Ich hatte meine Augen fast die ganze Zeit geschlossen. Vorsichtig blinzele ich, öffne sie ein wenig, sehe zu Sofia hin. Ihr Gesichtsausdruck ist unversöhnlich, grimmig. Sie hat keinen Funken Sympathie mehr für mich übrig. Ihre unendliche Geduld ist für immer versiegt. Ich habe meine Hände zu Fäusten geballt, um meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Gleichzeitig aber werde ich von einer unbekannten Wärme durchströmt, ich bin erleichtert. Sofia ist wütend auf mich, aber es ist ein wunderbares Gefühl, die Wahrheit nicht mehr allein kennen zu müssen.
»Heißt das, Nathan ist nach wie vor in dem Kamin einbetoniert?«, fragt sie.
»Keine Ahnung. Aber klar, sofern Justine nicht den Beton aufgesprengt und ihn woanders hingebracht hat.«
In meiner momentanen Verfassung sollte ich erst denken und dann sprechen. Ich hatte nicht die Absicht, einen Scherz darüber zu machen. Sofias dunkle Wolke wird eine Nuance dunkler.
»Findest du das lustig? Denn ich kann dir versichern, dass ich das hier verdammt ernst nehme.«
Ihr Ton ist so hart und kompromisslos, dass es mir die Sprache verschlägt.
»Los, antworte!«
Ich zwinge mich, sie anzusehen, und räuspere mich.
»Nein, natürlich nicht. Siehst du nicht, wie schlecht es mir geht? Es ist eine Beleidigung, dass du mir so etwas unterstellst.«
Sie mustert mich genau.
»Wusstest du, dass Narzissten ihr Selbstbild künstlich überhöhen, um ihr zerbrechliches, schwaches Ich zu schützen? Vielleicht bist du deshalb immer so schnell gekränkt.«
Ihre Worte treffen mich tief in meinem Inneren. Allerdings ist das Letzte, worüber ich mir im Augenblick Sorgen mache, mein Ansehen oder mein Ruf. Das Einzige, woran ich mich in meinem jämmerlichen Dasein klammern kann, ist meine Intuition und die Überzeugung, dass mein Sohn lebt.
»Thor bedeutet mir alles«, sage ich. »Wenn ich mich gerade irrational und dämlich benehme, liegt das daran, dass ich vor Angst und Sorgen außer mir bin. Und ich habe gerade keine Lust auf eine Psychologievorlesung.«
Darauf antwortet sie nichts, was ich als Zustimmung deute.
»Sag mir bitte, wie du vorhast, Thor zu befreien«, sage ich.
»Erst wenn du mir erzählt hast, wie Thor in diese Sache hineingezogen wurde.«
»Justine hat Krebs im Endstadium. Mir Thor wegzunehmen, ist ihre große Rache an mir – für das, was ich ihrer Tochter Elisabeth angetan habe.«
Ich muss Sofia keine weiteren Details liefern, sie weiß bereits, worum es geht. Schließlich hatte sie Elisabeth damals aufgesucht und sie dazu gebracht, über diese eine Nacht mit mir zu erzählen. In der Zeit hatte Sofia keine Gelegenheit ausgelassen, um mich öffentlich und auf alle erdenkliche Art und Weise zu erniedrigen und zu demütigen.
Sie hat den Kopf abgewendet, folgt mit dem Blick einem Schwanenpaar, das entlang des Ufers nach Nahrung taucht. Ich kann spüren, dass sie sich daran erinnert, wie sehr sie mich damals gehasst und verachtet hat.
»Elisabeth und ich haben uns ausgesprochen, wir sind jetzt Freunde geworden«, füge ich schnell hinzu. »Aber Justine kann es nicht ruhen lassen.«
Das hätte ich nicht sagen sollen, das war ein großer Fehler.
»Jetzt reicht’s, Franz!«, brüllt sie mich an. »Hörst du niemals auf, dein Verhalten zu rechtfertigen?«
»Verzeih«, flüstere ich. »So war das nicht gemeint.«
Sie hebt eine Augenbraue und sieht mich skeptisch an.
