als spiritueller Führer baut auf mentale Stärke und Männlichkeit auf. Das ist mein Markenzeichen. Ich bin der Mann, der auch in einem Orkan aufrecht stehen kann. Ich bin der Mann, der sich auf wundersame Weise von einer Ganzkörperlähmung erholt hat. Meine Anhänger fühlen sich von solchen Persönlichkeiten angezogen. Es kann Katastrophen und Skandale in meiner Vergangenheit geben, aber unter keinen Umständen dürfen Zeichen von Schwäche dazugehören. Franz Oswald ist kein Feigling.«

Thor sieht mich mitfühlend an. Wie ist es möglich, dass ich ein Wesen gezeugt habe, das so voller Empathie ist?

»Das verstehe ich zum Teil«, sagt er. »Aber ich möchte mehr erfahren. Alles, und zwar von Anfang an.«

»Dann lass uns hier übernachten«, schlage ich vor. »Ich hatte vorgehabt, Ende der Woche ein bisschen Zeit hier zu verbringen, deshalb gibt es ausreichend Lebensmittel. Manchmal lasse ich mir frische Sachen bringen. Der Koch organisiert das, wenn ich ihn darum bitte. Und es gibt einen See in der Nähe, wir können uns das Abendessen angeln.«

Thor kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Du hast also wirklich vor zu kochen? Das kann ich mir wirklich nicht entgehen lassen.«

Ich rufe Elyssa an und bitte sie, meinen Abendvortrag abzusagen, weil ich Zeit mit meinem Sohn verbringen möchte. Ich verspreche, dass ich den Vortrag stattdessen am Sonntag halten werde, obwohl das mein Ruhetag ist.

»Neue Gäste sind aber eingetroffen«, sagt sie. »Heißt du sie morgen willkommen?«

»Selbstverständlich.«

»Und morgen reisen zwei ab, wirst du sie auch noch verabschieden?«

»Auch das schaffe ich.«

»Darf ich fragen, wo ihr seid?«

»In der Hütte.«

»In der Hütte? Geht es dir gut? Eigentlich bist du doch nur dort, wenn du schlechte Laune hast.«

Es ist unheimlich, wie gut mich Elyssa mittlerweile kennt und was sie alles über mich weiß. Andererseits bezahle ich sie auch sehr gut dafür, meine Geheimnisse zu verwalten.

»Mir geht es hervorragend, und jetzt habe ich keine Lust mehr auf deine Fragen. Ich möchte Thor die Hütte zeigen.«

»Bis morgen«, erwidert sie trocken.

Die Hütte ist knapp dreißig Quadratmeter groß. Alles besteht aus Holz, die Wände, die Decke, der Boden. Es gibt ein kleines Wohnzimmer mit einem Kachelofen. Und eine modern ausgestattete Küche, die ich sehr viel später erst habe einbauen lassen. Als ich damals in der Hütte lebte, gab es weder Strom noch fließend Wasser, nur einen Holzofen und ein Plumpsklo. Die beiden Schlafzimmer sind so klein, dass lediglich ein Bett darin Platz hat. An diesem Ort ist nichts beeindruckend, bis auf den Geräteschuppen, den ich Thor als Nächstes zeige. Er befindet sich hinter der Hütte und ist noch genauso gut in Schuss wie am Anfang. Die Vorbesitzer müssen Handwerker gewesen sein. Darin gibt es alle Werkzeuge, die man sich vorstellen kann, sogar eine Angelrute. Und auch ein paar Waffen, die schon oft zum Einsatz gekommen sind. Die Hütte wurde mir in dem Zustand verkauft, in dem sie damals war. Und wahrscheinlich hat der Geräteschuppen den Ausschlag gegeben, sie zu kaufen. Dort würde ich mich mit körperlicher Arbeit von meinen inneren Dämonen ablenken können. Vielleicht war dieser kleine Geräteschuppen am Ende sogar meine Rettung.

