Kapitel 14 (Sechs Wochen zuvor)
„Einsatzleitstelle Hamburg?“
„Vor mir ist ein Wagen verunglückt. Er fuhr in den Graben. Ein großer SUV. Mein Mann ist schon zum Unfallort gelaufen ... was ...? Einen Moment bitte, mein Mann ruft etwas! Oh Gott, da läuft Kraftstoff aus, sagt er. Bitte schicken Sie schnell jemand!“
Caroline und Dr. Volker Scheuring waren im Auto unterwegs. Sie hatten die Abendmesse in der neuapostolischen Kirche in Rahlstedt besucht und waren auf dem Heimweg zurück zur Loher Straße. Der Jurist hatte mit den anderen Gemeindemitgliedern noch zwei Gläser Wein getrunken, woraufhin seine Frau ihn gebeten hatte, zur Sicherheit den Schleichweg über den Rahlstedter Kirchenstieg zu nehmen. Er hatte zugestimmt. Kurz bevor sie am Teich vorbeifuhren, bemerkten sie – wenige Hundert Meter vor sich – die Bremslichter eines Wagens und bekamen einen riesigen Schreck. Das fehlte noch: Verkehrskontrolle!
„Mach dir keine Gedanken, Schatz, hier hat noch keiner kontrolliert!“, versuchte Scheuring seine Frau zu beruhigen.
„Sicher wieder ein junges Paar, das ein paar Minuten allein sein möchte.“
Der Fahrer lachte nervös, aber es klang unecht, und bremste den alten Volvo ab. Vor ihnen in der Dunkelheit hing ein Jeep – halb auf der einspurigen Straße, halb im Graben. Dünne Rauchschwaden stiegen vom vorderen Teil des Wagens auf, doch niemand der Insassen war zu sehen. Scheuring rief seiner Frau zu: „Ruf die 112, ich schaue nach dem Fahrer!“, und schon war er aus dem Fahrzeug gesprungen. Durch den Scheinwerferkegel hindurch rannte er in Richtung der Unfallstelle.
*
Scheuring hatte die Situation schnell erfasst. Dem ersten Blick nach befand sich nur eine Person im Wagen und diese kauerte zusammengesunken seitlich des Steuers. Die Sicht in den Innenraum war schlecht; deshalb ärgerte er sich, seinen Volvo nicht näher an den Geländewagen gefahren zu haben. Aber aus Vorsicht war er etwas zurückgeblieben. Er zog sein Handy aus der Tasche, aktivierte die Taschenlampe, um ins Innere des Luxuswagens zu leuchten. Die Person war älter und hing fast auf dem Beifahrersitz. Nur der Gurt hielt den Körper davon ab, in Richtung Fußraum des Beifahrers zu sinken. Die Augen des Verletzten waren geschlossen. Jetzt registrierte Scheuring eine Wunde am Kopf beim Haaransatz. Die Gesichtshälfte blutverschmiert, die Atmung schwer, aber er atmete. Zum Glück schien es sich um keine lebensbedrohliche Menge zu handeln. Der Airbag hatte wohl nicht ausgelöst, zumindest konnte Scheuring das nicht erkennen. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verriegelt. Bei den modernen Fahrzeugen wurde doch mit spezieller Unterstützung bei Unfällen geworben? Gab es nicht einen sofortigen Alarm, der die Sicherheitskräfte informierte? Doch hier schien nichts davon passiert zu sein, wunderte sich der Hilfeleistende. Die Brust des Verletzten hob und senkte sich im Halbsekundentakt, er war auf jeden Fall noch am Leben. Scheuring überlegte, mit dem Wagenheber die Scheibe zu zertrümmern, aber das war ihm zu riskant. Als Anwalt wusste er, dass so etwas zu Schadensansprüchen führen konnte. Außerdem würden Polizei und Krankenwagen schnell vor Ort sein. Oh Gott, die Polizei! Ihm fielen die beiden Gläser Wein ein und sein Atem beschleunigte. Sicher war den Einsatzkräften klar, wer hier entlangfuhr, hatte etwas zu verbergen. Aber den Unfallort zu verlassen, war für den Mann auch keine Option. Da musste er durch.
*
Die Dunkelheit am ,Wandse Teich‘ in Rahlstedt wurde durchbrochen von blauem Signallicht. Caroline und Volker Scheuring lehnten an der Motorhaube ihres Wagens. Der Fahrer hatte den Volvo seitlich in eine Wiese gefahren, die zum Glück trocken war. Die Einsatzfahrzeuge, die wenige Minuten später hier eintrafen, hatten es schwer genug, die kleine Straße zu befahren, da sollte nicht noch sein Wagen für Behinderung sorgen. Der Fahrer hatte zwei Bonbons gelutscht und das Paar hatte seine Behelfsmasken angelegt. So würde keiner den Alkoholgeruch des Lenkers bemerken.
Keine hundert Meter von ihnen entfernt bemühte sich die Feuerwehr – seit Minuten –, mit einer Hydraulikschere die Wagentür zu öffnen, um den Mann zu bergen. Das dicke Blech des neuwertigen Jeeps schien sehr widerspenstig, vermutete Scheuring. Doch gerade war es ihnen gelungen und in diesem Moment zogen sie die verletzte Person nach draußen. Ein wartender Notarzt beugte sich über ihn und begleitete seine Lagerung auf einer Trage. Das grelle LED-Licht der durch die Feuerwehr installierten Scheinwerfer machte die Szene mehr als taghell, blendete aber auch extrem.
„Wir bringen ... Krankenhaus ... Verletzungen ...!“ Nur Bruchstücke von Sätzen drangen an das Ohr des wartenden Paares. Eine Polizeibeamtin spazierte plötzlich vom Unfallort weg auf sie zu.
„Sehr vorbildlich!“, bemerkte sie und grinste.
Scheuring verstand nicht und fragte nach: „Was meinen Sie?“
„Na, Ihre Masken! Es ist sehr vorbildlich, dass Sie sofort Ihre Masken anlegen. Da erleben wir tagtäglich ganz andere Dinge. Waren Sie Zeuge des Unfalls, ich meine, wissen Sie, wie es geschehen ist?“
Das Paar schüttelte wie auf Kommando den Kopf. „Wir sind durch Zufall hier langgekommen, und da lag der Wagen schon im Graben“, erklärte Frau Scheuring. Die Beamtin schaute das Paar abwechselnd an, schwieg jedoch. Volker kam diese Ruhe gespenstig vor. Obwohl es bestimmt über zehn Grad warm war und er eine dicke Lederjacke trug, fröstelte es ihn. Er betete, dass die Polizistin nicht noch einen Alkoholtest durchführen würde, denn einen Moment sah es so aus, als wolle sie weiterbohren. Mit einem Mal entspannte sich das Gesicht der knapp 30-Jährigen und sie erklärte: „Kommen Sie morgen Vormittag auf das Rahlstedter Revier, dann nehmen wir Ihre Aussage auf.“ Sie drehte sich um und ging zurück zum Unfallort.
„Puh!“
„Ja, das nächste Mal lässt du den Wein und trinkst Wasser!“
Dr. Volker Scheuring nahm sich das fest vor.