»Was hat Justine mit Thor vor?«
»Das hat sie mir schon gesagt. Er ist ihr letztes Modell für ihre Ausstellung.«
Mir kommt ein schrecklicher Gedanke. Als Kind hatte Thor große Angst vor Schlangen. Im Sommer lauerten sie oft im hohen Gras und auf den Feldern. Mehr als einmal musste ich ihn beruhigen, weil wir eine Kreuzotter oder eine Ringelnatter gesehen haben. Ich schlage mir mit der flachen Hand auf die Stirn.
»Oh Gott. Stell dir vor, sie zeigt ihm die Schlangen. Das wird ihm eine schreckliche Angst einjagen …«
Meine Stimme ist heiser, meine Augen brennen. Sofia macht keine Anstalten, mich zu trösten. Sie wartet geduldig, bis mein Kinn nicht mehr zittert und meine Tränen versiegt sind.
»Hm. Da ist etwas, was nicht so richtig zusammenpasst«, sagt sie. »Auch wenn du an Justines Eskapaden beteiligt warst und darum auch bis zum einen gewissen Teil die Verantwortung dafür tragen musst, hast du aber mit Nathans Tod nichts zu tun. Du warst schließlich nicht da, als es passierte, und hast ihn vor allem mehrmals davor gewarnt, nicht nach Glimmingeholm zu fahren. Und trotzdem hast du das nicht bei der Polizei angezeigt, sondern es dreißig Jahre lang geheim gehalten. Das passt nicht zusammen, außer …«
Sie starrte eine Weile vor sich auf den Boden, scheint aber auch keine Antwort von mir zu erwarten.
»Ach so, jetzt verstehe ich!«, ruft sie schließlich. »Dass du bei der Entsorgung der Leiche geholfen hast, ist schon längst verjährt. Dafür kannst du nicht mehr belangt werden. Aber damals wie heute ist dein Hauptinteresse dein eigener Ruf und dein Ansehen. Dieser Skandal hätte dich fertiggemacht. Und du bist beleidigt, wenn ich dich einen Narzissten nenne? Was bist du für ein widerlicher Mensch, Franz.«
Was soll ich darauf erwidern? Ich bin Sofias Barmherzigkeit schutzlos ausgeliefert. Ich bin verzweifelt und verwirrt.
»Vielleicht sollte ich mir doch einen Hund anschaffen«, rutscht es mir heraus.
»Was?«
»Ich kann meinen eigenen Sohn nicht beschützen, vielleicht sollte ich es erst einmal mit einem Hund versuchen?«
»Reiß dich zusammen, verdammt noch mal«, faucht sie mich an. »Wir erledigen jetzt eine Sache nach der anderen. Ich helfe dir, aber nur unter einer Bedingung. Wenn wir Thor befreit haben, gehst du sofort zur Polizei und machst eine Aussage.«
Ohne Umschweife lasse ich mich darauf ein. Mein Leben ist schon vermasselt genug, der Skandal, der entsteht, wenn ich die Wahrheit preisgebe, wird das nicht wesentlich verschlimmern können.
»Und wie bekommen wir ihn da raus?«, frage ich.
»Wir beide werden bei der Befreiung nicht beteiligt sein. Das überlassen wir den Deprogrammierern.«
Deprogrammierer. Das Wort lässt meine inneren Alarmglocken schrillen. Diese Gruppe ist Auftragskillern ähnlicher, als mir lieb ist. Sie entführen, foltern und unterziehen Jugendliche aus spirituellen Gemeinschaften einer Gehirnwäsche, wenn ihre Eltern davon überzeugt sind, dass es sich um Sekten handelt. Ich habe meine Mitglieder auf ViaTerra immer vor diesen Deprogrammierern gewarnt. Sie sind der Abschaum der Erde. In den USA kam es zu einem großen Skandal, als ihre Methoden in den Siebzigerjahren öffentlich gemacht wurden. Die Anführer dieser Bewegung bekamen hohe Gefängnisstrafen. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Wahnsinn nach wie vor stattfindet. Und auch in Schweden?
»Das ist nicht dein Ernst?«, sage ich und werfe die Hände in die Luft. »Was soll das?«
Sofia legt ihre Hand auf meinen Arm.
