Kapitel 8

Kommissarin Holz hatte ihren Smart am Sülldorfer Kirchenweg geparkt und spazierte zum Friedhof Blankenese. Der Staatsanwalt hatte nicht lange gezögert und ihrem Antrag auf Exhumierung der Leiche von Richard Sanders zugestimmt. Nachdem was seine Schwester berichtet hatte, lag es nahe, dass ihr Bruder keines normalen Todes gestorben war, und das galt es nun herauszufinden. Sandra hatte Traudel Kensbock im Butenfeld schon vorgewarnt. Doch trotz der vielen Corona-Leichen, die es momentan zusätzlich zu obduzieren gab, hatte die Rechtsmedizinerin eine freie Kapazität signalisiert.

Emma Meyfeld wartete schon mit einer älteren Frau am Eingang des Friedhofs. Das musste Marie Deneuve sein, die Schwester des Verstorbenen. Sandra zog ihre Maske über und näherte sich ihnen. Sie hielt ihre Hand hin und beide Frauen drückten ihre Faust gegeneinander.

„Das ist Frau Deneuve, Schwester des verstorbenen Richard Sanders.“

Sandra nickte freundlich und auch die Unbekannte grüßte durch ein Kopfnicken. Gemeinsam schritten sie über den Friedhof. Die Ruhe hier fernab des Straßenverkehrs und Corona-Rummels tat gut, fand die Kommissarin. Sie sollte sich öfters auf einen der vielen Hamburger Friedhöfe zurückziehen. Wie lange war es her, dass sie das Grab ihres ehemaligen Chefs und Mentors Alexander Schweiss besucht hatte? Das schlechte Gewissen beschleunigte ihren Atem, sodass sie sich die Maske herunterriss. Emma schaute ihre Kollegin erstaunt an. „Was ist los?“

„Ich kann schlecht atmen, obwohl hier so eine gute Luft ist!“ Sandra blieb etwas hinter den beiden Frauen, die sich, in eine Unterhaltung vertieft, einem frischen Grab näherten. Zwei Arbeiter und ein kleiner Schaufelbagger standen bereit.

„Hier liegt Richard!“, bestätigte Marie Deneuve und Sandra gab damit den Startschuss zum Ausgraben des bestatteten Leichnams. Während die Männer schweigend mit ihrer Arbeit begannen, gingen die Frauen etwas weiter zu einem kleinen Park mit zahlreichen Bänken, von dem sie die Ausgrabungsarbeiten beobachten wollten. Das Geräusch eines startenden Motors zeigte an, dass der Bagger seine Aushubtätigkeit aufgenommen hatte. Der Geruch von Dieselabgasen gelang plötzlich in Sandras Nase, worauf sie sich spontan für eine entfernt gelegene Bank entschied. Auch Marie und Emma hatten ihre Masken abgelegt und setzten sich weit auseinander auf eine der abgewetzten Holzbänke neben Sandra. Konnte die Kommissarin bisher wenig vom Gesicht der Frau sehen, nutzte sie nun die Chance. Marie Deneuve war laut Emma neunundsechzig Jahre alt und damit fast zwölf Jahre jünger als ihr Halbbruder Richard Sanders. Sie hatte grausträhnige Haare und Sandra überlegte, ob dieses eher ungepflegte Aussehen der aktuellen Situation geschuldet war oder nicht. Sie selbst empfand inzwischen immer weniger Lust, die Haare zu pflegen, und trug manchmal auf dem Weg zum Einkaufen sogar eine Mütze. Das Virus hatte die Menschen verändert. Zur Angst kam Lethargie und Sandra empfand das noch schlimmer als am aktuellen Virus zu erkranken. Frau Deneuve trug ihren Namen aus einer Liaison der Mutter mit einem Franzosen. Er hatte, so erzählte die Frau Emma Meyfeld, sie zwar nicht adoptiert, aber irgendwie schien es die Mutter geschafft zu haben, ihn zur Namensgebung zu überreden. Die blauen Augen der Frau passten nicht zum Rest des Gesichtes, das eingefallen und faltig war. Es sah aus wie Alufelgen auf einem Oldtimer, fiel Sandra der Vergleich ein, und sie grinste.

„Was lachst du, Sandra? Wir befinden uns auf einem Friedhof.“

„Und da darf man nicht fröhlich sein? Ich habe gerade an die 60er-Jahre gedacht und wie einfach und locker das Leben damals ablief. Haben Sie das auch so empfunden, Frau Deneuve?“

„Nein, aber nennen Sie mich Marie.“

„Sie hatten keine angenehme Kindheit?“

„Ich hatte überhaupt keine Kindheit!“

Sandra fand das Verhalten der Frau ziemlich seltsam und es machte keinen Spaß, ihr solche Fragen zu stellen.

