Die Sache mit Kirstie nahm mich so mit, dass ich mich kaum freute, als endlich wieder die Sommerferien begannen. Ich schleppte mich zu meinem Job im Larry’s, ich schleppte mich nach Hause. Und hätte ich bei der Arbeit nicht Xander und Helen kennengelernt, die mit mir die Schicht teilten, wäre ich vermutlich gar nicht mehr aus diesem Loch rausgekommen.
Die beiden waren ein Paar und gingen in meine Jahrgangsstufe. Obwohl wir einige Kurse zusammen hatten und sie auch im Theaterstück dabei gewesen waren, hatte ich bisher kaum mit ihnen zu tun gehabt. Helen war eher laut und versponnen, sie trug selbstgenähte und -designte Kleidung, hatte rote Haare und war wie meine Schwester politisch aktiv. Xander hatte Dreadlocks und war mehr der Besonnene. Er spielte Bass in einer Band und hielt sich für den größten INXS-Fan der Welt, weshalb wir natürlich viel zu reden hatten.
Mit Helen und Xander herumzuhängen war zunächst seltsam, denn anders als im letzten Sommer, als ich der Jüngste gewesen war, waren wir nun alle gleich alt, und ich redete auch viel mehr und offener als damals. Sie fragten mich, ob die Gerüchte über mich stimmten – also die über das Konzert in der Kirche oder die Schlägerei mit Chuck. Und ob auch das mit Mom stimmte. Und in der Art, wie sie fragten, erkannte ich, dass sie vor all diesen Sachen irgendwie Respekt hatten und dass viele in meinem Jahrgang offenbar ähnlich dachten.
Nach der Schicht im Larry’s fuhren wir manchmal mit dem Mercury zum Baden oder machten ein Lagerfeuer an der Grillstelle am Missouri River. Ich zeigte Helen und Xander auch die fünf Wellen. Beide stellten sich begeistert auf die Ladefläche und schafften je drei Hügel, während ich wie früher Hightower nur den Fahrer spielte.
Mit Cameron dagegen war es, als kannte ich ihn schon immer. Jetzt, da Kirstie nicht mehr da war, erzählte er eben alle seine Affären mir. Ebenso, wenn bei seinen Besuchen im Café in St. Louis mal wieder alle von dieser Krankheit sprachen, die sich jetzt angeblich auch hier bei uns immer schneller verbreitete: Aids. Doch Cameron meinte, da seien bestimmt auch viele »bewusst gestreute Gruselgeschichten« dabei, von denen er sich keine Angst einjagen lasse. Inzwischen wusste ich wie in einer Ehe genau, wann er reden wollte, wann er seine neurotischen Minuten hatte, wann er einen Spruch bringen würde, wann er sich einsam fühlte, wann er eine rauchen musste. Letzteres konnte ich sogar auf die Sekunde voraussagen.
Einmal steckte er sich wieder eine an und sagte: »Weißt du was? Diesen oder nächsten Sommer werde ich mal spontan bei dir klingeln. Und dann fahren wir mit Brands Karre nach Kalifornien und besuchen ihn und deine großartig fiese Schwester.«
Und ich wünschte mir, dass er es ernst meinte.
Ein paar Tage später stieg seine wochenlang angekündigte Party zum sechzigsten Geburtstag des Larry’s (ich bin allerdings fast sicher, dass er sich dieses Jubiläum ausgedacht hat). Wir dekorierten die Wände mit Schwarzweißfotos aus den Anfängen des Diners, im Hinterhof gab es Livemusik und einen zweiten Grill. Und ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber irgendwann kamen immer mehr Leute, nicht nur aus Grady, sondern auch aus Brisbee, Hudsonville und anderen Städten. Ein glorreicher Moment, denn niemand von diesen Menschen wäre jetzt hier gewesen, wäre Cameron damals zum Studieren nach Chicago gegangen. Wir standen im Hof, umspült von den Tanzenden. Ich stieß ihn an, er lehnte den Kopf an meine Schulter, dann grinsten wir beide.
Wir machten die Nacht zu viert durch, erst am Morgen verabschiedete Cameron sich gähnend. Ich räumte noch ein bisschen mit Helen und Xander auf, dann setzten wir uns an den See. Wir sprachen über das bevorstehende letzte Schuljahr und das große Danach. Ich sagte nicht, dass ich später irgendwas mit Zahlen machen wolle, denn das wollte ich nicht mehr. Ich sagte nur, dass mein Onkel Bill versprochen hatte, mir zu helfen, falls ich in New York aufs College wollte. Oder aber ich blieb erst mal hier, machte Musik und half Cameron bei seinem Rettungsversuch von Grady.
