In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Das alles ist jetzt schon mehr als ein Jahr her, aber für mich wird es immer »dieser« Sommer bleiben. Komischerweise denke ich oft daran, wie ich damals hinter dem Haus stand und mit einem Schlauch den Garten besprengte. Es war der Anfang der Sommerferien, und von dem Berg an Langeweile, der vor mir aufragte, hatte ich noch nicht mal die Spitze abgetragen.

Ich starrte auf die Felder in der Ferne. Die Luft stand still, und je länger ich auf diese idyllische Landschaft blickte, desto unschärfer wurde sie an den Rändern. Bis ich dahinter wieder die Angst spürte, die ich aus meiner Kindheit kannte: Dass der Moment gleich kippen und etwas Schlimmes geschehen würde … Aber wie immer betrog mich dieses Gefühl. Weil, danach passierte natürlich wieder gar nichts.

Bis mich meine Eltern ins Wohnzimmer riefen.

 

In diesen Ferien hatten sich ein paar Dinge fast über Nacht geändert, wie wenn man überrascht feststellt, dass man ein Stück gewachsen ist. Mich überkam öfter aus dem Nichts eine seltsame Wut, und ich stellte mir Fragen, die ich mir früher nie gestellt hatte. Zum Beispiel, wieso die meisten

Jedenfalls, die beiden saßen also auf der Wohnzimmercouch und verkündeten, dass sie tolle Nachrichten für mich hätten.

»Wir haben mit Tante Eileen gesprochen«, sagte Mom, »du kannst sie für ein paar Wochen besuchen. Jimmy und Doug würden sich freuen.«

Ich hatte Mühe, meine Atmung zu kontrollieren. Jimmy und Doug waren meine Cousins aus Kansas, sie wogen zusammen so viel wie ein Pferd und hatten mir schon einige Abreibungen verpasst. Ich konnte mir vorstellen, dass sie sich auf mich freuten. Bei meinem letzten Besuch hatte ich mich vor ihnen auf der Mülldeponie versteckt und den ganzen Tag Steine auf ein rostiges Schild geworfen.

»Das könnt ihr nicht machen … Im Ernst, niemals fahre ich da noch mal hin.«

Dad sagte streng wie immer: »Doch, das tut dir gut! Du bist die letzten Tage wieder nur in deinem Zimmer gehockt. Du musst mal raus und unter Leute.«

Und Mom sagte: »Schatz, ich weiß, dass die Situation mit mir … schwierig für dich ist. Aber gerade deshalb ist es gut, wenn du nicht so allein bist. Vielleicht findest du in Wichita ja auch ein paar Freunde.«

Das war’s also, diese Freundesache war schon seit Monaten ihr großes Thema. Ich war fast sechzehn, und sie behandelten mich wie ein Kind.

Mom kam mit ihren Tippelschritten zu mir. Obwohl sie so zerbrechlich wirkte, presste sie mich an sich, und für einen Moment schimmerte etwas Ernsteres durch dieses Gespräch. Doch damals wollte ich es nicht sehen.

»Ich will nicht zu Tante Eileen«, sagte ich nur, mit dem traurigsten Blick, den ich draufhatte. Meine letzte Chance, aus der Nummer noch mal rauszukommen.

Aber nicht mit Mom. »Tut mir leid, Schatz, da musst du durch.«

Ich stellte mir mein Ferienprogramm in Kansas vor. Tagsüber: Spaß und Spannung auf der Mülldeponie. Abends: Die besten Schwitzkastengriffe mit Jimmy und Doug.

Na schön, es war also an der Zeit, meinen Eltern auf sachliche Weise klarzumachen, wieso ich dafür nicht in Frage kam. Ich würde sie mit meinen überlegenen Argumenten überzeugen, und danach würden sie ein für alle Mal wissen, dass ich jetzt alt genug war und fortan mein eigenes Ding machte.

»Ihr könnt mich mal!«, rief ich und stapf‌te nach oben.