„Erzählen Sie mir doch bitte etwas über ihren Bruder. Er war ja auch zeitweise Ihr Arbeitgeber und Sie haben sich sicher gut verstanden?“

„Richard war ein Sturkopf und ein Riesenarschloch!“ Frau Deneuve schrie es fast heraus und Sandra hatte kurz Angst, von deren feuchter Aussprache getroffen zu werden. Auch Emma rückte bis zum äußersten Rand der Holzbank.

„Schildern Sie es bitte ausführlicher. Wir haben ja genügend Zeit!“

Maries Kopf ging nach oben und sie blickte zum Himmel, als ob sie Kontakt zu ihrem verstorbenen Bruder aufnehmen wollte. „An die ersten Kindheitsjahre kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter hat erzählt, Richard habe lange bei uns gewohnt; da war ich noch klein. Dann sei er verschwunden. Als ich zur Schule ging, war er schon längst ausgezogen, und ich habe ihn erst Jahre später getroffen. Aber das war reiner Zufall. Richard hatte den Star-Club auf St. Pauli übernommen und ich wusste noch nicht einmal, dass er so berühmt geworden war. Ich war siebzehn, als die Beatles zum ersten Mal dort auftraten, und habe mich abends reingeschlichen. Eigentlich war der Eintritt erst ab achtzehn Jahre erlaubt, aber niemand interessierte sich so richtig dafür. An der Kasse fragten sie nach meinem Alter. Ich erklärte, ich sei achtzehn, und tat so, als würde ich einen Ausweis herausziehen. Da schoben sie mich weiter. Es war mein allererstes Konzert. Mama wusste nichts davon. Sie glaubte, ich schlafe bei einer Freundin. Genau in dieser Nacht zeigte ein Mädchen neben mir vor der Bühne auf einen dünnen Kerl mit einer Halbglatze: ,Das ist Ritchie Sanders, der Besitzer des Clubs.‘ Irgendetwas in mir veranlasste mich zu glauben, dass es sich bei der seltsamen Gestalt auf der Bühne um meinen Bruder handelte. Und diese Idee ließ mich nicht mehr los. Am nächsten Tag fragte ich Mama, aber auch sie wusste nichts von Richards Aufstieg. Doch sie war dauernd knapp bei Kasse und witterte einen Geldsegen. Während ich in der Schule war, besuchte sie den Star-Club, um mit ihrem Sohn zu sprechen. Abends erzählte sie mir, was für ein Geizkragen Richard sei und dass er seine Mutter einfach rausgeschmissen habe. Monate später, nach meinem Abitur, suchte ich einen Job, um von zu Hause rauszukommen. Ich traf Richard im Club, der mich nach einigem Zögern hinter die Theke stellte.“

Sie griff in ihre Jacke, aus der sie eine Schachtel Zigaretten hervorholte. Sie hielt sie in die Runde und zog, als Sandra und Emma dankend abgewunken hatten, eine filterlose Zigarette heraus, die sie sich sogleich ansteckte. Genüsslich sog sie daran, während ihr Gesichtsausdruck auf einen Schlag weicher wurde.

„Die ersten Abende und Nächte hat er mich geschont, mir alles erklärt und war, na ja, einigermaßen freundlich. Doch irgendwann schlug das um. Es schien, als sei ich zum Prellbock geworden: Er schrie mich wegen kleiner Fehler an, schob alles stets auf mich.“ Sie zog schweigend an der Zigarette.

„Wie lange haben Sie sich das gefallen lassen?“

„Zu lange! Aber Richard zahlte gut, es gab reichlich Trinkgeld; und was noch schöner war, ich hatte Kontakt zu den talentiertesten Musikern, die es damals gab. Täglich war ich nahe dran aufzugeben, doch dann spielten am Abend neue Bands und ließen mich den Ärger mit Richard vergessen.“

Erneut inhalierte sie genussvoll den Rauch.

„Er hat nie geheiratet, hat keine Nachkommen?“

Frau Deneuve bestätigte die Aussage Sandras mit einem Kopfschütteln. Nach einem weiteren Zug an der Zigarette ergänzte sie: „Er machte sich nichts aus Frauen, echt nicht. Er hätte viele haben können. Wir jungen Dinger hätten alles gemacht, um den Stars auf der Bühne nahezukommen.“ Sie grinste und Sandra schaute zur Kollegin Meyfeld.

„Hat er sich eher für ... für Männer interessiert?“, wollte Emma wissen. Sandra kannte den Zusammenhang. Seit über einem Jahr lebte ihre Kollegin mit einer Frau zusammen und es schien zu funktionieren.

Marie Deneuve zuckte mit den Schultern. „Manchmal habe ich das auch vermutet. Ihm gehörten auch die oberen Räume im Gebäude Reeperbahn 39. Die mittlere Etage nutzten die Bands, um zu übernachten, aber ganz oben, da wohnte Richard. Ich war nur wenige Male oben in einem Raum, der ihm und Kalle als Büro diente.“

„Kalle?“

„Ach ja, Karl-Heinz. Alle nannten ihn Kalle, seinen Nachnamen habe ich vergessen. Vielleicht Tender oder so. Er kümmerte sich um die Betreuung der Bands, kaufte ein und schleppte die Musiker durch Hamburg. Zumindest später, als es denen langweilig wurde und die ersten Starallüren auftraten.“

Marie Deneuve drückte den Zigarettenstummel unter der Bank aus und spazierte zum nahe gelegenen Mülleimer. Dann setzte sie sich wieder auf ihren alten Platz.

