Kapitel 19

Mir gelingt es jedoch, den Vortrag zu halten und dabei ruhig und konzentriert zu bleiben. Immer darauf bedacht, nicht in Richtung des unerwünschten Gastes zu sehen. Während ich mich am Ende verlegen vor dem applaudierenden Publikum verbeuge, fällt mein Blick auf Thor, der mich amüsiert anlächelt.

Meine Zuhörer stehen danach noch in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich. Ich begrüße ein älteres Ehepaar, das gestern angereist ist, sehe mich aber nervös um. Ihn kann ich nirgendwo entdecken. Aber ich bin mir sicher, dass er ganz vorn gesessen hat. Bei der ersten Gelegenheit winke ich Elyssa zu mir.

»Der Gast, der dort außen saß, warum ist er hier?«, frage ich.

Elyssa sieht mich fragend an.

»Meinst du Valle?«

»Der Mann heißt Valdemar Sporre, und du weißt genau, dass ich das letzte Wort bei der Wahl unserer Gäste habe.«

»Du warst aber nicht da , Franz. Er rief gestern an und wollte am selben Tag noch einchecken. Da warst du gerade mit Thor zur Hütte aufgebrochen. Er hat das Formular ausgefüllt, das wir ins Netz gestellt haben.«

»Haben die Wachen ihn durchgecheckt?«

»Ja, und sie haben nichts Verdächtiges gefunden.«

Das war für sich schon eine Überraschung, denn Valdemar ist ein verlogener Typ, der nichts als dunkle Geschäfte macht. Wer wüsste das besser als ich?

»Ich gehe ins Büro«, sage ich. »Schick ihn in zehn Minuten zu mir hoch. Ich möchte mit ihm sprechen.«

»Mach ich. Aber … was ist los, Franz? Du wirkst irgendwie angespannt?«

»Mach einfach, worum ich dich bitte«, sage ich.

Die Abenddämmerung hat sich über ViaTerra gesenkt. Die Luft riecht süß und frisch, so wie es nur an einem Sommerabend duften kann. Normalerweise würde ich mich dieser Wahrnehmung hingeben und sie einfach genießen, aber jetzt empfinde ich sie fast erdrückend. Es riecht wie das Echo einer kühlen Sommernacht auf Glimmingeholm.

Auf dem Weg ins Büro kribbelt es mich am ganzen Körper, ich spüre einen unangenehmen Druck auf der Brust. Ich fühle mich wie benebelt, als hätte mich eine Welle umgerissen und das tosende Meer mich verschlungen. Die letzten Treppenstufen sind die schwersten, der Boden wankt unter meinen Füßen. Ich erinnere mich an meine Stärke, klammere mich daran fest. Valdemar ist in mein Revier eingedrungen. Wenn jemand ViaTerra bedroht, verwandele ich mich in ein wildes Tier.

Im Büro stelle ich mich sofort ans Fenster, lausche der Stille. Nach und nach höre ich die Geräusche des Meeres, das sanfte, rhythmische Rauschen, das mir immer hilft, zu meiner inneren Ruhe zu finden. Nur heute nicht. Valdemar Sporre ist auf meinem Anwesen. Mich dürfte eigentlich nicht überraschen, dass Justine ihn geschickt hat. Sie ist schon immer ein Kontrollfreak gewesen, krankhaft misstrauisch. Aber ich weiß, wozu Valdemar fähig ist, und das ist alles andere als beruhigend.

Ich hatte ihn zwar auf den Partys auf Glimmingeholm gesehen, aber Justine hat uns erst an jenem bedeutsamen Abend vorgestellt, an dem ich die Schlangen sehen und ihr Atelier zum ersten Mal betreten durfte. Um dorthin zu gelangen, musste man auf der Rückseite des Hauses eine schmale, knarrende Holztreppe hochsteigen, nach oben auf den Dachboden. Es roch nach abgestandener Luft und Schimmel, und mir wurde schlagartig übel.

»Wollen wir das nicht lieber auf morgen verschieben?«, schlug ich vor.

»Es dauert nur ein paar Minuten«, sagte Justine.