»Hör doch erst einmal zu. Ich befürworte die Deprogrammierung auch nicht. Aber heutzutage ist das nicht mehr wie in den Siebzigern, als sie Gewalt und Psychoterror als Mittel eingesetzt haben, damit die Jugendlichen ihre religiösen Überzeugungen aufgaben. Ich habe mit einigen von ihnen ein paarmal zusammengearbeitet, wenn wir jemanden aus einer Sekte befreit haben. Nur, um ihnen die Gelegenheit zu geben, mit ihren Eltern zu sprechen und eventuell auszusteigen, wenn sie das wollten. Da Deprogrammierung nicht legal ist, bleibt das hier unter uns.«
»Die sind also noch aktiv? Auch hier bei uns in Schweden?«
»Ja, ein paar von ihnen. Und die kenne ich, wofür ich mich auch nicht entschuldigen werde. Es wäre eine große Hilfe gewesen, solche Leute zu kennen, als ich in deiner Sekte war.«
»Sofia …« Ich seufzte. »Bin ich wirklich so furchtbar gewesen? Deprogrammierer. Du bist ja eine Fanatikerin.«
»Um deine Frage zu beantworten. Ja, du warst furchtbar. Und ich bin übrigens keine Fanatikerin, sondern nur sehr engagiert bei dem, was ich tue.«
»Und was hat das jetzt mit Thor zu tun?«, frage ich.
»Du meinst die Deprogrammierer? Gar nichts. Aber einige von denen haben Spezialausbildungen absolviert und sind in der Lage, für Geld praktisch jeden zu befreien.«
Ein kleines Licht flackert in meinen dunklen Gedanken auf.
»Das heißt, die können Thor da rausholen?«
»Ja, klar!«
»Das Grundstück ist videoüberwacht und alarmgesichert, außerdem hat Justine Kampfhunde.«
»Kein Problem für die Jungs. Sie haben Betäubungspistolen und noch anderes Zeug, worauf ich lieber nicht weiter eingehen will. Aber es wird dich eine Stange Geld kosten.«
»Ich bezahle jeden Preis.«
»Ausgezeichnet. Ich habe schon mit ihnen gesprochen. Sie sind bereit und werden die Befreiung heute Abend durchführen, sobald es dunkel wird. Allerdings benötigen sie die Hilfe deiner IT-Leute. Jemand muss sich in das Sicherheitssystem auf Glimmingeholm hacken und die Codes und Passwörter herausbekommen.«
»Hampus ist gerade im Urlaub, aber ich habe Cornelia, die von Göteborg aus für mich arbeitet. Sie ist eine hervorragende Hackerin.«
»Sehr gut. Dann haben wir einen Plan.«
Ich sitze mit offenem Mund da. Das ist alles so … durchdacht und raffiniert ausgeklügelt.
»Nachdem dir Julia gestern erzählt hat, was mit Thor ist, hast du also sofort die Jungs kontaktiert und diesen Plan ausgeheckt?«
Während ich mich wie ein nervöses Wrack verhalten und nichts von Bedeutung in die Wege geleitet habe, denke ich zwar, sage es aber nicht laut.
»Für meine Tochter würde ich alles tun«, sagt sie. »Und auch für Thor.«
»Wer sind diese Männer, die für die Befreiung zuständig sind?«
»Es sind zwei. Mehr musst du nicht wissen. Weißt du, wo Justine Thor gefangen hält?«
»In der Kapelle oder in der Jagdhütte.« Mir wird plötzlich gleichzeitig heiß und kalt. »Inzwischen wahrscheinlich in der Jagdhütte.«
Ich hatte auch schon einiges über diese Typen gelesen, die solche Aktionen durchführen. Ich wusste, was für Spezialausbildungen und intensive Trainingseinheiten sie absolviert haben und welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen. Das war sicher machbar. Obwohl er gefährlich und verrückt war, klang Sofias Plan genial. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass solche Operationen durchführbar sind. Filip, einer meiner Mitarbeiter, war früher Berufssoldat und hat mir schon des Öfteren bei ähnlichen Missionen geholfen. Ich überlege, ob ich Sofia vorschlagen soll, ihn ebenfalls hinzuzuziehen, entscheide mich aber dagegen. Schon, weil er nicht rechtzeitig da sein könnte. Außerdem ist er leider etwas unzuverlässig und bei dieser Sache darf nichts schiefgehen.
