Kapitel 40

FRANZ

Am nächsten Tag kommt Elyssa in mein Büro und hat gute Nachrichten. ViaTerra wurde für eine der prestigeträchtigsten Auszeichnungen Schwedens für exklusive Retreats nominiert. In der Begründung steht:

Ob man in den Flitterwochen, mit der Familie oder allein unterwegs ist, man verliebt sich sofort in ViaTerra auf Dimö. Hinter der massiven Eisenpforte betritt man eine Oase voller Geheimnisse und Frieden. Es ist luxuriös, ohne prätentiös zu sein. Das Personal bietet einen hervorragenden Service, eine einzigartige Mischung aus Professionalität und Freundlichkeit. Und die Naturerlebnisse sind unschlagbar. Wenn man in die Grotten am Meer klettert, fühlt man sich wie in einem James-Bond-Film.

Leider erwähnen sie meine abendlichen Vorträge nicht, aber das könnte unter Umständen als religiöse Propaganda missverstanden werden. Doch die Nominierung freut mich sehr, und ich bitte Elyssa, am kommenden Wochenende eine Party für die Mitarbeitenden zu organisieren. Mich überkommt der Impuls, Maria zur Feier des Tages zum Essen einzuladen. Neben dem Restaurant in der Pension von Elvira und Simon gibt es nur noch das Fritjofs auf der Insel. Das liegt am Hafen, hat unregelmäßige Öffnungszeiten, aber im Herbst, der Hochsaison für Schalentiere, hat es durchgehend geöffnet. Trotz der unmittelbaren Konkurrenz zur Pension laufen die Geschäfte gut. Die ältere Inselbevölkerung geht gern dorthin, und es ist allgemein bekannt, dass die Fischgerichte dort besser sind als alles andere, was man auf Dimö bekommen kann. Auch bei Simon. Da gerade Krabbensaison ist, beschließe ich, Maria dorthin auszuführen.

Anfänglich ist es ein wunderbarer Abend. Maria ist eine Romantikerin und kommentiert die stimmungsvolle Atmosphäre, das Licht, und lobt auch das hervorragende Essen. Nach dem Dessert sieht sie verträumt aus dem Fenster. Es ist schon fast dunkel, aber noch kann man die Konturen des Hafens und das Meer dahinter sehen.

»Siehst du den Schuppen direkt an der Bucht?«, fragt sie. »Als wir jung waren, war das eine Imbissbude. Erinnerst du dich?«

Natürlich erinnere ich mich. Früher hielt sich dort die gelangweilte Jugend auf, in Ermangelung anderer, besserer Beschäftigungen.

»Alle, die hier aufgewachsen sind, erinnern sich an die Imbissbude«, sage ich und lächle.

»Dort habe ich dich das erste Mal wiedergesehen, nachdem du nach Dimö zurückgekommen bist«, sagt sie. »Du bist mit dieser klapprigen Harley gefahren, hattest wahrscheinlich irgendetwas im Dorf zu erledigen. Du hast bei den Jugendlichen angehalten, die an der Imbissbude standen und hast dich mit ihnen unterhalten. Dann hast du deinen Helm abgenommen und deine Haare, die waren damals relativ lang, sind dir über die Schultern gefallen. Ich habe dich die ganze Zeit angestarrt, konnte gar nicht aufhören. Mein Herz war so voller Liebe.«

Schlagartig erstirbt mein Lächeln.

»Wenn das jetzt eine Liebeserklärung wird, bin ich raus. Ich bin zurzeit überhaupt nicht in der Stimmung für so was.«

»Nein, du Dummkopf«, sagt sie. »Das ist eine Studie in Narzissmus. Du wusstest genau, dass du die Älteren nicht mit deiner Erscheinung und deiner Maschine beeindrucken konntest. Aber bei den Jungen hattest du gute Chancen. Deshalb hast du dich eine Weile mit ihnen unterhalten und dich in ihrer Bewunderung gesonnt. Ein bisschen beschwingte Wärme verbreiten, darin bist du unschlagbar.«

Ich weiß nicht, warum ich mir den Unsinn anhöre, den sie da von sich gibt, und auch nicht, warum ich mir ihre Beleidigungen gefallen lasse, aber mich erregt der Gegenwind, der mir durch ihr Verhalten ins Gesicht weht.

»Und du bist also ganz in der Nähe gewesen, was?«, frage ich.

