FRANZ
Machtverhältnisse können sich auch verschieben. Manchmal auf unerwartete Weise. Nachdem Justine bekommen hat, was sie will, habe auch ich meine Ruhe gefunden. Ich bin mir durchaus bewusst, wie gefährlich und unzuverlässig sie ist. Aber bald wird sie weg sein. Sie wird im Exil weiterleben, und ich werde mich wieder ganz meinem richtigen Leben zuwenden können. Wie befriedigend es ist, sich nicht mehr zur Wehr zu setzen. Ich hatte vergessen, dass alle Konflikte unter meiner Würde sind.
Heute ist Sonntag, sonntags halte ich keinen Vortrag. Das bedeutet, dass ich Zeit für einen ausgedehnten Spaziergang habe und unten am Wasser eine Pause einlegen kann, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Man könnte meinen, dass dieser Anblick nach so vielen Jahren seinen Reiz verlieren würde. Aber jeder Sonnenuntergang ist wieder einzigartig. Die Farben, das Schauspiel in der Natur, die Lichtreflexe. Ich bleibe mitten in der Heide stehen und genieße den Moment, wenn der blutrote Himmel plötzlich orange wird und dann das Meer und die Heide entfacht. Die Kälte kriecht an meinen Beinen hoch. Die Lichter des Festlandes flackern zaghaft auf der anderen Seite des Sundes. Was wäre ich ohne diese atemberaubend schöne Insel?
Es gibt immer einen Moment, in dem die Farben am intensivsten sind, bevor sie verblassen. Das lässt sich auch auf den Menschen übertragen. Es sind häufig nur einzelne Augenblicke, die über das Leben eines jeden entscheiden. Nicht das langwierige Unterfangen, das wir Leben nennen. Die ungeplante Empfängnis, die Thor und Vic das Leben gab, veränderte mein eigenes grundlegend. Die Sekunde, in der ich mit dreizehn Jahren von der Klippe sprang und mir eine neue Identität zulegte, ein neues Leben, war so ein Moment. Oder als Maria ein Feuer in mir entfachte, das bis heute noch nicht erloschen ist. Auch die weniger angenehmen Momente können Großes auslösen. So wie der Tag, als Justine Nathan zum ersten Mal sah.
Ich hatte alles getan, damit die beiden sich niemals begegnen. Vielleicht hatte ich damals schon gewusst, dass meine Bemühungen vergeblich waren. Denn Lund ist keine große Stadt und die Leute bewegen sich in denselben Kreisen, an denselben Orten, in ausgetretenen Pfaden. Es passierte in der Universitätsbibliothek, wo Nathan und ich für unsere Prüfungen büffelten. Der Geruch von Staub und Leder, die Geräumigkeit der traditionsreichen Lesesäle erleichtern es ungemein, neue Informationen aufzunehmen.
Es war ein ganz normaler Wochentag. Nathan und ich gingen durch die Tür, und da stand Justine vor uns. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden.
Nathan hatte gerade eine Hand auf meine Schulter gelegt und lachte über etwas, das ich eben gesagt hatte. Es war offensichtlich, dass uns eine enge Freundschaft verband. Justine kam uns mit einem sanften Lächeln auf den Lippen entgegen. Sie trug einen weißen Wollmantel, die Haare waren offen, ihre Augen strahlten in dem Licht, das durch die großen Fenster fiel. Sie sah wie eine Waldnymphe aus. Wie kann ein Mensch, der so berechnend ist, zugleich so zart und zerbrechlich aussehen?
Pflichtschuldig stellte ich sie einander vor, während Justine Nathan ungeniert von oben bis unten musterte. Als sie den Mund öffnete und mich mit ihrer heiseren, kraftvollen Stimme ansprach, war die Zartheit verschwunden und die Autorität zurück.
»Warum hast du dieses Juwel vor mir versteckt, Franz?«, fragte sie und strahlte dabei Nathan an.
Hinter ihrem Lächeln verbarg sich ihre Irritation, das konnte ich an ihrem Stirnrunzeln und der Art erkennen, wie sie das Kinn neigte.
