Wir trafen uns im Larry’s am üblichen Tisch am Fenster. Nur Cameron kam zu spät. Er wirkte gereizt und wollte ewig nicht rausrücken, worum es ging, weil ja mein Geburtstag war. Aber als wir nicht lockerließen, sagte er, sein Vater habe ihm erzählt, dass das Larry’s im Herbst schließen würde.
Wir konnten es nicht fassen und blickten zum Eigentümer, der wie immer müde hinter dem Tresen stand. Der alte Larry und sein Diner waren die Institution in Grady. Cameron hatte mal erzählt, dass es den Laden bereits seit den Zwanzigern gab und auch sein Dad als Jugendlicher oft hier gewesen sei und mit Larry über Mädchen und die Grady Hornets gequatscht habe.
»Es weiß noch keiner«, sagte Cameron. »Mein Dad meint, es gibt bisher nur einen Interessenten, er kommt von hier und will einen Friseursalon draus machen. Entweder er kauft den Laden, oder das Ding schließt.«
Kirstie war so aufgebracht, dass sie Larry sofort zur Rede stellte. Ich beobachtete, wie sie zu ihm an den Tresen lief und auf ihn einredete, während er nur dastand und ab und zu mit den Schultern zuckte oder etwas murmelte.
»Es stimmt.« Sie kam zurück. »Er meint, er braucht das Geld für das College seiner Enkelin. Sein Sohn war bei der M-Tex und ist arbeitslos, deshalb muss er sie unterstützen.« Sie verzog das Gesicht. »Toll, jetzt können wir nicht mal richtig sauer auf ihn sein. Und übrigens: Er heißt auch gar nicht Larry, sondern Arthur, und er meinte, schon der Typ vor ihm habe nicht Larry geheißen!«
Wir blickten uns um: Der Spiegel hinter der Theke hatte einen Sprung, das rote Leder der Barhocker war rissig, die Farbe an den Wänden vergilbt. Okay, der Laden war alt und renovierungsbedürftig, aber er war unser Laden. Das alles erinnerte an das benachbarte Brisbee, wo vor Jahren die mächtige Morgan Steel Company schließen musste. In der Folge hatte ein Geschäft nach dem anderen zugemacht, die Leute waren in Scharen weggezogen, dafür hatte sich in der halbverwaisten Mall eine Junkie-Szene etabliert. Und nun schien Grady auf dem besten Weg, das gleiche Schicksal zu erleiden … Mir fiel eine Stelle aus einem Gedicht von Morris ein, in der beschrieben wurde, wie die Menschen in den Fabriken die Zukunft herstellten: »Sie weben sie aus Wolle, sie formen sie aus Stahl« – lange her.
»Okay, und jetzt harter Themawechsel!«, sagte Cameron und holte sein Geschenk hervor. Er hatte es offensichtlich selbst eingepackt und mit mehreren Schichten Klebestreifen überzogen. »Happy Birthday, alter Knabe!«
Zwei Platten: Discovery von seiner Lieblingsband ELO und Rumours von Fleetwood Mac. Dazu eine Riesentüte Skittles. »Falls du die Musik nicht magst.«
Und wie ich sie mochte!
Beim Essen beobachteten wir dann, dass an einigen Tischen die Gruppen auf fast schon klischeehafte Weise zusammensaßen: die Sportler, die Außenseiter, die Streber, die Cheerleader, die Leute aus dem Theaterkurs. Cameron behauptete, nichts davon sei wirklich echt und sie würden letztlich alle nur eine Rolle spielen.
Und Hightower entgegnete, das würde man sowieso, und zwar auch vor sich selber.
Und Kirstie fragte, ob es dann letztlich gar kein richtiges Ich gäbe, wenn man auch vor sich selbst nur eine Rolle spiele.
Und ich sagte, dass ich nicht mal wisse, welches mein Ich sei: Sam, der hier am Tisch saß und gerade diese Worte sprach. Oder das unsichtbare Wesen in meinem Kopf, das Sam dabei beobachtete und alles innerlich kommentierte.