»Ich hatte mir an dem Imbiss gerade ein Eis gekauft und habe so nah bei dir gestanden, dass ich sogar die kleinen Schweißperlen auf deiner Stirn sehen konnte.«

»Merkwürdig. Ich habe eigentlich ein perfektes Gedächtnis, aber an dich kann ich mich gar nicht erinnern. Du musst damals ziemlich unscheinbar gewesen sein.«

»Praktisch unsichtbar«, nickte sie. »Aber ich habe mir die Erinnerung daran bewahrt, wie gut du ausgesehen hast. Und ich habe mir gesagt, dass es mir eines Tages gelingen wird, dich auf mich aufmerksam zu machen, Franz Oswald.«

»Dann ist das also doch eine Liebeserklärung?«

»Das kannst du sehen, wie du willst. Für mich ist es ein Beweis meiner Willensstärke.«

Willensstärke . Das Wort schickt mich auf eine Zeitreise. Da lagen meine Monate in der Wildnis, durch die ich wie ein Geist geschlichen bin, schon ein paar Jahre zurück. Da hatte sich längst alles geändert. Die Welt lag mir zu Füßen. Ungehindert wandert meine Erinnerung weiter zurück, in die Zeit, kurz bevor ich berühmt wurde. Irritiert schüttele ich den Kopf, möchte diese Bilder am liebsten abschütteln. Aber sie werden nur größer, werden zu einem einzigen Bild. Sosehr ich Justine auch gehasst habe, so nützlich war sie für mich und für meinen Weg. Das muss ich ihr zugestehen.

Zuerst hatte sie mir ihren Boten geschickt. Ich hatte den harten Winter in der Hütte überlebt, der Sommer war gekommen. Mitten in der Nacht klopfte es an die Tür. Angst hatte ich allerdings keine, ich fühlte mich nur gestört. Ich hatte das Herrenhaus zwar schon gekauft, schlief aber während der Umbau- und Renovierungsarbeiten noch in der Hütte. Nach wie vor führte ich ein Leben als Eremit und mochte es nicht, in meinen Routinen gestört zu werden. Ich wollte mich aufsetzen, aber meine Muskeln reagierten nicht, ich grunzte und rollte mich auf die Seite. Wie gern hätte ich jetzt den Hund gehabt, um den Eindringling zu verjagen. Das Klopfen hörte gar nicht auf. Es war Sommer, deshalb trug ich nur Boxershorts. Ohne mir etwas überzuziehen, rollte ich mich aus dem Bett und öffnete. Valdemar stand vor der Tür. In seinen schicken Klamotten sah er dort irgendwie fehl am Platz aus. Der Weg durch den Wald hatte seine Spuren hinterlassen. Die Schuhe waren schmutzig, er hatte Kiefernnadeln im Haar und schwitzte wahnsinnig. Dieser Idiot.

»Das war die Hölle, hierherzukommen«, stöhnte er. »Aber jetzt bin ich ja da.«

»Das freut mich«, sagte ich kurz angebunden. »Dann kannst du auch gleich umdrehen und wieder abhauen.«

Aber statt zu gehen, drängte er sich an mir vorbei. Mitten im Wald einen Kampf zu provozieren, fühlte sich angesichts von Valdemars Körpergröße beinahe so an, als würde ich das Schicksal unnötig herausfordern.

»Was, keine Umarmung?«, fragte er und musterte mich eingehend. Meine wettergegerbte Haut. Der Bart. Man musste kein Hellseher sein, um seine Gedanken lesen zu können. Von einem herausgeputzten und attraktiven Jüngling zu einer Erscheinung, die einen eher an den Cro-Magnon-Menschen erinnerte. Ihm lag ein Kommentar auf der Zungenspitze, aber er hielt sie zurück.

»Justine möchte mit dir sprechen.«

»Du kannst sie gern von mir grüßen und ihr ausrichten, dass dieser Wunsch nicht auf Gegenseitigkeit beruht.«

»Das kannst du erst beurteilen, wenn du weißt, was sie dir anbietet. Außerdem muss ich mal auf die Toilette. Telefonier doch mit ihr, während ich pisse.«

»Das Plumpsklo ist hinter der Hütte«, sagte ich, worauf er die Nase rümpfte. Valdemar ist noch nie der Outdoortyp gewesen.

Er klappte sein Handy auf und drückte auf eine Nummer. Damals waren Klapphandys modern, klein und praktisch. Für die heutige Fixierung auf das Display sind die allerdings denkbar ungeeignet. Das spielte sich zu einer Zeit ab, in der die Leute noch nicht neunzig Prozent ihres Wachzustandes am Handy verbrachten.

