Star-Club Teil III
1969 – Ende im Gelände
Richard Sanders saß im Garten seines halb fertigen Bungalows in Hamburg-Blankenese und blickte in die Sonne, die gerade im Begriff war, gegenüber der Elbe bei Finkenwerder unterzugehen. Das von ihm in Auftrag gegebene Gebäude sollte bis zum Winter bezugsfertig sein, doch noch stand nichts als der Rohbau. Wie gerne hätte er diesen Erfolg und die Neuigkeiten zum Eigenheim mit irgendjemandem geteilt. Aber wenn er genau darüber nachdachte, besaß er weder Freunde noch irgendwelche Verwandte. Mal abgesehen von Marie. Doch er traute ihr nicht. Nicht solange sie noch für ihn im Star-Club arbeitete. Später würde er die Halbschwester mal zum Kaffee einladen, hier in den Stadtteil der angesehensten Hamburger – nach Blankenese.
Sanders griff in den halb vollen Kasten Bier neben sich und entnahm ihm eine weitere Flasche. Er hebelte den Verschluss mit einem Schlag am Tisch auf und trank. Konnte er glücklich sein über das, was er erreicht hatte? Er hatte in den letzten beiden Jahren mit dem Verkauf des Dopes nach England so viel Geld gemacht, dass er eigentlich nie wieder würde arbeiten müssen. Aber machte ihn das ganze Geld glücklich? Nein! Der Star-Club selbst war kurz vor dem Ende. Er schätzte noch maximal ein Jahr, dann würde er den Laden schließen müssen. Er hatte sogar schon das großzügige Angebot eines Sex-Shop-Betreibers, der auf der Reeperbahn 39 ein Porno-Kino einrichten wollte. Aber noch war es nicht so weit. Sicher war es seine Schuld, dass es derart schlecht mit dem Club lief. Er hatte sich mehr um das Dope-Geschäft gekümmert als um geeignete Buchungen von angesagten Rock- und Popgruppen. Und die Kollegen auf der Reeperbahn hatten das gemerkt und ausgenutzt. Leichenfledderei nannte er das, denn schon bald öffnete ein Club nach dem anderen auf dem Kiez und nahm ihm die Gäste weg. Inzwischen waren auch die Vertriebswege des Haschischs nach England weitestgehend verebbt. Kaum ein Musiker überließ Kalle noch seinen Gitarrenkoffer. Es hatte sich rumgesprochen, dass jedes zweite Instrument auf dem Weg nach England verschwand. Und sicher ahnten die Gitarristen, Bassisten und Drummer inzwischen, was Star-Club-Besitzer Ritchie Sanders da veranstaltete. Natürlich könnte er andere Vertriebswege für das Dope auftun, vielleicht auf dem Seeweg, man hatte es ihm schon mal angeboten. Aber war er ein Dealer oder der Besitzer des legendärsten Musik-Clubs der Welt? Was noch hinzukam, war der ständige Ärger mit dem Wirtschafts- und Ordnungsamt Hamburg-Mitte. Dort hatte man sich auf ihn und den Club eingeschossen und inzwischen glaubte er, dass seine Neider aus den anderen Schuppen daran nicht unschuldig waren. Sicher gab es mal Rangeleien im Club. Zum Beispiel, wenn eine angekündigte Band absagte und durch eine schlechtere ersetzt werden musste. Das gefiel den zahlenden Gästen nicht. Und da er an der Kasse die Parole ,Geld zurück nur bei Gewalt‘ ausgegeben hatte, hielt man sich auch meistens daran. Und dann gab es noch die üblichen Schlägereien im Saal oder vor dem Club, wenn sich Alkoholisierte am Morgen in die Wolle bekamen. Aber war das sein Problem? Nein, das gehörte auf der Reeperbahn dazu wie der Uringeruch an jeder Ecke. Der Leiter des Amtes hatte schon mehrfach gedroht, den Club zu schließen, und Sanders glaubte, er mache sicher bald Ernst. Einladungen, Geschenke und auch Drohungen hatten bisher nichts gebracht. Der Typ war wohl resistent gegen alles. In diesem Fall war der Inhaber des Star-Clubs mit seinem Latein am Ende
Wie dem auch sei. Er war sich absolut sicher, ohne den Verkauf des Dopes und ohne den Ärger mit dem Ordnungsamt würde er den Club bald schließen müssen. Die Musikwelt hatte sich verändert. DJs übernahmen vielerorts die Bühnen, wo vorher noch Rockbands das Sagen hatten. ,Disco-Music‘ und ,Psychedelic Rock‘ hießen neuerdings die aktuellen Musikrichtungen. Livemusik fand überwiegend nur noch in den großen Hallen statt. Und da machten sie richtig Reibach. Was hatte er die letzten Monate alles getan, um den Musikern ihren Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten? Hatte sogar Zimmer im nahe gelegenen Hotel Pacific angemietet. Und wie hatten sie ihm das gedankt? Indem er wöchentlich für die zerschlagenen Möbel geradestehen musste.