»Ähm … wir studieren zusammen, und ich versuche, Studium und Privatleben voneinander zu trennen.«
Das hörte sich so dämlich an, dass ich mir auf die Zunge biss. Nathan starrte mich verwundert an, und ich wusste, dass er meine Lügen von den langweiligen Abendessen, auf denen ich alte Frauen unterhielt, in diesem Augenblick durchschaut hatte. Ich sah Justine mit seinen Augen – schön, charismatisch und autoritär. Nathan starrte sie an, sie war eine Erscheinung.
»Wir müssen jetzt auch wieder weitermachen«, sagte ich und zeigte in Richtung Lesesaal.
Die beiden ignorierten mich.
Justine sagte, sie kenne Nathans Eltern, und stellte ihm Fragen über seine Familie.
Ihre Art, ihn anzusehen, machte mich wahnsinnig. Wie ein Gegenstand, der einem eine Weile nützlich war und den man dann auch wieder wegwerfen konnte.
Nach dem unverhofften Treffen ging das Theater erst richtig los.
Nathan bestand darauf, dass ich ihn mit nach Glimmingeholm nehme. Und Justine befahl mir ebenfalls, ihn mitzubringen. Eines Abends besaß sie die Dreistigkeit, zu sagen, wie gut die Schlangen auf seiner dunklen Haut aussehen würden. Ich zischte sie an: »Kommt nicht infrage.« Innerlich flehte ich sie an: Bitte, lass ihn in Ruhe.
»Kennst du seine Adoptiveltern?«, fragte sie.
»Ich habe sie nur einmal kurz getroffen.«
Das war gelogen. Nathans Eltern lebten in einer schönen, alten Villa in der Nähe des Stadtzentrums, wo wir oft hinfuhren. Dort war es wesentlich gemütlicher als in meiner winzigen Wohnung. Ich mochte seine Eltern sehr gern. Sie waren immer freundlich zu mir, seine Mutter behandelte mich wie ihren eigenen Sohn.
»Das sind Olof und Agneta Ribbing. Sein Vater ist ein steinreicher, schleimiger Finanztyp und die Mutter eine Staranwältin, die nur Bonzen verteidigt, die Steuern hinterziehen und Bestechungsgelder annehmen. Sie sind aus demselben Schrot und Korn wie die anderen in meiner Ausstellung.«
»Was ist falsch daran, Geld zu verdienen?«, fragte ich. »Du gehörst doch auch zum Establishment. Widersprichst du dir da nicht selbst?«
»Ganz und gar nicht. Es geht darum, wie man seine Macht anwendet. Schon als junge Frau wusste ich, dass ich mich in diese Gesellschaft einschleichen muss. Man sollte die Schulter sein können, an der sich andere ausweinen können. Man muss in der Lage sein, die besten Ratschläge zu geben. Sie fallen alle immer wieder darauf rein.«
Justine hatte mir allerdings schon oft ihre Haltung zur Oberschicht erläutert und hatte jetzt nicht vor, sich noch einmal zu wiederholen. Sie sah mich verächtlich an.
»Ich erkenne dich ja gar nicht wieder, Franz. Hast du dich in den Typen verknallt, oder was? So sieht es für mich aus. Natürlich ist es in Ordnung, dass seine Eltern Geld haben, aber nicht, dass sie ihre Machtposition ausnutzen, um die weniger Begünstigten zu unterdrücken.«
»Ich möchte, dass du Nathan in Ruhe lässt.«
»Aber ich brauche ihn. Stell dir vor, mir wird Rassismus vorgeworfen, weil ich nur reiche weiße Söhne porträtiere.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, brüllte ich sie an.
Mich packte die blinde Wut, aber ich durfte ihr keine Luft machen. Eine Auseinandersetzung mit Justine war aussichtslos. Am Ende fühlte man sich dann jedes Mal, als wäre man stundenlang unter Wasser gedrückt worden.
Jetzt im Nachhinein frage ich mich, warum ich mich damals damit abgefunden habe. Die einfache Antwort darauf lautet: Weil sie mir zu meinem gigantischen Erfolg verholfen hat. Die weniger schmeichelhafte Antwort ist: Weil sie mich verzaubert hatte.