Aber was, wenn auch das falsch war? Wenn das wahre Ich eben nicht die eigenen Gedanken, Gefühle und inneren Stimmen war, sondern etwas dahinter, das man nur erahnen, aber nie ganz erwischen konnte?
Darüber sprachen wir, und ich blickte zu Cameron, der sarkastische Sprüche riss, weil er in Wahrheit an den Dingen hing, und der die Schule kaum geschafft hatte und gern im Mittelpunkt stand und sich von seinem Dad nach Chicago schicken ließ. Und ich beobachtete Hightower, der jeden Morgen mit mir lief, obwohl ich viel langsamer war, und der beliebt und kräftig war und schon viel in seinem Leben durchgemacht hatte und deshalb oft schroff wirkte, aber immer für einen da war. Und ich beobachtete Kirstie, die sich Notizen machte und seltsame Dinge wie »Quittung der Nacht« und »auf den schwarzen Klaviertasten spielen« sagte, und die schon mit vielen Jungen etwas gehabt hatte und selbstsicher wirken konnte, und trotzdem allein auf dem Friedhof saß oder Angst hatte, nicht gut genug zu sein. Sie waren alle so unterschiedlich in ihren Rollen. Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.
Kirstie rief gerade mit einem Shake in der Hand zu Hightower: » … nein, das stimmt einfach nicht!«
Sie wirkte dabei wie immer so überzeugt, doch plötzlich stellte ich mir vor, wie wir als Erwachsene Witze darüber reißen würden, wie wir damals im Larry’s saßen und über Dinge sprachen, von denen wir keine Ahnung hatten. Ich bin sicher, dass es so sein wird, weil ich zum Beispiel jetzt schon glaube, dass ich mit dreizehn Jahren keine Ahnung von gar nichts hatte. Aber ich weiß noch, wie Stevie und ich damals stundenlang über alles Mögliche diskutiert hatten, über den Tod, über unsere Mitschüler und wie wir später mal sein wollten. Und es war alles wahr, was wir damals gesagt hatten. Und es ist auch alles wahr, was wir an diesem Nachmittag im Larry’s gesagt haben. Und es wird auch wahr sein, wenn wir als Erwachsene das Ganze als jugendliches Gerede abtun.
Vor dem Diner stand das Bruce-Mobil. Ich wollte auf die Ladefläche klettern, doch Kirstie sagte, an meinem Geburtstag dürfe ich nach vorne zu Hightower – und solle mich schon mal »bereithalten«.
Der Motor startete. Sofort ertönte Springsteens wehmütige Stimme:
Everything dies, baby, that’s a fact
But maybe everything that dies someday comes back.
Die ersten Minuten der Fahrt sprach keiner. Ich fragte mich, was für ein Geschenk Kirstie sich wohl ausgedacht hatte. Nervös griff ich nach der Tüte Skittles und bot auch den anderen an. Alle griffen zu, nur Cameron winkte ab.
»Bin leider auf Entzug.« Er gab mir die Tüte durch das Heckfenster zurück. »Früher hab ich oft zwei Packungen auf einmal gegessen, ich hab das Zeug inhaliert.«
»Du musstest dauernd davon kotzen«, sagte Hightower.
»Danke für diesen überaus wertvollen Kommentar«, sagte Cameron. »Aber es stimmt, und selbst die Kotze hat nach sauren Bonbons geschmeckt und mir sofort wieder Lust auf Skittles gemacht … Die Spirale des Horrors.«
Wir verließen die Stadt westwärts, dann hielt der Pick-up auf dem Parkplatz der Heartland Plaza Mall; gleich neben Moms alter Klapperkiste und dem verhassten Mercedes von Chuck Bannister.
»Wir sind aus zwei Gründen hier«, sagte Kirstie vor dem Eingang zu mir. »Zum einen brauchen wir ein paar Sachen für unterwegs. Zum anderen wartet hier die erste Prüfung auf dich: Die Finger eines Meisters.«
Und dann erklärte sie mir, dass ihr Geburtstagsgeschenk an mich aus drei Prüfungen bestand, denen ich mich ohne Widerrede stellen müsse.
Das war es, was ich ihr in der Werkstatt versprochen hatte.