Nein, er würde den Star-Club noch einige Monate weiterführen und dann das Ganze ausklingen lassen. So, dass sein Ansehen und das des Clubs nicht geschädigt und dauerhaft Bestand haben würden. Wenn man später von Hamburg berichtete, sollte – nach St. Pauli und der Reeperbahn – der ehemalige und legendäre Star-Club als die Nummer drei genannt werden.
Sanders warf die leere Bierflasche – als Zeichen des Versprechens – gegen die noch nicht verklinkerte Hauswand und spazierte zur Treppe in Richtung seines Fahrzeugs.
*
Sven & The Radicals nervten seit gut einer Stunde unten auf der Bühne. Eigentlich hatte Sanders die Absicht, die deutsche Alternativ-Band nach dem letzten Auftritt vor fast einem Jahr nicht mehr zu buchen. Doch zahlreiche Nachfragen stimmten ihn um. Sven Oliver Holmsen war Sänger und Gitarrist der vierköpfigen Gruppe. Ihre Musik war laut, sie sangen in Englisch und immer ging es nur um eines: um Kampf. Kampf der Klassen, Kampf gegen das Elternhaus, Kampf gegen den Kapitalismus. Sie sahen sich eher als Weltretter denn als Rockband. Allein die Augen des 20-jährigen Sven Oliver Holmsen waren auf Opposition ausgerichtet. Als Sanders ihm das erste Mal begegnete, war er eigentlich sehr angetan von dem jungen Mann. Höflich, freundlich und gut erzogen kam er ihm vor. Die Hasenscharte unter einem dünnen Schnurrbart versteckt, sprach der in Berlin geborene Holmsen hochdeutsch. Er erzählte von einem Jurastudium, das er bald beginnen wolle, und davon, etwas Geld für das Studium durch die Musik zu sammeln. Beim Vorspielen erkannten Sanders und seine Mitarbeiter sofort das Talent der vier jungen Männer. Sie verstanden es, mit ihren Instrumenten umzugehen; und Gitarre, Keyboard, Bass und Drums waren eine gute Kombination, um einfühlsame Lieder zu spielen. Sanders machte mit den Musikern einen Vertrag und die „Radicals“ sollten in vier Monaten auftreten. Eine Woche lang, dreimal täglich je eine Stunde. Doch als die Band anreiste, gab es die ersten Probleme. Sie kamen einen Tag zu spät, hatten angeblich den Vertrag falsch interpretiert. Auch ihre Art und ihr Aussehen hatten sich extrem verändert. Aus den gepflegten Berliner Jungs vom letzten Jahr waren vier echte Radikale geworden. Ungepflegt, frech und aufmüpfig. Sanders hatte große Lust, sie gleich wieder heimzuschicken. Aber einen Ersatz gab es nicht und so spielten sie die restlichen Tage. Auch ihre Musik hatte sich in der kurzen Zeit verändert. Der bislang einfühlsame, ruhige Sound war einem Mörderlärm und viel Schreierei gewichen. Sie sangen auch einen Protestsong mit dem Titel: „Lasst euch nichts gefallen!“ Der Text war eine einzige Auflehnung gegen die Ende der 60er-Jahre regierende Große Koalition. Ihr Ziel war es, das Publikum im Star-Club aufzuhetzen. „Notstandsgesetze sind Scheiße!“, hieß es im Text und weiter: „Establishment heißt die Elite!“ Sanders war es eigentlich egal, was sie sangen. Hauptsache, die Kasse stimmte. Und er spürte, wie die Jungs den aktuellen Zeitgeist verkörperten. Die Gäste kamen in Scharen, und vor allem konsumierten sie das Bier fässerweise. Es war ein anderes Publikum als bei den regulären Rock- und Popbands. Nach jedem Konzert der „Radicals“ gab es Ausschreitungen auf der Reeperbahn und in Sanders schrie sein Gewissen: Schick sie nach Hause! Aber der Rubel rollte, deshalb mussten sie auch den Vertrag abarbeiten.
Sven Oliver Holmsen hatte sich extrem verändert. Er trug einen überlangen Bart und hatte schwarze Ränder unter den Augen, die in Sanders Angst um Holmes
Gesundheit aufkommen ließen. Er zog an einer selbst gedrehten Zigarette, die sehr nach Marihuana roch, dazu hatte er einen Hut tief ins Gesicht gezogen.