 

Am Nachmittag streckte ich den Kopf aus dem Zimmer und lauschte: Mom war wieder in ihren Buchladen gegangen. Wie immer, wenn sie nicht da war, hatte sich die Atmosphäre im Haus verändert. Ich spürte sofort: Er war noch da. Es gab zwei Sorten von Stille; die neutrale Sorte, und dann noch die Stille meines Vaters. Ein brütendes Schweigen, das ich selbst von hier oben hören konnte. Ich

Bis zum Abend streif‌te ich allein durch den Ort. Da ich kein Geld hatte, ging ich ins Replay Arcade, eine Spielhölle in der Mall, und schaute, ob jemand den Rekord bei Defender geknackt hatte. Und fast hätte ich mich auch zum ersten Mal ins Larry’s getraut – bis ich durch die Scheibe Chuck Bannister sah. Das Larry’s war die Institution in Grady; das Diner, in das alle älteren Jugendlichen gingen. Es gab ein paar ungeschriebene Gesetze. Zum Beispiel, dass man mit fünfzehn dort nichts zu suchen hatte. Und dass man schon gar nicht reinging, wenn ein Psychopath wie Chuck Bannister drinnen saß, der es auf einen abgesehen hatte.

Stattdessen hockte ich mich auf einen Mauersims. Eine Weile betrachtete ich die vorbeifahrenden Autos, dann hatte ich plötzlich wieder die Bilder mit meiner Mom vor Augen. Damals dachte ich ständig daran, in den unmöglichsten Momenten. Es war wie ein dunkles Summen in meinem Kopf. Manchmal war es um mich herum laut genug, dass ich es nicht hörte. Aber weg war es nie.

Auf dem Nachhauseweg kam ich an dem einzigen Kino vorbei, das es in unserem Kaff gab: das Metropolis. Im

METROPOLIS

Aushilfe gesucht!

Daneben ein Plakat mit irgendeinem französischen Schwarzweißfilm; kein Wunder, dass der Laden bald schließen musste.

Ich wollte gerade weiter, da hörte ich Stimmen aus dem Foyer und linste hinein: An der Kinokasse standen zwei Jungen und ein blondes Mädchen in Angestellten-Shirts, alle älter als ich. Das Mädchen war mir nicht ganz unbekannt. Beim Reden lehnte sie sich vor, als erzählte sie das Spannendste der Welt, dann lachte sie über eine Bemerkung der Jungen. Kurz darauf verschwanden alle drei in einem Saal. Ich schaute noch mal hoch zu dem weißen Schild mit den roten Lettern M-E-T-R-O-P-O-L-/-S (das »I« hing herunter, als wäre es gestolpert) und ging nach Hause.

 

Meine Eltern spielten in der Küche Scrabble. Wie immer schien Dad zu gewinnen. Ideenlos und systematisch versuchte er zu verhindern, dass Mom Punkte machte, während sie lieber schöne, aber nutzlose Worte wie »Verblendung« und »Schurwolle« legte. Auch sonst hätten sie nicht unterschiedlicher sein können: Mom klein und zierlich, mit Brille, bunter Bluse und selbstgeknüpf‌ten Bändern an den

Vor dem Abendessen sagten meine Eltern, dass wir in den nächsten Tagen noch mal »ohne Drama« über Kansas reden würden – dann gab es meine Lieblingspizza. Vermutlich glaubten sie, dass sie mich mit einem derart billigen Trick besänftigen konnten und, na ja, so war’s auch. Trotzdem weiß ich noch, dass ich später nicht schlafen konnte. Ich lag im Bett und dachte: Vielleicht wären ein paar Freunde doch ganz gut. Und ich dachte: Wieso bin ich nur so verflucht still?

Meine Schwester Jean zum Beispiel: Die kam auf die Welt, war sofort selbstbewusst und traute sich alles, während ich mich wirklich vor jedem Mist fürchtete. Früher musste ich mit meinen Angststörungen sogar zur Schulpsychologin. Mal hatte ich die stickige Sporthalle nicht mehr betreten können, mal im Unterricht Panikattacken bekommen. Dann war es jedes Mal, als wäre mein Verstand eine Lagerhalle mit unzähligen Lichtern, und plötzlich fiel ein Licht nach dem anderen aus, bis ich in vollkommener Dunkelheit stand. Das fühlte sich immer an wie Sterben.

