Ich muss raus an die frische Luft, damit ich mich wieder beruhigen kann. Das ist kein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit. Wenn ich nämlich nicht sofort gehe, werde ich etwas zerstören müssen.
Mein Weg führt mich ans Meer, ich will meine aufgestaute Wut loswerden. Mein kleiner Finger zittert, ein Zeichen für die innere Erregung. Das ist einer der Ticks, die ich vor der Öffentlichkeit geheim zu halten versuche. Ich stecke meine Hände in die Jackentaschen und gehe mit schnellen Schritten über die Heide. Die Sonne fällt auf die frostbedeckte Landschaft und bringt jeden noch so kleinen Zweig zum Glühen. Die Heide leuchtet. Auch auf den Felsen hat sich in der Nacht Frost gebildet. Ich stütze mich mit der Hand am Felsen ab, um nach oben zu klettern. Aber meine Handfläche ist verschwitzt, der Stein sehr kalt, ich bleibe um ein Haar daran kleben. Schnell ziehe ich mir die Handschuhe an, die ich in der Jackentasche gefunden habe, und versuche es erneut. Vereinzelte Bruchstücke von dem Telefonat mit Justine kommen jetzt erneut hoch und machen mich rasend vor Wut. Immer wieder rutsche ich auf dem glatten Untergrund aus, kann mich aber fangen. Eigentlich klettere ich am liebsten auf den Teufelsfelsen, weil man von dort die ganze Insel überblicken kann, aber das ist in meinem aufgewühlten Zustand zu riskant.
Ich stelle mich auf den höchsten Punkt des Felsens. Die Aussicht ist atemberaubend. Wie ein Gemälde in allen Farbnuancen von Kupfer bis Gold. Aber meine Wut sorgt dafür, dass ich diese Schönheit wie durch einen verzerrten Filter sehe. Ich hätte Justine umgebracht, hätte sie vor mir gestanden.
Ich hätte sie auf jeden Fall geschlagen, obwohl ich davon überzeugt war, dass ich das längst hinter mir gelassen habe.
Ich stelle mich an den Rand des Felsens und trete vorsichtig gegen einen Stein, der hinunterfällt und Ringe im Wasser bildet. Dann setze ich mich auf einen kleineren Felsvorsprung. Langsam lässt die Wut nach, dafür nimmt meine Verzweiflung zu. Die Gedanken überschlagen sich. Ich könnte der Polizei schon jetzt Hinweise darauf geben, was sich hinter den verdeckten Bildern auf Justines Ausstellung verbirgt. Dann würden sie die Vernissage verhindern. Allerdings würden damit auch Dinge zutage kommen, die vor langer Zeit begraben wurden. Vielleicht sollte ich wegen der Schenkung meinen Anwalt konsultieren – man kann doch niemanden zwingen, ein Geschenk anzunehmen? Mit List und Geschick wird es mir vielleicht gelingen, unbeschadet aus dieser Sache hervorzugehen, nachdem Justine erst das Land verlassen hat. Aber unter Umständen ist das auch eine Falle? Nur Justine, Valdemar und ich wissen, was damals vor dreißig Jahren wirklich passiert ist. Wenn die beiden fort sind, bleibe ich allein zurück. Vielleicht sollte ich mich jemandem anvertrauen. Maria beispielsweise. Wenn mich die vergangenen drei Jahre eines gelehrt haben, dann dass sie immer für mich da ist und durch dick und dünn mit mir geht. Aber wird sie das auch dann noch tun, wenn sie die Wahrheit kennt? Bestimmte Dinge kann ich einfach nicht offenbaren. Aber das Problem sind die Umstände, in denen ich mich befinde, nicht meine Gedanken. Wie ich mich auch drehe und wende, immer wieder lande ich bei der Jagdhütte und der Kapelle am See. Niemand außer mir ist in der Lage, ihre Geheimnisse zu bewahren. Wenn ich mir die Alternative vorstelle – den Skandal und die Strafen –, dann läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.
