Kaum hatte Julia das Gästehäuschen betreten, zog Thor sie dicht an sich. Er bohrte sein Gesicht in ihren Hals, und sofort war die Leidenschaft entfacht.
»Ich dusche nur schnell«, sagte sie. »Ich hatte heute früh keine Zeit.«
Enttäuscht stöhnte er auf.
»Nein.«
»Darf ich mich kurz waschen?«
»Nein, bitte nicht.«
Er war so erregt, dass er sich fast an seinen Worten verschluckte. Sie küssten sich lange und ausgiebig. Julia ließ ihre Hände über seinen Rücken gleiten und erzeugte brennende Bahnen aus Gänsehaut unter ihren Fingerkuppen. Am liebsten hätte er ihr die Kleider vom Körper gerissen, aber sie kam ihm wie so oft zuvor und zog sich Pullover und BH aus. Als sie nur mit ihrem Rock bekleidet ins Wohnzimmer ging, sah sie so sexy aus, dass ihm fast schwarz vor Augen wurde.
Das Liebesspiel begann auf dem Sofa und endete im Schlafzimmer. Unter der Dusche läuteten sie die zweite Runde ein und beendeten diese im Bett. Als Thor danach auf dem Rücken lag, Julias Kopf auf seiner Brust, ihre Haare wie eine Sonnenblume auf seiner Haut ausgebreitet, fühlte er sich wunderbar befreit und entspannt.
»Auf dieser Reise habe ich viel über uns nachgedacht«, sagte sie. »Wir geben uns wirklich Mühe, dass unsere Beziehung nicht einschläft und wir so ein langweiliges Pärchen werden. Das gefällt mir.«
Ihm wurde ganz warm. Und er war froh, dass es ihm trotz seines Kontrollbedürfnisses gelang, ihr die Freiheit zu geben, die sie benötigte. Ihre Beziehung kam ohne feste Verpflichtungen aus. Sie hatten keinen Kredit aufgenommen. Kein Haustier. Und auch noch keinen Wunsch nach Nachwuchs. Sie hatten die Freiheit, tun und lassen zu können, was sie wollten. Jemand hatte Julia einmal als etwas zu aufopferungsvoll beschrieben, weil sie alles für ihren Job tat, den sie liebte. Thor bewunderte Julias Leidenschaft für die Geschichten anderer Menschen, und in seinen Augen war das auch einer der Gründe, warum er sie liebte.
»Ich bin gestern mit Cornelia einen Kaffee trinken gewesen«, platzte es aus ihr heraus.
Die zärtliche Stimmung sank rapide, und er schwieg etwas zu lang.
Julia schnippte mit den Fingern.
»Hallo, bist du noch wach?«
»’tschuldige. Ich war mit meinen Gedanken woanders.«
»Cornelia ist nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen«, sagte sie. »Sie hat lange mit einem Physiotherapeuten zusammengearbeitet und kann ihre Beine jetzt wieder bewegen. Über ein Jahr hat das gedauert, aber nun ist sie wieder in der Lage zu gehen. Franz hat sie dazu inspiriert, nicht aufzugeben, sondern weiterzukämpfen.«
»Wie bitte? Mein Vater?«
»Ganz genau. Als sie damals für ihn gearbeitet hat, haben sie auf Dimö ausgedehnte Spaziergänge gemacht.«
Das wusste Thor nicht. Und es fiel ihm schwer, sich seinen Vater dabei vorzustellen, wie er einen Rollstuhl über die Insel schob. Andererseits war Franz selbst über ein Jahr lang an den Rollstuhl gefesselt gewesen. Wahrscheinlich hatte er deswegen Mitgefühl mit Cornelia gehabt.
»Deshalb hatte sie Bedenken, in Franz’ Angelegenheiten herumzuschnüffeln«, fuhr Julia fort.
»Das muss sie auch nicht«, warf Thor ein.
»Ich habe mich für eine andere Taktik entschieden und ihr von unseren Bedenken erzählt, dass er vielleicht in schlechte Gesellschaft geraten ist. Sie hat sich darauf eingelassen, diesen Valdemar Sporre zu überprüfen, also nur Einträge im Strafregister, ein bisschen Background und so. Sie meldet sich, wenn sie was gefunden hat.«
Dann schmiedeten sie Pläne, wie sie den Tag verbringen wollten. Da der Wind nicht so stark war, beschlossen sie, mit Thors Segelboot rauszufahren. Sie hatten sich gerade angezogen, als Julias Handy klingelte.
