Für die hundert Meter zur Kirche brauchte ich eine Ewigkeit. Immer wieder musste ich eine Pause machen, denn mit jedem Schritt meldete sich eine neue Stelle, die weh tat. Meine Rippen. Meine Nase. Meine Hüfte. Meine Lippen. Mein Kiefer. Am meisten schmerzte, dass Chuck mich so vernichtend geschlagen hatte. Die Sonne brannte in meinem Nacken. Ich steckte mir eine Zigarette an und versuchte mit Spucke, mein Gesicht von Blut zu säubern. Allerdings war ich nicht sicher, ob ich es nicht nur verteilt hatte. Auch auf dem weißen Hemd waren ein paar rote Tropfen, mein Anzug an zwei Stellen aufgerissen, dazu mit Milkshake beschmiert. In dieser Aufmachung stieß ich schließlich das Tor zur Kirche auf.
Die Trauerfeier hatte schon angefangen. Ich hatte so viel Adrenalin in mir, dass ich das Tuscheln der Leute kaum bemerkte. Meine Großtanten aus Kansas hielten mich besorgt am Arm fest. Doch ich riss mich los und ging nach vorne, denn mein Platz war in der ersten Reihe, gleich neben Dad.
Ich hatte ihn fast erreicht, da entdeckte mich auch Reverend Connors. Er unterbrach seine Predigt und fragte, ob es mir gutgehe oder ob ich einen Arzt bräuchte. Und ich sagte, ja, es gehe mir gut, und nein, ich bräuchte keinen Arzt. Der Reverend schien da seine Zweifel zu haben, aber wie bei allen Beerdigungen in Grady war die Kirche voll, und so machte er weiter.
Dad blickte mich mit großen Augen an. Als wir aufstanden, um ein Lied zu singen, zischte er mir zu: »Wo warst du, was ist passiert?«
»Schlägerei«, murmelte ich nur.
Er seufzte. »Und wo ist Jeany, war sie nicht bei dir?«
Ich machte ein überraschtes Gesicht. »Nein. Wieso? Ist sie nicht hier?«
Dad schüttelte den Kopf. Er tat mir leid, denn diese Beerdigung war für ihn vermutlich das Wichtigste auf der Welt. Und nun kam der Sohn zu spät und verprügelt, und die Tochter tauchte gar nicht erst auf.
Beim Singen drehte ich mich vorsichtig um und suchte nach Kirstie, Cameron und Hightower. Fast hätte ich einen Schreck gekriegt, denn sie standen direkt hinter mir und warfen mir ebenfalls fragende Blicke zu.
Die Trauerfeier zog sich in die Länge. Der Reverend las eine Geschichte aus der Bibel und dann irgendwas von Maria und trank dazwischen oder danach einen Schluck Wein, und ich verstand überhaupt nicht, was das alles mit Mom zu tun haben sollte, außer, dass sie auch immer ganz gern Wein getrunken hatte.
Irgendwann tropfte mir Blut aus der Nase, und Dad reichte mir ein Taschentuch. Ich hielt es vors Gesicht und beobachtete wieder die mechanischen Mundbewegungen des Reverend beim Predigen. Er redete davon, dass Gott unsere Gebete erhört, und vom ewigen Paradies. Und plötzlich wurde mir klar, dass aus diesen Worten in Wahrheit Angst sprach. Und dass eine große Freiheit darin lag, seine Unwissenheit und Furcht zuzugeben. Ja, ich wusste nicht, was nach dem Tod geschah und ob es Gott gab oder nicht. Ja, ich hatte Angst vor dem Nichts. Aber ich flüchtete mich nicht in Stellen aus der Bibel, sondern versuchte, es irgendwie auszuhalten.
Je länger die Trauerfeier dauerte, desto mehr driftete ich ab. Ich ging wieder einzelne Szenen aus dem Kampf mit Chuck durch, mein Kiefer tat inzwischen wirklich sehr weh, und dann sagte Reverend Connors auf einmal: »Und zum Abschluss wollte der junge Samuel für seine Mutter noch ein Lied singen. Victory in Jesus von Eugene Monroe Bartlett senior.«
Da kam ich wieder zu mir.
Mit einem Ächzen stand ich auf und schleppte mich zum Altar. Ein Raunen ging durch die Kirche, die Leute starrten mich an. Nicht alle hatten vorhin mitbekommen, in welchem Zustand ich war.
Connors legte mir die Hand auf die Schulter. »Bist du sicher, dass du das kannst?«
Ich nickte nur. Der Reverend schien unsicher, wie er mit all dem umgehen sollte. Er machte seit Jahrzehnten die gleichen Gottesdienste, die gleichen Beerdigungen, die gleichen Taufen. Das hier war klar eine Änderung im Plan. Doch das Einzige, das noch verrückter gewesen wäre, als diese zerrupfte, blutbesudelte Jammergestalt vor allen Leuten ein Lied singen zu lassen, war, ihr diesen Wunsch bei der Beerdigung der Mutter abzuschlagen.