„Wir werden nur drei Tage auftreten“, waren die ersten Worte, seit Sanders den Bandleader in sein Büro gebeten hatte. Der Geschäftsführer des Clubs überlegte kurz, ob ihn diese Planänderung freute oder ärgerte. Es war nicht Sache der Bands, Verträge abzuändern. Verträge waren Verträge, die Musiker bekamen Gage für ihre Auftritte und er musste planen. Aber je länger Sanders Holmsen stumm ansah, umso mehr begrüßte der Star-Club-Inhaber die Idee von der Verkürzung der Konzertreihe.
„Wir fliegen danach sofort von Hamburg nach London, haben dort einen Auftritt beim Anti-Vietnam-Festival!“, kündigte Sven an. Dann zog er an seiner Zigarette und blies den Rauch mit zusammengekniffenen Lippen in dünnen Fäden aus. Sanders rückte etwas zur Seite, um dem Qualm zu entgehen. Er hatte vor einigen Wochen das Rauchen aufgegeben, aber noch immer plagte ihn die Sucht. „Gut, ich bin einverstanden. Ihr spielt drei Auftritte an den drei Tagen, dann könnt ihr nach London. Ich ändere das im Vertrag ... die Steuern, weißt du!“
Holmsen schaute ihn mit glasigen Augen an und Sanders war bewusst, dass dem Musiker das Finanzamt völlig egal war.
Drei Tage später: Die Schreierei war nicht zu überhören. Nicht dass Sanders hier oben im Büro keinen Lärm gewohnt war. Nein, er selbst war bestimmt kein großer Fan der Rockmusik. Vor allem, da in den letzten Monaten immer mehr Bands auf der Bühne Songs spielten, die aus lang andauernden und dämlichen Gitarrensolos und dazu endlosem Geschrei bestanden. Aber diese Art von überzogenem Gesang verursachte bei dem Inhaber des Star-Clubs Gänsehaut und Schweißausbrüche. Entweder unten brannte es, oder ...! Wer stand gerade auf der Bühne des Star-Clubs? Sven & The Radicals, klar! Mit denen gab es immer Ärger. Doch dieses laute Geschrei kam aus dem Saal, nicht von der Bühne, und es klang eher nach Meuterei oder Aufstand. Sanders sprang vom Bürostuhl, riss die Tür auf und rannte die äußere Treppe hinunter in den Saal.
Mit jeder Stufe, die er nach unten gelangte, nahm der Lärm zu. Es waren Geräusche, als ob Möbel zerschlagen wurden und Gläser splitterten. Das klang nicht gut. Holmsen selbst spielte eine cherryfarbene Gibson ES 330, die ihm angeblich, so hatte der Gitarrist Sanders erzählt, Eric Clapton während eines Konzerts vermacht hatte. Sanders hoffte, dass diese Bruchgeräusche nicht von Holmsens Instrument kamen. Dafür war sie echt zu schade und dazu fehlte sie noch in seiner Sammlung. Aber zuzutrauen wäre es dem radikalen Idioten. Jimi Hendrix hatte vor einigen Jahren hier auf der Star-Club-Bühne auch mal während eines Konzerts seine Fender Stratocaster zerschlagen. Wenn Sanders sich richtig erinnerte, lagen Teile des Instruments noch im angrenzenden Gerümpel-Keller.
Mit einem einzigen Blick zählte Sanders etwa dreißig uniformierte Polizeibeamte, die, teils auf der Bühne, teils davor, bemüht waren, den ausverkauften Saal zu leeren. Entweder das Ordnungsamt Hamburg-Mitte hatte seine Ankündigung, den Star-Club zu schließen, wahrgemacht, oder die „Radicals“ hatten durch ihre Musik Ausschreitungen verursacht, die die Polizei auf den Plan rief. Mit schlechtem Gewissen wandte sich der Geschäftsführer an seine Schwester, die mit offenem Mund neben dem Tresen stand und in den Konzertsaal blickte.
„Was ist da draußen los?“
Marie Deneuve schaute fassungslos auf ihren Bruder, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Nur ein wie „Bullen“ klingendes Wort entfuhr ihrem Mund mit den stark geschminkten Lippen.
„Haben die ,Radicals‘ diese Scheiße verursacht?“, schrie Ritchie Sanders, und man sah ihm den Stress an.
Marie schüttelte den Kopf. Ihr Arm fuhr nach oben und ihre Hand zeigte seitlich zur Bühne. Dort stand Wolfgang Beuerlein, von allen Geschäftsleuten Hamburgs verhasster Leiter des Ordnungsamtes Mitte. Sanders war sofort alles klar.