»Das ist Cornelia, über Facetime«, sagte sie. »Das ging aber schnell.«
Cornelia saß vor ihrem Rechner, hinter sich ein vollgestopftes Bücherregal. Thor hatte sie vor ein paar Jahren mal auf ViaTerra kennengelernt, allerdings nur flüchtig, aber sie hatte ein Gesicht, das man so schnell nicht vergaß. Voller Sommersprossen und hellbraune, mandelförmige Augen. Sie war eine von den Frauen, die sich für ihre Schönheit keine zusätzliche Mühe geben mussten. Und außerdem war sie scharfsinnig und klug. Sie trug eine Brille, wahrscheinlich hatten die vielen Stunden vor dem Bildschirm ihren Tribut gefordert. Thor hatte gehört, dass sie nicht nur eine begnadete Hackerin, sondern auch Gamerin war.
»Franz ist gerade nicht bei euch, oder?«, fragte sie und inspizierte den Bildausschnitt, ob er sich vielleicht in einer dunklen Ecke versteckte.
»Nein, nur Thor und ich.«
Dann plauderten sie noch eine Weile über dies und das. Cornelia erzählte, dass sie vorhatte, vor dem Herbst nach Dimö zu kommen, um Franz zu besuchen.
»Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, hinter seinem Rücken zu schnüffeln«, sagte sie.
»Das verstehe ich.« Julia nickte. »Er wird das nicht erfahren. Hast du etwas Interessantes herausgefunden?«
»Das müsst ihr entscheiden. Ihr wisst ja schon, dass dieser Valdemar Sporre auf Glimmingeholm wohnt und dass die Besitzer des Anwesens Justine und Carl-Fredrik Troelius sind, oder? Valdemar wurde mit siebzehn Jahren Vollwaise. Sein Vater, ein guter Freund von Carl-Fredriks Eltern, starb unerwartet an einem Herzinfarkt. Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er noch ein Baby war, und verschwand ins Ausland. Ihr Aufenthaltsort ist bis heute unbekannt. Also haben ihn Justine und Carl-Fredrik bei sich aufgenommen. Und für die beiden arbeitet er bis heute.«
»Wie lange ist das her?«, fragte Julia.
»Vierunddreißig Jahre. Valdemar ist jetzt einundfünfzig, so alt wie Franz. Das Interessante aber ist, dass er alles andere als ein Stalljunge ist. Ganz im Gegenteil, er ist in mehreren Clubs Mitglied, in denen sich sonst nur die Steinreichen aus Schonen herumtreiben. In Yachtclubs, Golfclubs und so weiter. Wenn man sich erst einmal für die Herrschaftsklasse des weißen Mannes der schonischen Oberschicht qualifiziert hat, umgibt man sich mit den Mächtigsten. Und Valdemar hat sich eindeutig qualifiziert. Allerdings ist seine Berufsbezeichnung etwas sonderbar: Assistent. Aber das kann ja alles Mögliche bedeuten.«
»Die Troelius’ haben ihn eher wie einen Sohn behandelt«, sagte Julia.
»Ja genau, seit dem Tod seines Vaters lebt er auf Glimmingeholm«, bestätigte Cornelia. »Er ist noch nie woanders gemeldet gewesen. Das ist doch erstaunlich, oder?«
»Ja, das stimmt«, sagte Julia. »Vor allem für einen erwachsenen Mann. Er hätte doch längst ausziehen müssen. Obwohl, wer würde nicht gern in einem solchen Palast wohnen. Vielleicht hat er dort seinen eigenen Flügel stehen.«
Cornelia lachte.
»Trotzdem ist es doch so, als würde man auch mit fünfzig noch bei Mama und Papa wohnen, oder?«
»Ja, das klingt wirklich seltsam. Allerdings ist der Altersunterschied der drei nicht besonders groß. Die beiden sind doch höchstens zehn Jahre älter als er. Also keine klassische Eltern-Kind-Beziehung.«
Die Sonne fiel durch die offene Terrassentür und warf einen Streifen Licht auf den Boden, in dem Julia saß. In der einen Hand hielt sie das Telefon, mit der anderen wickelte sie sich eine Haarsträhne um den Finger. Das war eine unbewusste und für sie ganz typische Bewegung, wenn sie sich auf etwas konzentrierte.
»Ist er verheiratet, hat er Kinder?«, fragte Thor.