Mein Glück war die allgemeine Verwirrung über mein Aussehen, denn so beachtete kaum jemand, wie ich in den kleinen Raum hinter dem Altar ging. Die Ministranten musterten mich, dann drückten sie mir meine Rickenbacker-E-Gitarre in die Hand.
»Das Kabel reicht auf jeden Fall, hat sie extra noch geprüft!«, sagte der eine, und ich dachte: Jean ist ein alter Profi, die überredet jeden und überlässt nichts dem Zufall.
Ich bedankte mich, dann trat ich wieder in den Kirchenraum.
Reverend Connors saß in der ersten Reihe neben Dad. Als er mich mit der umgehängten E-Gitarre sah, machte er ein befremdetes Gesicht, sagte jedoch nichts. Ich nahm das Mikrophon und bemerkte das getrocknete Blut an meinen Fingern. Dann schaute ich auf die Gäste. Links die Wozniaks, rechts die Turners, aber es waren auch viele Leute aus dem Ort gekommen, die Mom seit Jahren kannten. Dr. Hogue, der meine Schwester und mich entbunden hatte. Mr. Chbosky, der Optiker, der in ihrem Leseclub gewesen war und bei dem sie ihre Brillen kaufte. Mrs. Fisher, meine Grundschullehrerin und eine treue Kundin (sie hatte Bücher für den Unterricht immer bei meiner Mutter bestellt). Wo ich hinsah, entdeckte ich Gesichter, die im Leben von Mom eine Rolle gespielt hatten.
Stille, alle richteten den Blick nun auf mich. Es fiel mir schwer, vor so vielen Leuten zu sprechen. Ich bekam kaum den Kopf hoch, als hinge mir ein schweres Bleigewicht um den Hals.
»Der Song ist für meine Mutter«, sagte ich leise. »Für Annie.«
Meine Stimme zitterte. Ich blickte zu Dad und sah, dass er feuchte Augen hatte, also sah ich schnell wieder weg zu Kirstie, die mir aufmunternd zunickte.
»Die meisten von euch wissen, dass sie krank war. Sie wusste, dass sie vielleicht nicht mehr lange lebt, und wenn sie Angst gehabt hat, hat sie alles Mögliche gemacht, um sich abzulenken. Manchmal hat sie sich sogar ihre eigene Beerdigung vorgestellt.«
Zu meiner Überraschung hörte ich ein paar Lacher, dabei hatte ich es überhaupt nicht lustig gemeint.
»Sie hätte sich auf jeden Fall gefreut, dass so viele von euch gekommen sind, und ich weiß, dass sie euch alle gemocht hat. Weil sie nämlich jeden gemocht hat und für jeden da war. Weil sie immer wissen wollte, wer jemand wirklich ist und was er sich wünscht oder wieso er unglücklich ist. Sie hat …«
Ich merkte, wie meine Stimme nicht mehr nur zitterte, sondern brüchig wurde. Auf einmal war das Adrenalin des Kampfes weg, und ich begriff endgültig, wo ich gerade war. Auf der Trauerfeier meiner Mutter, die vor ein paar Tagen gestorben war. Ich blickte auf den Sarg mit den vielen Kränzen und ihrem Foto.
Und dann blickte ich wieder in die Menge und sah Hightower.
Er hatte den Kopf gesenkt und schluchzte unaufhörlich. Und das brach mir das Herz, denn auch seine Mom war gestorben, und vielleicht dachte er jetzt an sie oder an meine, es spielte keine Rolle. Ich sah, wie Cameron ihm immer wieder übers Haar strich und wie Kirstie seine Hand hielt, und da hätte ich fast nicht mehr weiterreden können, aber ich musste!
»Wenn sie sich ihre Beerdigung vorgestellt hat, dann wärt ihr alle dabei gewesen, aber sie wäre ganz anders gelaufen, viel fröhlicher«, sagte ich. »Mit mehr Musik, die ihr gefallen hätte. Und mit weniger Bibelstellen.«
Wieder gab es ein paar Lacher, am lautesten von Onkel Bill, aber auch erstauntes Gemurmel. Ich bemerkte, dass Reverend Connors etwas zu meinem Vater sagte.
»Deshalb möchte ich jetzt auch nicht Victory in Jesus singen, sondern etwas anderes. Ich hoffe, das ist okay.«
Erneut lief mir Blut aus der Nase, ich wischte es einfach mit dem Handrücken weg. Die Leute in den ersten Reihen starrten mich entgeistert an. »Und falls ihr euch fragt, was mit mir passiert ist: Ihr solltet mal den anderen sehen.«
Keine Ahnung, wieso ich das sagte, ich glaube, den Spruch hatte ich immer gemocht. Ich atmete durch und lockerte meine Finger.