Justine brach in Gelächter aus.
»Himmel Herrgott, Franz. Wo ist dein Sinn für Humor? Ich möchte ihn doch nur kennenlernen, sonst nichts.«
Auf keinen Fall, dachte ich im Stillen.
Dann erfand ich alle möglichen Ausreden und tat alles in meiner Macht Stehende, um einen Besuch auf Glimmingeholm zu verhindern. Ich hatte mich bisher noch nicht oft ihrem Willen widersetzt. Aber dieses Mal hielt ich unbeirrt daran fest. Doch meine Versuche, Nathan abzulenken, führten nur dazu, dass er weiter insistierte. Er hatte sich bereits mit dem verführerischen Virus infiziert, mit dem Justine alle in ihrer Nähe ansteckte. Nathan wurde wütend auf mich, und es dauerte nicht lang, dass sich etwas zwischen uns stellte. Zwar sahen wir uns auch jetzt noch so oft wie bisher, aber Nathan hatte eine unsichtbare Mauer errichtet. Ich litt Höllenqualen. Furchtbare Höllenqualen. Hätte ich ihm verraten sollen, was hinter der pathetischen Fassade des Anwesens vor sich ging? Hätte ich das getan, wäre nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
Irgendwann hatte Nathan genug von meinen fadenscheinigen Ausreden und machte sich allein auf den Weg nach Glimmingeholm. Nicht ahnend, dass er Justines nächste Beute sein würde.
Es gibt keinen Grund, dass ich mich ausgerechnet jetzt damit beschäftige. Aber offensichtlich will mir meine Erinnerung etwas damit sagen … Ich sehe Justine vor mir, wie sie in ihrem weißen Wollmantel in der Bibliothek vor uns gestanden hat. Ich denke an ihre fast überirdische Schönheit, ihre vor Vitalität sprudelnde Art. Sie sah so ganz anders aus, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Der gespenstisch blasse Teint, das matte, struppige Haar, der müde Blick. Ich hatte erwartet, dass sie in Würde altert und sich ihre Schönheit bis zum Schluss erhält.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie ist krank! Vielleicht sogar todkrank? Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Wenn Justine weiß, dass ihre Zeit begrenzt ist, muss sie sich an keine äußeren Grenzen mehr halten. Und ich kann mir kaum etwas Gefährlicheres vorstellen als eine Justine, der niemand mehr Einhalt gebieten kann. Sie wird sich an keine Verabredung, an kein Versprechen mehr halten. Sie wird mir bei der ersten Gelegenheit ein Messer in den Rücken stechen. Aus dem schrecklichen Verdacht wird schnell Gewissheit. Justine spielt ein falsches Spiel.
Wenn sie unheilbar krank ist, würde das auch erklären, warum sie es mit der Ausstellung auf einmal so eilig hat und warum sie sich um Elisabeths Zukunft Gedanken macht. Wie ihre Pläne auch aussehen mögen, ich muss befürchten, dass es für mich nicht gut ausgehen wird.
Ich zwinge mich, meinen Fokus auf die Außenwelt zu richten. Der Himmel hat seine Farbe geändert, von einem sanften Rosa in ein helles Grau. Die Schatten in der Heide nähern sich, verschwinden wieder, lösen sich auf. Ein matter Nebel schiebt sich zwischen den Bäumen hindurch. Gierig atme ich die kalte, feuchte Luft ein und mache mich auf den Rückweg. Über den Bäumen im Inselinneren bemerke ich eine Bewegung. Auf einmal ist der Himmel voller Krähen, die aufsteigen und hinabstürzen. Aber sie machen keine Geräusche, krächzen nicht, sondern führen lautlos ihren magischen Tanz auf. Als ich ein Kind war, erklärte mir meine Mutter einmal, dass dieser lautlose Tanz mit der Veränderung der Luftdruckverhältnisse zusammenhängt. Er kann aber auch ein Zeichen für nahende Gefahr sein. Vögel sind in der Lage, Veränderungen lange vor uns Menschen wahrzunehmen.