THOR
Anfangs hatte er Probleme mit dem Einschlafen. In seinem Kopf setzte er das Puzzle aus den neuen Erkenntnissen zusammen, um Klarheit über seinen Vater zu bekommen. Sein umfangreiches Wissen über die Natur von Dimö zum Beispiel hatte er teilweise durch schmerzliche Erfahrungen gesammelt. Auch die Pedanterie bei den Lebensmitteln, die er zu sich nahm, war nicht nur auf seinen Snobismus zurückzuführen, sondern hatte bis zu einem gewissen Grad auch mit seinem Überlebenswillen zu tun. Thor hatte sich immer gefragt, warum sich Franz keinen Hund zugelegt hatte. Es wäre doch das Naheliegendste gewesen, schließlich liebte er seine Spaziergänge über die Insel. Er hatte immer angenommen, dass es an dem fehlenden Empathievermögen seines Vaters lag, sich um ein Haustier zu kümmern. Aber jetzt begriff er, dass der Verlust seines treuen Begleiters der Grund dafür war. Vor allem wurde ihm bewusst, dass sein Vater eine verletzliche Seite gehabt hatte, lang vor seinem Schlaganfall. Erstaunlicherweise war diese Erkenntnis schmerzhaft. Denn vor allem seine Stärke war die Eigenschaft, die Thor als Kind mit seinem fast zwei Meter großen Vater verbunden hatte.
Er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, bis Franz angezogen in sein Zimmer kam.
»Können wir zu Hause frühstücken?«, fragte er. »Ich habe heute noch einiges zu erledigen.«
Thor sah ihn mit verschlafenem Blick an. Wenn Franz diesen Aktionismus an den Tag legte, war Gegenwehr sinnlos.
»Klar. Ich dusche schnell und zieh mich dann an.«
Es war ein schon warmer, sonniger Tag. Er hatte sich noch nicht an das intensive Licht im Juli gewöhnt, aber an einem solchen Morgen tat die wärmende Sonne gut. Als sie aufbrachen, sah er ein letztes Mal über die Schulter und beschloss, Julia bei der ersten Gelegenheit die Hütte zu zeigen.
Kaum hatten sie den Wald betreten, verschwand die angenehme Wärme auf der Haut. Der schmale Pfad schlängelte sich auf fast unnatürliche Weise durch das Unterholz, hielt den üppigen Wald aber auf Abstand. Überall lagen Steine im Moos. In der Morgendämmerung sah die Natur fremd aus. Tautropfen hatten sich aufs Heidekraut gelegt. Die sanften Sonnenstrahlen tanzten in den Baumkronen. Hier hatten die Inselbewohner seit Jahrhunderten vor den unbarmherzigen Winden und Stürmen an der Küste Schutz gesucht.
»Du hast gestern erzählt, dass du in dieser Zeit eine wichtige Erkenntnis hattest, die dein Leben verändert hat«, sagte Thor. »Was ist das gewesen?«
Franz verlangsamte seinen Schritt und zeigte auf einen großen Felsen.
»Komm, setzen wir uns dort hin, und ich erzähle es dir. Aber wenn wir in ViaTerra sind, möchte ich nicht mehr darüber sprechen. Ich habe Gäste, um die ich mich kümmern muss, und heute Abend halte ich einen Vortrag.«
Der Stein war flach, glatt und trocken.
Franz atmete tief ein, ein Schatten zog über sein Gesicht, eine sanfte Brise strich ihnen über die Wangen.
»Etwas scheinbar Unbedeutendes hat damals mein Fundament erschüttert«, sagte er. »Wenn man in der wilden Natur ums Überleben kämpfen muss und dabei seinen Körper an seine Grenzen bringt, wird der Kopf umso klarer. Das ist eine Art animalischer Überlebensinstinkt, der einen aufmerksamer werden lässt. Man sieht die Details dann deutlicher.«
Thor forderte ihn auf fortzufahren.
»Auf einem meiner Streifzüge habe ich eine Eule gesehen, die ihren Nachwuchs vor einer Schlange beschützte. Ich konnte von einer Anhöhe aus das Nest erkennen. Das Weibchen war erbarmungslos und verjagte die Schlange aus dem Nest, während die Zweige und Federn durch die Luft flogen.«
Thor war sich unsicher, ob Franz mit dieser Geschichte nur seine Reaktion testen wollte und gleich scherzhaft sagen würde: Da wusste ich, woher der Wind weht.
»Kaum war der Kampf überstanden, war die Eule die Ruhe selbst«, fuhr Franz fort. »Und ich habe mich gefragt: Bin ich selbst die Eule? Oder bin ich die Schlange?«
Thor musste schmunzeln.