Minuten. Weniger als ein Atemzug in der Ewigkeit, aber ausreichend, um das Leben eines Menschen für immer zu verändern.

Ihr Atelier nahm die Hälfte des Dachbodens ein. Es war überraschend leer. An einer Wand hing eine gerahmte Fotografie, etwa zwei mal zwei Meter groß. Die übrigen Wände waren kahl. Ich kann mich an jedes Detail der Fotografie genauestens erinnern. Ein junger, nackter Mann ist darauf zu sehen, seine Haut ist so wachsbleich, dass sie zu leuchten scheint. Er liegt ausgestreckt auf dem Altar in der kleinen Kapelle. Sein Körper wird vom Mondlicht beschienen. Den Mund hat er leicht geöffnet, die Wimpern werfen graue Schatten auf seine Wangen. Sein Gesicht sieht wie eine Kohlezeichnung aus. Auf seinem Körper liegen drei Schlangen. Der Krait hat sich um den Hals des Mannes gewunden, sein Kopf ist neben seinem Mund platziert. Der Todeskuss. Die Tigerotter liegt wie ein Gürtel ausgestreckt auf seiner Brust. Die grüne Mamba hat sich um seinen Penis geschmiegt. Sie schlafen. Alle schlafen. Die Szene hat etwas unglaublich Friedliches, das Ganze ist beängstigend schön.

Ich stand wie angewurzelt da, konnte meinen Blick nicht von der Fotografie abwenden. Justine legte ihre Hand auf meinen Nacken und schob mich näher heran. Ich spürte, wie sich auf meinem gesamten Körper eine Gänsehaut ausbreitete.

»Das ist Erik Oxenstierna, er ist der Sohn eines aufgeblasenen Adligen und Geschäftsmannes aus Skanör. Seine Eltern sind selbstverständlich Gäste bei unseren Veranstaltungen. Und nein, er hat nicht freiwillig posiert.«

»Aber warum …? Wie …?«

Mir wollten nicht die richtigen Worte einfallen.

»Er hatte ziemlich viel getrunken und wurde mit ein bisschen Hilfe von mir in einen sehr tiefen Schlaf versetzt. Wusstest du, dass man Schlangen mit Halothan betäuben kann? Obwohl es auch sehr gut mit Schlaftabletten geht, die ich vorher in Wasser auflöse.«

Meine Reaktion war spontan, nicht rational. Die Schönheit des Fotos hatte mich betäubt und verdrängte den Gedanken, dass nicht rechtens war, was sie getan hatte.

»Das Foto ist … spektakulär«, murmelte ich.

»Das ist auch meine Absicht. Wir Menschen sind seit Jahrmillionen darauf programmiert, Abweichungen zu entdecken. Dinge, die aus dem Gewöhnlichen herausstechen. Deshalb erregt dich dieser Anblick. Und es ist wirklich was Besonderes, stimmt’s?«

Ich konnte ihr nicht widersprechen. Die Mischung aus Realismus und Träumerei war beeindruckend.

»Aber was ist das genau?«

»Wird das nicht deutlich?«, fragte sie entrüstet. »Das ist meine Kunst.«

Da war es wieder. Das Kribbeln im Nacken. Ich wollte sie bitten, es mir genauer zu erklären, als ich einen schwachen Windzug hinter mir spürte. Ich drehte mich um, da stand Valdemar Sporre.

Es klopft. Elyssa führt Valdemar in mein Büro. Und wieder steht er vor mir, dreißig Jahre später. Bei unserer letzten Begegnung hatten wir beide die schwindelerregende Höhe der geheimen Hierarchie auf Glimmingeholm erklommen. Aber diese eine Nacht damals veränderte alles, für immer. Seine bloße Anwesenheit führt jetzt dazu, dass der Raum dunkel und voller Schatten wird. Valdemar lächelt nicht, ich ebenso wenig. Wir starren uns nur wortlos an. Mich überrascht, dass er überhaupt gekommen ist. Ich hatte die leise Hoffnung, dass er in die Sommernacht verschwinden würde, für immer. Elyssa fragt, ob sie bleiben soll und ob wir Kaffee oder Tee trinken möchten. Ich lehne beides dankend ab, und nun zieht sie sich diskret zurück.