»Ich pinkle auf dem Rückweg im Wald«, sagte Valdemar. »Bei diesem Gespräch möchte ich unbedingt dabei sein.« Er musste meine Erleichterung gesehen haben, als ich begriff, dass er nicht vorhatte zu übernachten. »Ich habe mir ein Zimmer in der Pension im Ort gebucht, oder in dem Fischerdorf, oder was auch immer es ist.«

Aus dem Handy ertönte ein Geräusch.

»Verdammt, Franz, jetzt hör dir doch wenigstens an, was sie zu sagen hat!«, sagte er und hielt mir das Handy hin.

Ich starrte ihn wütend an, nahm es dann aber doch.

Wie üblich, kam Justine direkt zur Sache.

»Franz. Während du dich in Selbstmitleid und dystopischen Gedanken vergraben hast, habe ich an deiner Karriere gebastelt.«

Ich hatte ein ganzes Jahr damit verbracht, die schrecklichen Erinnerungen an meine letzte Nacht auf Glimmingeholm zu verarbeiten. Obwohl es mir gelungen war, mich teilweise davon zu erholen, glich der Klang ihrer Stimme einem Gruß aus der Hölle. Sie schien mit einem Schulterzucken in ihr normales Leben zurückgekehrt zu sein, hatte meins aber zerstört. Ich widerstand dem Impuls, das Gespräch augenblicklich zu beenden.

»Wir hatten doch eine Vereinbarung«, erklärte ich mit fester Stimme. »Ich möchte nie wieder mit dir sprechen.«

Valdemars Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

»Ich schlage vor, dass wir unsere traurige Entzweiung für ein paar Monate pausieren lassen«, hielt sie dagegen. »Die Zeit für deinen großen Durchbruch ist gekommen.«

Was sie mir dann vorschlug, ließ mir die Kinnlade herunterfallen. Ich würde meine Vorträge an den Wochentagen in den großen Universitäten des Landes halten und an den Wochenenden in einem kleineren Rahmen vor einer Gruppe handverlesener Mitglieder ihres großen, exklusiven Netzwerkes sprechen. Sie hatte an alles gedacht. An die Veranstaltungsorte. Die Einladungen. Das Marketing. Die Zusammensetzung des Publikums. Sie hatte Erkundigungen eingeholt und war auf großes Interesse gestoßen. Carl-Fredrik und sie würden gegen eine Provision der Einnahmen in Vorleistung gehen.

Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum ich damals kapituliert und nachgegeben habe. Wahrscheinlich hatte sie den richtigen Zeitpunkt erwischt. Meine Sehnsucht nach Dimö hatte auch in den Jahren meiner Abwesenheit ihre Schatten auf alles geworfen, womit ich mich beschäftigte. Bewusst, unterbewusst, im wachen Zustand und in meinen Träumen, ich sehnte mich auf meine Insel zurück. Später gesellte sich noch der Wunsch dazu, das Herrenhaus als mein rechtmäßiges Erbe zurückzuerobern. Die Renovierungsarbeiten von ViaTerra schritten zu meiner Zufriedenheit voran, und ich spürte ein tiefes Verlangen, die leeren Räume mit Leben zu füllen. Wenn ihre Versprechen in Erfüllung gingen, würde mein lebenslanger Traum wahr werden. Justine hatte meine Gedanken lesen können.

»Gut, dass du das Anwesen gekauft hast.«

»Woher weißt du das?«

»Ich bin immer in deinen Gedanken und du in meinen, Franz. Das weißt du doch genau. Im Geist sind wir ein und dieselbe Person. Auch echtem Schrot und Korn. Versuch das endlich mal zu akzeptieren.«

Das klang so dämlich, dass ich keine Lust hatte, darauf etwas zu erwidern.

»Das Herrenhaus wird deine Hochburg sein«, sagte sie. »Einflussreiche Gäste, atemberaubende Naturkulisse und spirituelle Führung. Stell dir das mal vor. Und deine Vorträge werden noch authentischer und überzeugender sein, weil du schon so lange als Einsiedler in der Natur gelebt hast.«

Ich brumme etwas Unverständliches.

»Was sagst du dazu? Ein paar Monate, bis du auf eigenen Füßen stehst, dann gehen wir getrennte Wege. Was passiert ist, war ein schrecklicher Unfall, und ich möchte es wiedergutmachen, dir dabei helfen.«

»Aber ich will gar nicht, dass ihr das bezahlt. Ich bin finanziell unabhängig.«

»Dann trägst du die Kosten selbst. Kein Problem. Glaubst du im Ernst, hier geht es ums Geld? Du solltest mich besser kennen.«

»Ich weiß nicht, ob ich dich überhaupt kenne. Du bist mir seitdem fremd geworden.«

Justines Stimme senkte sich und wurde milder.