An dem Tag, als ich die Hütte entdeckt hatte, war ich zuvor stundenlang durch den Nebel geirrt und hatte im Wald geschlafen. Mein einziges Gepäck war ein kleiner Rucksack mit den notwendigsten Vorräten gewesen. Die Nacht verbrachte ich auf einer mottenzerfressenen Matratze in einem knarrenden Bett, während die Mäuse über die Fußleisten huschten. Als der Morgen anbrach, hatte ich mich entschieden, wanderte ins Dorf und suchte die Erben auf. Sie konnten ihr Glück kaum fassen, als ich ihnen ein fast ungehörig hohes Angebot machte. Ich hatte nur eine einzige Bedingung: Sie durften unter keinen Umständen verraten, wer der Käufer ist. Außerdem bestand ich darauf, dass alle Gegenstände aus dem Geräteschuppen im Kaufpreis enthalten waren.

Zu dieser Zeit hatte ich keinen Kontakt zur Außenwelt, abgesehen von gelegentlichen Einkäufen in dem Dorfladen. Ich fand ein paar Handbücher für Tischler im Geräteschuppen, die ich sofort verschlang. Mit der Zeit wurde ich beim Holzhacken immer geschickter. Ich zeige Thor die Reparaturen, die ich eigenhändig durchgeführt und die Möbel, die ich angefertigt habe.

Eines Tages, es war gegen Ende Herbst, stand plötzlich ein Hund vor der Hütte und winselte. Wahrscheinlich hatten ihn verantwortungslose Sommergäste ausgesetzt. Es war ein Pointer, der zwar ziemlich mitgenommen aussah, aber innerhalb von wenigen Tagen das Rattenproblem löste und deshalb bleiben durfte. Das Tier war unterernährt, aber ansonsten ein hervorragender Begleiter und Jagdhund. Der Hund besaß noch eine weitere, besondere Eigenschaft, denn er blieb immer in der Nähe, ohne jemals aufdringlich zu sein. Er war ein lebhafter Farbtupfer in meinem sonst so eintönigen, düsteren Alltag. Er ließ sich problemlos erziehen, also gingen wir gemeinsam auf die Jagd nach Fasanen und Schneehühnern. Wir teilten uns das schmale Bett und wärmten uns gegenseitig in dem bitterkalten Winter. Aber als der Frühling kam, rannte er weg und kam nie wieder. Ich habe mir dann keinen Hund mehr zugelegt. Bestimmte Haustiere kann man einfach nicht ersetzen.

Thor hörte mir aufmerksam zu, unterbrach mich nicht, stellte keine unnötigen Fragen. Von der sonst oft angespannten Stimmung zwischen uns ist jetzt nichts zu spüren. Gegen Abend gehen wir an den See und setzen uns auf die flachen Felsen, um zu angeln. Um diese Tageszeit beißen sie am besten an. Das Wasser ist spiegelblank und voller blühender Seerosen. Die Luft vibriert vom Surren der Mücken, aber aus einem unerfindlichen Grund sind sie nicht so blutrünstig wie sonst. Libellen landen lautlos neben uns. Ich habe die Angel aus dem Schuppen mitgenommen. Thor ist skeptisch, aber ich hatte bisher immer Glück beim Angeln, und tatsächlich habe ich wenige Stunden später eine mittelgroße Forelle am Haken. In der Zwischenzeit erzähle ich Thor von den Monaten in der Hütte, in denen ich mich fast ausschließlich von dem ernährte, was mir die Natur zu bieten hatte. Ich erzähle ihm von dem erbarmungslosen Winter, der mich fast das Leben gekostet hätte. Etwas unbeholfener erwähne ich die Depression, die damals meine ständige Begleiterin war. Ich war von meinen Gefühlen überwältigt. In dem einen Augenblick hämmerte mein Herz laut und schnell, im nächsten hörte es auf zu schlagen. Am Ende spürte ich nichts mehr. Ich stürzte in ein tiefes Loch und in unendliche Dunkelheit, wo nur noch Gleichgültigkeit übrig blieb. Als hätte ich mein Leben lang die Welt durch eine trügerische Linse betrachtet, die jetzt zerstört war.