Ich setze mich und bin für meine hohe Rückenlehne dankbar, denn innerlich zittere ich unkontrolliert. Valdemar bleibt vor meinem Schreibtisch stehen. Mit Genugtuung stellte ich fest, dass der Zahn der Zeit auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen ist. Der muskulöse Körperbau, der sein Markenzeichen gewesen ist, hat seine Spannung verloren. Zwar hat er noch keine Rettungsringe, aber immerhin erste Andeutungen davon und auch die Ansätze eines Doppelkinns. Seine Bewegungen waren früher so geschmeidig wie die eines Panthers, jetzt erinnert er eher an einen Bären. Ansonsten aber hat er sich nicht besonders verändert. Er trägt sein dickes braunes Haar nach wie vor nach hinten gegelt. Auch die tiefe Furche zwischen den Augenbrauen ist noch ebenso tief wie damals. Und ihn umgibt eine Aura des Bösen. Es hat eine Zeit in meinem Leben gegeben, da konnte ich mich voll und ganz auf ihn verlassen. Zuerst war da Vertrauen, dann folgte der Verrat. Eines bedingte das andere. Am Ende begriff ich, dass ich mich auf keinen Fall auf ihn verlassen darf. Heute empfinde ich nichts als Verachtung für den Menschen, zu dem er geworden ist. Seit dreißig Jahren ist er Justines Sklave. Wie kann man das überstehen? Innerlich muss er doch vollkommen verrottet sein.

»Ich finde es etwas frech, hier ohne eine ausdrückliche Einladung aufzutauchen«, sage ich und rolle meinen Stift gedankenverloren zwischen den Fingern. Ich hoffe, dass ich dadurch den Eindruck von Langeweile vermittele, während ich innerlich förmlich vor Anspannung zerreiße.

»Justine ist der Ansicht, dass ich mich mal entspannen soll«, sagt Valdemar. »Seit du abgehauen bist, hat es ja nur mich gegeben.«

»In dreißig Jahren könnte man sich doch einen neuen Sklaven anschaffen.«

»Richtig. Aber einige sind nun einmal unersetzlich.«

Auf den zweiten Blick fallen mir seine Unsicherheiten auf. Jemand mit guter Menschenkenntnis registriert die Gemütszustände seines Gegenübers. Und der Mann vor mir wirkt jetzt unsicher. Die Anspannung meiner Muskeln lässt nach.

»Warum bist du hier?«

Er sieht mich durchdringend an, als müsste ich sein Anliegen bereits kennen.

»Ich möchte mich nur vergewissern, dass zwischen dir und Justine alles wieder in Ordnung ist. Du warst das letzte Mal so kurz angebunden. Das finde ich in Anbetracht der Tatsache, dass sie dir das hier alles ermöglicht hat, etwas unangemessen«, sagt er und fährt mit der Hand durch die Luft.

Mit einem kurzen Nicken fordere ich ihn auf, auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Mit einem leisen Grunzen setzt er sich, auf seinen Lippen liegt ein ironisches Lächeln.

»Keine Sorge«, sagt er. »Wie du sicherlich schon weißt, bleibe ich nur ein paar Tage. Eigentlich schade. Denn hier ist es schön.«

Meine Kopfhaut prickelt, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass meine Wut zum Leben erweckt wurde. Gott sei Dank.

»Kannst du zum Punkt kommen?«, sage ich.

»Justine möchte wissen, warum dein Sohn auf Glimmingeholm aufgetaucht ist? Sie will wissen, ob du etwas mit seiner plötzlichen Neugier zu tun hast?«

»So ist es doch gar nicht gewesen. Er hat in Lund Elisabeth kennengelernt.«

Die Falten auf seiner Stirn glätten sich wieder.

»Und wann war das?«

»In der letzten Woche. Sie wohnt in einer Wohnung, die mir gehört. Deshalb haben wir ab und zu Kontakt«, sage ich leise, meine Stimme klingt heiser.