»Da hast du also entschieden, eine Eule zu werden?«, sagte er. »Aufregend.«
»Das ist eine Analogie , Thor. Das hat etwas in mir ausgelöst. Die Eule ist strebsam und ruhig, kann aber erbarmungslos werden, wenn sie ihr Revier verteidigen muss.«
»War das deine Erkenntnis, von der du gesprochen hast?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Franz. »Aber das Verhalten der Eule hat mir klargemacht, dass auch ich zwei vollkommen verschiedene Persönlichkeiten in mir habe, die ich nicht kontrollieren kann. Der eine Teil von mir wollte seit Kindesbeinen an Gutes tun. Ein anderer Teil ist allein von dem Hass auf meinen Vater angetrieben worden. Als ich von dem Streifzug zurück in die Hütte kam und mein Spiegelbild sah, konnte ich in meinen Augen beides sehen, den Hass und das Wohlwollen. Und da wusste ich, dass der emotionale Franz verschwinden musste. Sonst würde ich nie etwas Sinnvolles zustande bringen.«
»Du hast also einfach einen Teil von dir ausgelöscht?«, fragte Thor mit einem sarkastischen Unterton.
»Nein, zunächst habe ich eine Geschichte aufgenommen, aus der ein Mythos geworden ist. Es war der Entwurf eines Romans.«
Thor wusste sofort, worauf Franz sich bezog. Er hatte diesen Entwurf gelesen, weil er den Medien zugespielt worden war. Die hatten eifrig darüber diskutiert, ob die Geschichte der tatsächlichen Wahrheit entsprach oder nur das Ergebnis einer veränderten Wahrheit war. Der Roman handelte von dem Geständnis eines psychopathischen Teenagers, der alles vernichtete, was sich ihm auf seinem Weg zum Erfolg in den Weg stellte. In dieser Version hatte Franz das Feuer in dem Haus in Frankreich gelegt, in dem seine Familie ums Leben kam. Später behauptete er, dass die Geschichte zum größten Teil ein Produkt seiner Fantasie gewesen sei.
»Dieser Entwurf war fruchtbar«, sagte Thor.
»Das mag sein, aber es war nicht meine Schuld, dass die Medien sie in die Finger bekamen. Diesen ausgesprochen persönlichen Text hatte ich geschrieben, um meine Gefühle, meine … innere Verfassung zu verarbeiten.«
»Und wie ist es dazu gekommen?«
»Ich habe mir ein Diktiergerät im Dorfladen bestellt und meine Geschichte aufgenommen. Der Hund lag zu meinen Füßen am Küchentisch, und ich habe mich dem Hass auf meinen Vater ergeben. Danach ging es mir besser. Viel besser.«
»Wie geht das?«
»Ich habe den Teil von mir sprechen lassen, der am stärksten sichtbar war. In jeder Beziehung war mein Antrieb der Hass auf ihn. Ich beschloss, mir alles zu nehmen, was ihm gehört hatte, und noch viel mehr Einfluss zu bekommen, als er je gehabt hatte. Aber ich wollte gleichzeitig auch etwas Gutes tun.«
Thor schluckte.
»Dann hast du also beschlossen, ein …«
Doch er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.
»… ein Psychopath zu werden?«, beendete Franz den Satz. »Sprich es ruhig aus, ich nehme es dir nicht übel. Das ist sowieso nur ein Begriff, den die Seelenklempner erfunden haben, weil sie keine Ahnung von solchen Menschen haben, die sowohl tatkräftig als auch rücksichtslos sind.«
Franz bemühte sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber sein Blick war so hart und verschlossen, dass Thor wegsehen musste. Er bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. Gleichzeitig faszinierte es ihn unendlich, so nah an Franz’ Wahnsinn zu sein.
»Aber, Papa … warum konntest du denn nicht einfach nur du selbst sein?«
Franz lachte abfällig.
»Es war unmöglich, meine beiden Persönlichkeiten miteinander zu vereinen. Sie waren einfach zu stark, viel zu verschieden. Wer möchte schon sein ganzes Leben in einem schizophrenen Zustand verbringen? Meine einzige Möglichkeit war, gar nichts mehr zu fühlen. Komplett abzuschalten. Was eigentlich nicht mein Stil ist.«
In Thors Ohren klang das wie eine schlechte Version von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das hatte ihn also in den Wahnsinn getrieben. Thor spürte einen ziehenden Schmerz in seiner Brust.
»Ich beschloss, meine Träume ohne jeden Skrupel zu verwirklichen«, sagte Franz. »Ich wollte eine neue spirituelle Bewegung gründen. Ich wollte den Menschen dabei helfen, ein gesünderes Leben zu führen und sich von nichts und niemandem aufhalten zu lassen. Und ich habe mir das Versprechen gegeben, mir niemals einen Wunsch zu verweigern. Anführer zu sein, bringt Privilegien mit sich.«
Thor bekam eine Gänsehaut.