Ich beschreibe auch die Tage, an denen ich das Bett nicht verlassen konnte, nur reglos dalag und mich fragte, wie lange es dauern mag, bis man verhungert. Ich erzähle auch, wie ich aus solchen Phasen wieder aufwachte, weil ich mit den Nägeln am Bettgestell kratzte, mit jagendem Puls und flachem Atem. Es folgten autoaggressive Gedanken, meinen Kopf gegen einen Felsen zu schlagen, ich verletzte mich auch absichtlich mit dem Jagdmesser. Aber die Schnitte waren nie tief genug gegangen. Ich starrte auf die Wunden und war von der Vorstellung fasziniert, dass mein Blut aus mir herausströmte. Aber so weit ließ ich es nie kommen. Und erbärmlicherweise sind nicht einmal Narben zurückgeblieben. Die Absicht mag da gewesen sein, war aber nicht groß genug. Vielleicht hatte es auch mit dem Hund zu tun. Mit der Frage, wer sich sonst um ihn kümmern würde?

Für den, der ich geworden war, empfand ich nur Ekel und Abscheu. Manchmal sah ich morgens mein verschwommenes, bärtiges Spiegelbild im Fenster. Trotzdem klammerte ich mich daran fest, weil ich wusste, dass mit seinem Ende auch mein eigenes besiegelt wäre. Ich habe den Weg aus dieser Hölle nur durch harte, disziplinierte Arbeit gefunden. Tagsüber ging ich jagen und angeln, habe Beeren und Pilze gepflückt und bin im See geschwommen. Abends renovierte ich die Hütte. An einem besonders schönen Frühlingstag, die ersten Blätter wuchsen schon an den Bäumen, hatte ich eine Erkenntnis, eine Erleuchtung, die mein ganzes Leben verändern sollte.

»Aber darüber später«, sage ich. »Denn nun gehen wir erst mal zurück und werden aus der Forelle ein Festmahl zubereiten.«

Thor sieht mich verwundert an.

»Wie kannst du jetzt an Essen denken? Das ist doch alles unendlich traurig, Papa. Warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Warum? Damit du mich verurteilen kannst?«

»Wieso? Du bist auch nur ein Mensch. Das macht dich doch bloß menschlicher.«

»Das hast du schön gesagt. Außerdem gehört das alles der Vergangenheit an, und schließlich müssen wir ja auch was essen.«

Thor steht unentschlossen auf. Meine Geschichte hat ihn traurig gemacht. Er ist ein wirklich herzensguter Mensch. Mein Sohn. Hoffentlich wird ihn sein rechtschaffenes Verantwortungsgefühl nicht eines Tages in Gefahr bringen. Als Journalist. Am liebsten würde ich ihn davor warnen, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Meine Enthüllungen haben ihn zu sehr erschüttert.

In der Speisekammer gibt es Kartoffeln, Karotten, Rote Bete, Gurken und Zitronen. Aus dem Garten hole ich einen Bund Dill. Ich schiebe den Fisch in den Ofen und brate das Gemüse auf dem Herd, während mich Thor fasziniert beobachtet.

»Warum haben wir das noch nie gemacht, Papa? Warum hast du mich nie mit hierhergenommen?«

»Ich besitze jede Menge Immobilien, das weißt du doch. Es hat sich halt nie ergeben.«

»Ist das wirklich wahr? Aber ein Ort wie dieser

»Wahrscheinlich wollte ich ihn für mich allein haben. In der Hauptsaison wird die Hütte vermietet. Aber ab und zu, in ganz seltenen Fällen, bin ich hier, um zur Ruhe zu kommen.«

Und trotzdem stelle ich mir die Dinge vor, die wir gemeinsam hätten erleben können. Die meisten Väter hätten ihre Söhne mitgenommen, um in dieser Oase Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber ich bin nun mal nicht so.