»Nein, weder noch«, antwortete Cornelia. »In den vergangenen Jahren hatte er eine Reihe von Freundinnen, alle zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Mit anderen Worten, ein geiler alter Bock.«
»Du weißt ja gut über ihn Bescheid.« Julia lächelte ihr zu.
»Aber bisher nur, was sich an der Oberfläche befindet. Als Nächstes müsste man sich in seinen Rechner hacken, seine Mails checken, herausfinden, auf welchen Pornoseiten er surft, und seine Geldgeschäfte überprüfen.« Thor konnte förmlich hören, wie sie auf Touren kam. »Aber wenn ihr da wirklich weitergehen wollt, müsst ihr jemanden anderen damit beauftragen.«
»Hast du was im Strafregister gefunden?«, fragte Julia.
»Nicht das Geringste. Ein paar Knöllchen fürs Falschparken und eine Verwarnung für überhöhte Geschwindigkeit. Aber das war schon alles. Der ist auf jeden Fall kein Berufskrimineller.«
Das war eine große Erleichterung. In einem Augenblick des Entsetzens hatte sich Thor vorgestellt, dass Valdemar ein Mitglied der Mafia sein könnte und den Auftrag bekommen hatte, Franz und seine ganze Familie zu beseitigen.
»Vielleicht macht ihr da auch aus einer Mücke einen Elefanten«, wandte Cornelia zögernd ein. »Vielleicht ist er wirklich nur ein alter Freund von Franz, der ihn besuchen wollte?«
»Kann schon sein«, antwortete Thor. »Mein Vater hat selbst viel Zeit auf Glimmingeholm verbracht, als er in Lund zur Uni ging. Vielleicht ist es wirklich nicht mehr als das.«
Aber Thor hatte trotzdem seine Zweifel. Franz hatte wie eine Klapperschlange ausgesehen, die bereit zum Angriff war, als er Valdemar im Publikum entdeckt hatte. Außerdem erinnerte er sich an Valdemars Blick, als er in Franz’ Büro stand. Böse. Wut. Als hätte er Thor für etwas verantwortlich gemacht. Offenbar hatte ihr kleiner, unerwünschter Besuch auf Glimmingeholm etwas in Bewegung gebracht. Auch der Blick, mit dem Justine ihn damals angesehen hatte, war eine Mischung aus Entsetzen und Verwunderung gewesen. Auf einmal begriff er, dass damit der erste Dominostein gefallen war.
Cornelia blinzelte hinter ihren Brillengläsern.
»Gibt es einen Grund, warum ihr Franz nicht persönlich danach fragt?«
»Wir haben es versucht, aber er hat sich etwas auffällig und mysteriös verhalten. Als hätte er ein Geheimnis«, sagte Julia.
»Okay«, sagte Cornelia sichtlich erleichtert. »Also, ihr müsst euch jetzt keine Sorgen mehr machen. Und bitte, Thor, kein Wort zu ihm über meine Aktivitäten.«
Thor nickte. Dann aber konnte er nicht an sich halten.
»Sag mal, stimmt es, dass dich mein Vater damals im Rollstuhl über die Insel geschoben hat?«
Cornelia lachte herzlich.
»Darauf kannst du Gift nehmen. Kein Hügel war ihm zu steil. Wir hatten richtig viel Spaß zusammen. Er ist einer der lustigsten Menschen, denen ich je begegnet bin.«
Das überraschte Thor nicht besonders. Er kannte seinen Vater. Wenn man sich im gleißenden Licht seiner Aufmerksamkeit befand, fühlte man sich gesehen und großartig.
»Dein Vater hat mir klargemacht, dass ich kämpfen muss, wenn ich wieder laufen lernen will. Und zwar hart kämpfen«, fügte Cornelia hinzu. »Deshalb möchte ich ihm gegenüber auch loyal bleiben.«
Thor und Julia verabschiedeten sich von Cornelia und saßen eine Weile schweigend und in Gedanken versunken nebeneinander. Julia starrte vor sich hin, während ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete, um die Zusammenhänge zu verstehen. Thor hatte ein Detail aufgeschnappt, das ihn unterbewusst weiterbeschäftigt hatte. Plötzlich erstarrte er. Sein Körper schien den Zusammenhang zu begreifen, bevor es auch seinem Kopf klar wurde. Er hörte es förmlich klicken. Valdemar war mit siebzehn Jahren Vollwaise geworden. Franz hatte in dem Alter ebenfalls seine Familie verloren, also kurz bevor er nach Lund gezogen war. Also gab es eine Verbindung, wenn auch nur eine sehr unbedeutende.