»Das wissen wir doch schon alles. Justine weiß über jede Einzelheit aus Elisabeths Leben Bescheid. Die entscheidende Frage ist jedoch, was du Thor gesagt hast.«

»Überhaupt nichts. Außerdem hat er das Interesse schon längst wieder verloren. Deswegen ist es ja auch so unvorsichtig von dir, hier einfach aufzutauchen.«

Er lehnt sich vor. Senkt seine Stimme.

»Ich bin nur der Überbringer einer Botschaft. Justine lässt dich schön grüßen. Wenn irgendetwas von dem, was vor dreißig Jahren geschehen ist, an die Öffentlichkeit gelangt, ist dein Sohn als Nächster an der Reihe.«

Die bloße Erwähnung von Thor ist wie ein Stich ins Herz. Aber äußerlich lasse ich mir nichts anmerken.

»War das alles?«

»Nein, eine Sache noch. Sie hofft sehr, dass dir dein Ruhm und Erfolg nicht zu Kopf gestiegen sind und du dich daran erinnerst, wie tief du in dieser Angelegenheit mit drinsteckst.«

Mich trifft die Erkenntnis mit voller Wucht. Natürlich ist Justine misstrauisch, aber die Warnung am Telefon hätte genügen müssen. Valdemar mag zwar erfahren sein, und er kann auch sicher wichtige Entscheidungen eigenständig treffen, aber er scheint ihr nach wie vor so untergeordnet zu sein, dass er sich mitten in der Nacht losschicken lässt. Dass Justine ihren Aufräumer so schnell gesandt hat, riecht nach Verzweiflung, und ich befürchte, dafür kenne ich den Grund. Sie muss beschlossen haben, ihre morbiden Pläne endlich in die Tat umzusetzen. Wenn das passiert, wird mein Schweigen entscheidend sein.

»Dann hat sie also wirklich vor, es nach so vielen Jahren zu machen?«, sage ich.

»Justines Pläne gehen dich einen Dreck an«, erwidert er kurz angebunden, was meine Neugier nur noch verstärkt.

»Du meinst doch nicht etwa, dass sie wieder mit ihrer Kunst angefangen hat?«

Sein Schweigen spricht Bände. Er packt meinen Schreibtisch mit beiden Händen, beugt sich vor, als würde er mich gleich anbrüllen wollen, lässt sich dann aber wieder zurück auf den Stuhl fallen und lächelt angestrengt.

»Ich würde wahnsinnig gerne noch über die alten Zeiten plaudern, aber jetzt gibt es Drinks im Speisesaal, und da mag ich mich nicht zweimal bitten lassen. Das hier ist schließlich mein erster Urlaub seit Jahren.«

Der Tonfall ist so typisch für ihn. Die Mischung aus jovialem Jargon mit einer vor Sarkasmus triefenden Stimme. Wir starren uns an. Keiner sagt ein Wort. Wahrscheinlich erwartet er, dass ich ihm das Versprechen meiner Schweigsamkeit gebe, dass ich ihn anflehe, vor ihm auf den Knien krieche. Aber nein, ich lasse mich von niemandem bedrohen. Ich senke meine Stimme und gebe mein Bestes, möglichst bedrohlich zu klingen.

»Hör mir gut zu, Valdemar. Richte Justine aus, dass sie offensichtlich vergessen hat, wer ich heute bin, wozu ich fähig wäre, und wie weit ich gehen würde, sollte ich mich bedroht fühlen. Vor allem du solltest das wissen, oder lässt dein Gedächtnis langsam nach? Du scheinst auch mit dem Training aufgehört zu haben. Zu viele … was schluckst du noch mal? Stimmt ja, Diazepam. Genieß deinen Urlaub. Du siehst aus, als hättest du ihn dringend nötig.«

Ich erwarte viel mehr Widerstand, Wut, Aufbegehren, aber er lächelt nur spöttisch.

»Du redest so viel Blödsinn, Franz. Das hast du schon immer getan.«

Das Gleichgewicht der Kräfte hat sich verschoben. Valdemar steht auf. Ich habe mich gerade wieder gesammelt, tief durchgeatmet, da öffnet sich die Tür. Thor kommt herein. Und ich frage mich, wie ich mich aus dieser Sache wieder herauswinden kann.