»Das Stück heißt Dancing With Myself und kommt von einem der berühmtesten Kirchenchorsänger der Welt«, sagte ich und berührte die Saiten der E-Gitarre. Es hallte ohrenbetäubend durch die Kirche. »Von Billy Idol!«
Ich stockte noch mal und betrachtete die vielen Menschen, vor denen ich mich gleich lächerlich machen würde. Dann dachte ich daran, wie ich von der Klippe gesprungen war und gebrüllt hatte, dass ich der verrückteste Motherfucker von Grady war. Der Typ, der das gemacht hatte, würde mich hoffentlich auch jetzt retten.
Ich zählte von drei herunter, dann fing ich an zu spielen.
In der ersten Strophe kam ich aus dem Rhythmus und sang viel zu leise. Zwar hatte ich den ganzen Vormittag geübt, aber es war etwas völlig anderes, es nun live vor so vielen Menschen zu spielen. Erst langsam fing ich mich.
A-when there’s no one else in sight,
A-in crowded lonely night
Well, I wait so long for my love vibration
And I’m dancing with myself
Während des Refrains wurde es Reverend Connors endgültig zu viel. Er stand auf, trat vor den Altar und rief laut, ich solle aufhören, das wäre eine Entweihung der Kirche. Ich sang tapfer weiter, starrte ihn aber immer wieder an und hatte Angst, er würde mir den Saft abdrehen. Denn genau das schien er vorzuhaben. Er brauchte ja nichts weiter zu tun, als den Stecker des Verlängerungskabels zu ziehen.
Doch dann geschah etwas Verrücktes.
Dad erhob sich nämlich ebenfalls von seinem Platz und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er schaute dem Reverend ruhig in die Augen. Wie ein Bär, der ein kleineres Tier anblickt, und sein Blick sagte, dass die Musik hier nur über seine Leiche wieder abgestellt werden würde. Dann fasste er Connors einfach an den Schultern und drückte ihn ganz sanft wieder auf die Bank. Und der Reverend war darüber so erschrocken, dass er gar nichts mehr machte.
Ich konnte es nicht glauben, deshalb vergaß ich völlig, was für die nächste Strophe geplant war, und wurde davon nun ebenso umgehauen wie alle anderen im Saal. Kaum, dass ich den Refrain beendet hatte, ertönte nämlich die mächtige Orgel der Kirche und stimmte mit in den Song ein.
Dröhn! Dröhn! Dröhn!
In dem geschlossenen Saal klang es, als würde ein riesiger Ozeandampfer in sein Horn blasen.
Alle drehten sich verwundert zur Orgelempore um und wollten sehen, wer da oben spielte. Aber natürlich konnten sie es von ihren Plätzen aus nicht erkennen, und so wusste nur ich, wer dort saß. Eine Person, die schon ihre halbe Jugend über dort gesessen und bei den Gottesdiensten gespielt hatte. Und ich konnte an Dads Gesicht ablesen, dass es für ihn zunächst wie ein Witz war, den er mal wieder nicht verstand – nur dass er ihn am Ende doch verstand.
Erst klang es schrill, vermutlich rannten die Tiere des angrenzenden Walds panisch davon. Dann hatten E-Gitarre und Orgel den Takt gefunden, und es wurde besser. Mom hatte es immer laut gewollt, das hier war laut. Da ich keine Angst mehr haben musste, dass man mir den Saft abdrehte, fuhr auch die alte Zappeligkeit in mich und floss direkt in den Song. Ich warf beim Singen den Kopf hin und her, und als wieder der Refrain kam, ging ich mit der Gitarre vor dem Altar auf und ab und schrie:
Oh oh, Dancing with a-myself,
Oh, oh, dancing with myself
Well, there’s nothing to lose
And there’s nothing to prove, well,
Dancing a-with myself
Gegen Ende wurden die Lyrics zugegeben etwas eintöniger. Viele »Oh Oh«s, aber gerade die machten Spaß, denn ich hörte, wie Jean sie von der Orgelempore mitbrüllte. Schließlich wechselten wir uns ab, und darüber musste ich kurz lachen. Und Moms Tod und die Angst, wie es ohne sie werden würde, waren für ein paar Minuten genauso weit weg wie meine Schmerzen oder der Gedanke, wie es im neuen Schuljahr ohne die anderen werden würde. Am Schluss spielten wir noch mal so laut wir konnten. Meine Finger taten bereits weh, meine Schwester gab weiter von oben den Takt vor, und ich schwöre, nie hat ein Mensch härter und schneller auf einer Orgel gespielt; ein irrer, hallender Lärm. Dann war der Song auch schon vorbei. Jean trat an den Rand der Empore. Sie nickte mir zu, ernst wie immer. Dann lächelte sie ihr seltenes Lächeln und reckte John-Bender-mäßig die Faust nach oben. Und ich wischte mir eine Haarsträhne aus der Stirn und nickte zurück.