»Ich bitte dich, jetzt sei nicht so nachtragend. Bist du dabei oder nicht?«

Ich seufzte, hatte schon resigniert.

»Meinetwegen.«

»Gut. Und bitte rasier dir diesen scheußlichen Bart ab.«

Das war der erste von vielen Kompromissen, auf die ich mich einlassen musste. Aber so begann meine Reise an die Spitze, und die wurde rasant. Wir brauchten einen guten Weg, wie ich meine spirituellen Thesen anbringen konnte, ohne wie ein religiöser Spinner zu wirken. So entstand ViaTerra – meine Begeisterung für den Umweltschutz und mein umfangreiches Wissen über die Natur machten es ganz leicht. Der Weg der Erde . Meine Vorträge waren gut besucht, die Zuhörerschar wuchs beständig. Bei den anschließenden Gesprächen rekrutierte ich meine Mitarbeiter. Es war ein Kinderspiel, sie in der Menge auszumachen. Es waren immer die, die mich begeistert anstarrten, die Jungen, Unverdorbenen. Innerhalb von sechs Monaten konnte ich die Pforten von ViaTerra für die ersten Gäste öffnen. Auch die Medien wurden auf mich aufmerksam, und schon bald war ViaTerra in aller Munde.

Viele Jahre lang fungierte Justine als meine Ratgeberin, wir begruben das Kriegsbeil. Bis zu dem etwas unheilvollen Zwischenfall mit Elisabeth. Ich weiß nicht mehr, was ich mir dabei gedacht hatte. Es war ihre Tochter. Aber zu der Zeit fühlte ich mich unantastbar und zu allem berechtigt. Es kam zu einer klassischen Patt-Situation. Justine drohte mir, sich auf Elisabeths Seite zu stellen und mich anzuzeigen, und ich drohte ihr, die Wahrheit über meinen letzten Abend auf Glimmingeholm preiszugeben. So kam es zum Kalten Krieg zwischen uns. Wir ließen uns nicht aus den Augen. Bis wir das Interesse verloren. Zumindest hatte ich das gedacht. Heute wünschte ich mir, dass ich den Tag, an dem Valdemar bei mir vor der Hütte stand, rückgängig machen und von vorn anfangen könnte. Aus eigener Kraft.

Maria tritt mir unterm Tisch gegen das Schienbein.

»Jemand zu Hause?«

»Ich war nur in Gedanken versunken, an die guten alten Zeiten«, sage ich.

Ich bitte die Kellnerin um die Rechnung. Auf dem Weg nach draußen greife ich nach Marias Hand. Ich spüre eine unerträgliche Anspannung in meinem Körper, aber ich weiß auch, wie ich sie loswerden kann.

»Komm, jetzt werden wir deine Fantasien von damals, als du mich auf dem Motorrad gesehen hast, in die Tat umsetzen«, sage ich.

Der Schuppen, in dem früher mal die Imbissbude gewesen war, wird jetzt als Bootshaus benutzt. Die Tür ist nicht verschlossen. Ich kann Maria ansehen, wie erregt sie ist, ich bin es auch. Ich stelle mir die unscheinbare Maria vor, die unsichtbare Zuschauerin, während ich die Dorfjugend mit meinem Charisma betörte. Heute bin ich derjenige, der von ihrer Wärme profitiert, sich in ihr sonnen kann. Seltsam, wie sich die Dinge ändern.

Ich ziehe sie ins Innere, vorbei an den Heringsfässern, Angelrollen, Ruten und Netzen, bis ich eine relativ leere Wand finde. Ich drücke sie mit dem Rücken dagegen, greife ihre Handgelenke. Auf einmal bin ich wieder fünfundzwanzig, mit einem unlöschbaren Durst aufs Leben. Maria lacht. Ich küsse sie, das ist ein Kuss, der ihr den Atem nehmen soll. Sie beißt mir spielerisch in die Lippe. Ich schiebe ihr Kleid hoch, sie öffnet meinen Reißverschluss. Als ich in sie eindringe, keucht sie auf. Sie befreit sich aus meinem Griff und packt mich an den Schultern, geht mit jedem Stoß mit. Die Worte strömen aus ihrem Mund, Ordinäres und Zärtlichkeiten. In mir steigt eine schier unkontrollierbare Kraft hoch, tief aus meinem Inneren, sie wird zu einem Crescendo, bis wir gemeinsam die Ektase erreichen und erschöpft zusammensinken.

Die Anspannung ist weg. Und die Erinnerung an die Nacht, in der ich mich wieder zu Justines Sklaven gemacht habe, ist verflogen.