»Und danach hast du gleich die Hütte verlassen?«
»Nein, das war Monate später. Ich bin beim Herrenhaus über die Mauer geklettert und habe mich an meinen Lieblingsplatz gesetzt, wo ich schon als Kind viel Zeit verbracht hatte. Dort erkannte ich, dass ich damals einen Teil von mir zurückgelassen hatte, als ich Dimö verließ.«
»Und dieser Teil hasste deinen Vater?«, fragte Thor wie außer Atem. Die Geschichte hatte ihn in ihren Bann gezogen. Er hatte die Fähigkeit verloren, rational zu bleiben.
Franz hob den Kopf, ein Sonnenstrahl hatte seinen Weg zwischen den Blättern hindurch gefunden.
»Ja. So in etwa.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ein paar Wochen später habe ich das Anwesen gekauft. Dann ging alles wie im Handumdrehen. Und dabei hatte ich damals noch gar nicht begriffen, wie leicht sich Menschen manipulieren ließen und wie geschickt ich darin war, und das sogar, ohne mich anstrengen zu müssen.«
Thor bemühte sich zu lächeln. Es sollte wohl ein Scherz sein, aber ihm gefiel der Tonfall überhaupt nicht, weil er Erinnerungen an einen ganz anderen Franz weckte.
»Aber was für ein Mensch bist du dann heute, Papa?«
»Das weißt du doch. Seit meinem Schlaganfall Jahre später ist nichts mehr wie früher. Ich hatte diese schrecklich peinlichen Weinkrämpfe und Gefühlsausbrüche. So war es mir noch nicht einmal gegangen, als ich allein in der Hütte gelebt hatte. Es ist eine Sache, einsam zu sein und unter einer Depression zu leiden. Aber vor anderen die Kontrolle zu verlieren, das ist äußerst demütigend.«
»Willst du denn wieder so kalt und berechnend sein wie davor?«, fragte Thor.
Franz schüttelte den Kopf.
»Nein, eigentlich nicht. In meiner Hochphase, als ich am erfolgreichsten und am gewissenlosesten war, hatte ich oft das Gefühl gehabt, dass mir etwas Wichtiges fehlte. Außerdem sind wir uns inzwischen nähergekommen, und auch mit meiner Mutter verstehe ich mich heute besser. Darauf möchte ich auf keinen Fall verzichten. Irgendetwas dazwischen wäre mir ganz lieb«, sagte er achselzuckend.
Thor musterte seinen Vater. Er sah müde aus.
»Es ist furchtbar traurig«, sagte Thor dann. »Du hattest so viele psychische Probleme, und hast sie immer hinter einer Maske versteckt. Du hättest doch Hilfe bekommen können.«
»Das kann sein«, murmelte Franz. »Aber dann wäre ich nicht so weltberühmt geworden.«
Thor wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Das Gespräch schwankte hin und her, wie eine Wetterfahne im Sturm. Gut oder böse? Was wollte Franz eigentlich?
Franz ließ die Mundwinkel nach unten sinken und blähte die Nasenflügel auf. Dann gab er einen Laut von sich, der eine Mischung aus Schluchzen und Lachen war. Seine Augen waren so tiefschwarz, dass man sich darin hätte spiegeln können.
»Das ist das letzte Mal, dass wir darüber sprechen. Ich möchte, dass du das respektierst«, sagte er.
»Warum macht dich das so wütend?«, fragte Thor vorsichtig.
»Weil jetzt endlich mal Schluss damit sein muss. Verstanden? Dieses Gequatsche über meine Vergangenheit hat nun ein Ende. Ich bin, wer ich bin, und ab jetzt wird nur noch nach vorne geschaut.«
Thor hatte so lange davon geträumt, seinen Vater dabei zu erleben, wie er sich öffnet. Und doch war er seltsamerweise enttäuscht davon. Das Ganze hatte etwas Tragisches, das ließ sich nicht wegdiskutieren.
Franz konnte Thors Gedanken lesen.
»Du hattest etwas anderes erwartet, nicht wahr? Es tut mir leid, dass ich eine solche Enttäuschung bin.«
»Das bist du überhaupt nicht. Als ich klein war und du mich wie Luft behandelt hast, da warst du eine große Enttäuschung. Das hier aber ist …«, er suchte nach den richtigen Worten, »… wenigstens ehrlich.«
Ihre Blicke trafen sich. Es war ein Moment voller Liebe. Schnell wandte er den Blick wieder ab.
»Ich wünsche dir, dass du dich mit deiner Vergangenheit versöhnst und weitergehen kannst«, sagte Thor. Aber war das wirklich so einfach?