Ich schätze, damals war ich auch noch ein ziemlicher Freak. So hatten mich zumindest ein paar Mitschüler genannt. Doch im Laufe der Jahre war ich dann so harmlos geworden, dass sie mich nicht mal mehr für die Mathe-Einsen hassten. Seit Stevies Umzug im Herbst saß ich in der Cafeteria allein am Tisch. Selten hockte sich ein anderer

 

Als ich nach Mitternacht noch wach war, ging ich in das Zimmer meiner Schwester. Jean war viel älter als ich und schon vor Jahren an die Westküste gezogen, und meine Eltern hatten alles unberührt gelassen, falls sie mal zu Besuch kam. Nur tat sie das fast nie. Eine Weile saß ich auf ihrem Bett und hörte mir ihre alten Musikkassetten an. Und da vermisste ich sie wirklich sehr, dabei hatten wir früher fast nie etwas zusammen gemacht. Aber vielleicht ja gerade deshalb.

Schließlich zog ich meine Jacke an und ging auf den Friedhof. Wobei das jetzt wieder klingt, als wäre ich gestört oder so. In Wahrheit wohnten wir einfach direkt daneben, in dem weißen Schindelholzhäuschen, in dem vor uns ein Förster mit seiner Frau gelebt hatte. Der Friedhof lag auf einem Hügel außerhalb der Stadt, und manchmal reagierten die Leute geschockt, wenn ich sagte, dass ich von meinem Fenster auf einen Haufen Gräber schauen konnte. Aber das Haus war billig, und wir waren nicht gerade reich. Und ich fand das mit dem Friedhof auch nie schlimm. Ganz im Ernst, ich mochte die Stille sogar. Damals war ich oft dort, wegen Mom und diesem dunklen Summton in meinem Kopf. Dann stellte ich mir vor, wie eines Tages die Beerdigung wäre und wie ich danach herkommen würde. Schon komisch: In meinem Zimmer war der Gedanke an den Tod oft nicht auszuhalten. Und ausgerechnet auf dem Friedhof beruhigte ich mich dann wieder.

Für eine Sommernacht war es kühl, der Himmel wuchtig

So hatte alles angefangen: mit zwei harmlosen Stürzen.

Ich schlenderte über den Friedhof und schaute auf den Grabsteinen nach etwas Besonderem: MARTHA F. SUDEROW, 24. APRIL 1876 – 1MÄRZ 1979; hundertzwei Jahre! Am liebsten dachte ich mir kurze Lebensläufe für die Toten aus: CARL ROTHENSTEINER, 12. APRIL 190121. FEBRUAR 1973: Solider Handwerker, viele Krisen überstanden, nie darüber geklagt. Schlechter Pokerspieler, St. Louis-Rams-Fanatiker, wortkarg, manchmal im Kino geweint. Plötzlicher Herzinfarkttod, wenige Tage zuvor noch eine Aussprache mit seinem Sohn nach zwölf Jahren Streit …

Als ich gerade zum nächsten Grab kam, hörte ich den Kies knirschen.

Im Dunkeln blitzte ein blonder Haarschopf auf. Ich kniff die Augen zusammen und sah, dass es das Mädchen aus dem Kino war. Damals wusste ich nur, dass sie Christie oder Kirstie hieß und auf meine Highschool ging. Natürlich hatte ich sie schon öfter gesehen, sogar hier auf dem Friedhof, doch erst seit kurzem nahm ich sie richtig wahr. Wie ein Wort, das man neu gelernt hatte und das prompt überall auf‌tauchte.

Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Sie bemerkte mich nicht und huschte geisterhaft zu einem Grab neben dem Eingang. Es zischte. Für einen Moment war ihr Profil vom

Auf einmal fuhr sie herum – und blickte direkt zu mir.

Ich zuckte zusammen, als hätte mir jemand einen Eiswürfel ins T-Shirt gesteckt.

Sie schien nicht überrascht, dass ich da war. Sie rauchte nur und betrachtete mich eine Weile. Dann trat sie durch die Pforte und ging.

Der Nachtwind wehte vom Wald herüber. Noch immer stand ich im Dunkeln und sah ihr nach, die ganze Zeit, auch, als sie schon längst verschwunden war. Und mehr gibt’s nicht zu sagen, bevor ich am nächsten Tag im Kino anfing und der schönste und schrecklichste Sommer meines Lebens begann.