Ganz langsam lässt meine Panik nach. Nicht mehr alles ist nur düster und verloren. Auch mein Gefühl, hilflos im luftleeren Raum zu schweben, ist verschwunden. Ich habe wieder Hoffnung. Die Sonne bricht durch die Wolken und wärmt mein Gesicht. Die Vorhersage hat von Regen gesprochen, aber der Himmel ist blau, Schönwetterwolken ziehen Richtung Insel. Die Sonne wärmt die feuchten Felsen, dünne Rauchschwaden steigen auf. Der Anblick hat etwas Andächtiges. Endlich sehe ich Licht am Ende des Tunnels. Das ist wunderbar.
»Ich weiß nicht, wie ich dir dafür danken soll.«
»Es ist noch nicht vorbei, Franz. Wir haben viele anstrengende Stunden vor uns, und trotz allem ist es leider keineswegs ausgeschlossen, dass etwas schiefgeht.«
»Was machen wir dann?«
»Zur Polizei gehen und das Beste hoffen.«
»Das darf nicht schiefgehen«, sage ich und balle die Fäuste.
»Das liegt nicht mehr in deiner Hand, lass es los. Du bist jetzt auf die Einsatzbereitschaft anderer angewiesen.«
Eine Windböe weht Sofia eine Haarsträhne ins Gesicht. Sie steckt sie sich hinters Ohr. Ihr Blick gleitet über mein Gesicht, als würde sie darin wie in einem Buch lesen. Mit jedem Jahr wird sie schöner. Außerdem verfügt sie über ein Selbstbewusstsein, mit dem noch nicht einmal ich es aufnehmen kann. Kein Wunder, dass sie mir damals sofort gefallen hat. Die meisten Menschen, die im Laufe des Lebens meinen Weg gekreuzt haben, sind wieder daraus verschwunden. Wie Schattenfiguren, die ich vergessen habe. Aber Sofia nicht. Seit dem Schlaganfall habe ich begriffen, was ich ihr angetan habe. Wie ein Geschwür ist diese Erkenntnis gewachsen und hätte mich um ein Haar zerstört. Mein Verhalten war unverzeihlich, und es hat lange keine Aussicht auf Versöhnung gegeben. Meine Hoffnungslosigkeit wucherte in mir. Ich habe nie aufgehört, an Sofia zu denken. In gewisser Weise ist sie auch nicht von meiner Seite gewichen, sie war immer bei mir, bei jedem Atemzug. Am liebsten würde ich hier ewig sitzen bleiben und ihrer schönen Stimme lauschen.
Aber Sofia hat andere Pläne. Sie springt auf und klopft sich die Hose ab.
»Komm, wir fahren los. Du kannst Cornelia von ViaTerra aus anrufen. Ich brauche einen Raum, in dem ich ungestört mit den Typen telefonieren kann. Du fertigst bitte eine Skizze des Anwesens an, damit können die arbeiten.«
»Und warum bleiben wir auf Dimö? Sollten wir nicht auch vor Ort sein?«
»Kommt nicht infrage. Hier habe ich dich am besten unter Kontrolle. Außerdem hassen die Jungs jede Art von Einmischung.«
Amüsiert sah sie mich an.
»Du bist ja ein bisschen rot geworden.«
»Quatsch, das ist die Sonne.«
Ihre Gesichtszüge werden weich, und sie lacht herzlich.
»Du glaubst, dass ich dein schlimmster Albtraum bin, aber warte nur ab. Ich wollte mit dir sprechen, bevor Julia nachher mit der Nachmittagsfähre kommt.«
Na wunderbar, dachte ich frustriert. Normalerweise fühle ich mich in Julias Gesellschaft sehr wohl, aber unter den gegebenen Umständen ist sie die Letzte, der ich gegenübertreten möchte.