Die Kommissarin glaubte, genug über die Club-Zeit gehört zu haben, und hoffte, mehr zum plötzlichen Tod Richard Sanders erfahren zu können.

„Sie sprachen von einem Schlaganfall.“

„Ja, im Winter vorletzten Jahres erlitt er auf dem Nachhauseweg einen Schlaganfall. Während einer Autofahrt. Erst sah es schlimm aus, aber er war ein Kämpfer. Zumindest habe ich ihn so erlebt, all die Jahre. Er hat alles wieder ganz gut hinbekommen. Reha und so haben geholfen. Er nuschelte natürlich undeutlich, war kaum zu verstehen. Die eine Seite war komplett gelähmt, aber er schleppte sich schon kurz darauf wieder durch seinen Bungalow.“

„Er wohnte nach seinem Schlaganfall noch alleine in Blankenese?“

Marie nickte. „Bis er zu Hause stürzte und sich einen Oberschenkelhalsbruch zuzog. Man nötigte mich, seine Vormundschaft zu übernehmen, und da er kaum Bargeld auf den Konten hatte und auch sonst keine Vermögen, verkaufte ich die Villa in Absprache mit ihm, um seinen Aufenthalt in der Residenz Alsterpark zahlen zu können. Es hätte noch einige Jahre gereicht!“

„Die Familie Londgrün hat Ihnen den Bungalow abgekauft?“

„Nicht mir, Richard. Aber ja, sie waren hin und weg von dem alten Gebäude. Mich hätten keine zehn Pferde dort reingebracht, trotz des Blicks auf die Elbe.“

„Hat sich Ihr Bruder wohlgefühlt im Seniorenheim?“

„Um Gottes willen, nein! Er hat erst geschimpft, wie damals, und mehrere Male habe ich den Besuch abgebrochen und mir vorgenommen, nicht mehr bei ihm vorbeizuschauen und ihn dort verrecken zu lassen. Dann bin ich doch wieder hin.“

„Hatte er dort weiteren Besuch?“

„Nein, den mochte keiner. Außer vielleicht Ruben, einer der angehenden Altenpfleger der Residenz. Den Jungen schien Richard ein wenig gemocht zu haben. Ruben durfte sogar sein Heiligtum, eine alte Gitarre, von der Wand nehmen und darauf spielen. Das hat mich tatsächlich sehr verwundert.“

„Wissen Sie, ob dieser Ruben heute noch dort im Alsterpark arbeitet?“

„Nein, eher nicht. Er hat mir erzählt, dass er seine Ausbildung bald abschließen werde und seine Mutter ihm einen Job auf der AIDA vermittelt habe. Er betreut dort ältere Menschen während ihrer Kreuzfahrt. Ein toller Job.“

„Kennen Sie den Nachnamen von Ruben?“, wollte Emma wissen. Frau Deneuve schüttelte den Kopf.

Nun wandten sich die drei wieder schweigend den Grabtätigkeiten zu. Inzwischen hatten die Arbeiter den Sarg herausgehoben und waren dabei, ihn von Erde zu befreien.

„Ist Ihnen vor seinem Tod oder unmittelbar danach etwas Besonderes aufgefallen, Marie?“ Die Frau griff erneut zu den Zigaretten und steckte sich eine an.

Sie schien nachzudenken. Endlich schaute sie die Kommissarin an und meinte: „Nach seinem Tode war das Notebook verschwunden. Es war sicher nicht viel wert, aber das fand ich schon seltsam, dass in der Residenz gestohlen wird.“

„Haben Sie dort nachgefragt?“

„Natürlich! Die Geschäftsführerin mit dem unaussprechlichen Namen erklärte, es komme hin und wieder vor, dass sich Bewohner gegenseitig bestehlen würden. Sie verbot mir, ihre Angestellten des Diebstahls zu bezichtigen.“

„Sie glauben, dass es eher jemand vom Haus gestohlen hat?“, wollte Emma wissen.

„Kann ich nicht sagen, ist mir Jacke wie Hose!“

Sandra beobachtete, wie der Kleinbagger die Grabstelle verließ und die Männer den Sarg auf einen Anhänger luden. Es war Zeit, den Leichnam zum Eingang zu begleiten. Dort wartete das Hamburger GBI mit einem ihrer Bestattungswagen.

„Die Gitarren waren auch nicht mehr da!“

„Wie bitte?“ Marie schaute Emma entgeistert an. „Also die Gitarren an der Wand im Zimmer des Verstorbenen.“

„Ach so, stimmt, eine davon hat Richard Ruben geschenkt.“