Der chaotische Weg meines Erfolgs hat mir nie Kopfzerbrechen gemacht. Als Sektenführer jonglierte ich mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft und hielt mich nie lange mit kleineren Niederlagen auf. Drohungen und Beleidigungen perlten an mir ab wie Wasser am Gefieder einer Gans. Die Kontroversen haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Die Anschuldigungen habe ich mit unerträglicher Arroganz zurückgewiesen: Ich nahm an Talkshows teil, trug die teuersten Anzüge von schwedischen Designern und schlug mich mit naseweisen Moderatoren herum. Ich ließ es zu, mein Gesicht auf den Titelbildern zu sehen, auch wenn die Überschriften nicht immer schmeichelhaft waren. Ich ging jedes Risiko ein. Süß schmeckte die Gefahr.
Doch das interessiert mich heute alles nicht mehr. Ich habe die fünfzig überschritten. Nicht, dass ich mich alt fühle, Gott bewahre, aber schon etwas verantwortungsbewusster.
Jetzt geht es mir vor allem um Thor. Zwanzig Jahre lang habe ich versucht, mich ihm gegenüber rational zu verhalten. Zwanzig Jahre lang habe ich versagt. In letzter Zeit habe ich mir dann eingestanden, dass ich ihn sehr gern mag. Vielleicht sogar zu sehr. Ich denke an kostbare, gemeinsame Stunden und spüre eine tiefe Sehnsucht, einen dumpfen Schmerz in der Brust. Als würde mir alles aus den Händen gleiten. Bruchstückhaft erinnere ich mich an Thor als Kind, und dann sehe ich, wer er heute ist. Ein bemerkenswerter junger Mann. Erstaunlich ist, dass er es überhaupt mit mir aushält. Aber eines weiß ich mit Sicherheit. Sollte Thor etwas zustoßen, würde ich zugrunde gehen.
Justines Beleidigungen haben ihre Spuren hinterlassen. Ich kann es ertragen, verspottet zu werden, aber das hatte eine andere Größenordnung. Ihre Anspielungen haben mich in meine dunkelste Zeit zurückgeworfen – in das Jahr nach meiner Rückkehr. Ich war von Ängsten und Selbstzweifeln geplagt. Zweimal bin ich diesen schrecklichen Weg seitdem gegangen. Als ich am ganzen Körper gelähmt war, hätte nicht viel gefehlt. Ich wollte diese Hölle für immer verlassen. Das zweite Mal war der unglückselige Tag, an dem Emil verhindern konnte, dass ich vom Teufelsfelsen springe. Aber so wird mein Ende nicht aussehen. Auf keinen Fall. Was ich daraus gelernt habe? Die Dunkelheit wird vertrieben, wenn ich die richtigen Entscheidungen treffe. Ich kann nicht leugnen, dass ich zwei Seiten habe, vor allem eine falsche, nämlich unaufrichtige. Aber Thor ist echt. Und in solchen dunklen Stunden wie diesen fühlt es sich an, als wäre er das einzig Richtige in meinem Leben.
Was wird passieren, wenn ich etwas Untypisches tue – wenn ich meine eigenen Bedürfnisse zurückstelle und Thor an die erste Stelle setze? Was wird es mit ihm machen, wenn ich den Kampf mit Justine aufnehme – und was wird erst passieren, wenn ich die Segel streiche?
Ich lasse mich nicht bedrohen, von niemandem, und zwar aus Prinzip. Erpressern muss man, unabhängig von ihren Druckmitteln, mit der eiskalten Verachtung begegnen, die sie verdienen. Wenn ich den Kampf mit Justine aufnehme, weiß ich nicht, wohin das führen könnte. Wenn ich ihrem Willen gehorche und mich um das Grundstück und die beiden Gebäude kümmere, bleibt Thor in Sicherheit. Und im Augenblick ist nichts wichtiger als das. Vor mir erstreckt sich das riesige Meer, sonnenbeschienen und wild, und ich spüre keinen Zweifel. Der Geschmack der Niederlage mag widerlich sein, aber ich weiß genau, was jetzt zu tun ist. Zu wissen, was ich verlieren würde, war die notwendige Ohrfeige, um die richtige Entscheidung zu treffen. Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche, mein kleiner Finger hat aufgehört zu zittern.
Ich schicke Justine eine SMS, die nur aus drei Worten besteht: Du hast gewonnen.