Alles klang gut und wunderbar weit weg, und es war eine dieser Unterhaltungen, bei der alle Gedanken zu funkeln schienen und bei der wir das Gefühl hatten, mit jeder Bemerkung zu wachsen.
Ich erzählte, dass meine Schwester in diesem Kaff vielleicht ihre beste Zeit gehabt habe und es für sie danach nie wieder so schön gewesen sei. Doch Helen meinte, dass in Wahrheit vielleicht gar nicht Grady das Geheimnis gewesen wäre, sondern vor allem, dass Jean damals jung war. Ich blickte auf den See und dachte, dass das stimmen könnte, und irgendwie erinnerte es mich auch an eine Stelle aus Morris’ Gedicht. Für eine Millisekunde schien ich etwas zu begreifen.
Dann verschwand der Gedanke wieder.
Als es heller wurde, fragte Xander, ob ich mal bei einer Probe seiner Band mitmachen wolle, dann redeten wir wie immer ewig über neue Alben, bis Helen aufstöhnte: »Ihr benehmt euch wie zwei elitäre Musikkritiker.«
Wir lachten. »Okay, wir hören auf, versprochen!«
»Ernsthaft«, sagte Helen. »Wenn ihr nächstes Jahr so was in der Cafeteria bringt, setz ich mich an einen Einzeltisch!«
Und da wurde mir klar, dass ich im nächsten Schuljahr nicht mehr allein am Tisch sitzen musste oder mit Leuten, die ich nicht kannte. Sondern dass wir uns natürlich immer zu dritt einen Platz suchen würden. Das beschäftigte mich so sehr, dass ich beschloss, die Quittung der Nacht diesmal Helen und Xander zu überlassen, und nun ebenfalls aufbrach.
Und dann besuchte ich Moms Grab.
Der Friedhof lag still im Morgenlicht. Mr. Andretti musste erst vor wenigen Tagen hier gewesen sein, denn ich sah einen frischen Strauß Nelken auf der Erde. Ich setzte mich im Schneidersitz hin und erzählte Mom von allem, was mir in den letzten Wochen passiert war, dass ich neue Freunde gefunden hätte und mich nun sogar aufs nächste Schuljahr freute. Wieder einmal fehle sie mir sehr, weil ich ihr so gern gezeigt hätte, dass ich nicht aufgegeben hatte. Dass ich zwar noch immer ab und zu Angst hatte, aber trotzdem weitermachte. Und weil ich nie wissen würde, ob sie das alles nun sah. Oder ob ich mit einem Geist, dem Nichts oder nur mit mir selbst redete.
Ich dachte an die Parabel, die der Inspector erzählt hatte, mit dem alten König und dem Ring und der Inschrift: Auch das geht vorbei. Ja, es war wahr, und es war auch nicht wahr. Denn der Schmerz war noch da und würde immer da sein. Nur war ich selbst ihm manchmal näher und manchmal ferner.
Und ich dachte daran, wie ich Dad gefragt hatte, ob wir jemals über Moms Tod hinwegkommen würden. Er hatte gesagt, sie würde vermutlich die Antwort kennen, und inzwischen glaubte ich zu wissen, wie die Antwort lautete:
Es gab keine, sie veränderte sich jeden Tag.
Ich hörte das Vogelgezwitscher und blickte auf das Haus, in dem ich aufgewachsen war, und das noch immer keinen neuen Käufer gefunden hatte. Mir fiel ein, wie ich mir früher oft Geschichten zu den einzelnen Grabsteinen ausgedacht hatte. Und dann starrte ich auf den von Mom:
ANNIE TURNER, 23. MAI 1942 – 30. JULI 1985. Eine leidenschaftliche Leserin und Billy-Idol-Fanatikerin. Sammlerin von kleinen Plastik- und Holztieren. In einer Band gewesen, das Studium abbrechen müssen. Einen komplizierten Mann geheiratet, das Beste draus gemacht. Zwei Kinder großgezogen, krank geworden, einen Buchladen geführt, nie aufgegeben. Heldenhaft auf einer Reise nach Rom gestorben.
Ich musste bei diesem Gedanken lächeln, dann ging ich nach Hause.