Kapitel 19
Frau Londgrün hatte Luise auch am nächsten Tag nach Blankenese zur Kita gebracht. Und obwohl es fahrtechnisch ein weiter Weg war, war sie anschließend zurück zur Hinrichsenstraße gefahren. Erst gegen 16 Uhr wollte sie wieder bei der Kita sein, um das Mädchen abzuholen. Sie hatte unterwegs bei Feinkost-Ahrend etwas eingekauft und war dann auf direktem Weg nach Borgfelde gefahren. Es hatte zu regnen begonnen, sodass die gebürtige Dänin während der Fahrt den Scheibenwischer einschalten musste. Hamburg im Regen war ihr unsympathisch. Auf Sylt war es genau umgekehrt. Dort liebte sie kilometerlange Spaziergänge im Regen am Strand. Den Kopfhörer im Ohr und dazu die Musik von Yann Sterling.
Zurück im Appartement, packte die Frau die gekauften Waren in eine Schublade der Miniküche und die verderbliche Ware in den kleinen Kühlschrank. Anschließend legte sie sich auf das Bett. Seit Stunden verdarben ihr Kopfschmerzen die eh schon schlechte Laune, aber sie hatte es versäumt, Tabletten zu besorgen. Sie musste dringend von hier weg. Nichts hielt sie mehr in der Hansestadt. Sogar auf dem Land in Dänemark, dort, wo sie geboren war, fühlte sie sich inzwischen wieder wohler als hier. Und nie hatte sie in ihrer Heimat Kopfschmerzen erlebt. Die Stiche im Kopf verstärkten sich bei den Gedanken. Ob vielleicht irgendwer aus den anderen Wohnungen Kopfschmerztabletten besaß und sie sich eine borgen konnte? Frau Londgrün stand auf, zog Hausschuhe an und verließ das Appartement. Die Tür ließ sie angelehnt.
Ihr war klar, die meisten Bewohner waren Studenten und zu dieser Zeit normalerweise in der Uni. Doch aufgrund der noch immer anhaltenden Corona-Situation hoffte sie eine Person anzutreffen, die zu Hause lernte. Sie versuchte es gleich bei ihrem direkten Nachbarn – doch niemand öffnete. An der Tür gegenüber das Gleiche, auch hier blieb alles ruhig. Nachdem sie in keinem der weiteren fünf Appartements der Etage jemanden antraf, spazierte sie die Treppe hinauf und lauschte in den leeren Flur. Es roch leicht nach Rauch, doch vernahm sie keine Musik und auch keinerlei Gespräche. Es könnte sein, dass die meisten Appartements nicht mehr bewohnt waren, überlegte sie. Bei den aktuellen Reisebeschränkungen machte das Sinn. Wie dem auch sei, sie musste zu einer Apotheke fahren und Tabletten besorgen. Frau Londgrün rannte zurück, ihre Hausschuhe klapperten ähnlich Kastagnetten über die Fliesen. Sie betrat ihre Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Als sie vom kleinen Flur in den Schlaf- und Wohnbereich trat, erschrak sie fürchterlich. Ein dunkel gekleideter Mann mit grauem Vollbart stand an der Wand und grinste sie frech an.
Ihr Herz stolperte und beschleunigte gleichzeitig. Sie unterbrach ihre Bewegung und verharrte. Als der erste Schock überwunden war, machte sie sich steif und schrie so laut sie konnte: „Was machen Sie hier? Verschwinden Sie!“
Sie wuchs über sich hinaus und eher selbstbewusst trat die Frau einen Schritt in Richtung Flur und machte Anstalten, dem Unbekannten die Eingangstür zu öffnen. Doch der packte sie fest am Arm und schleuderte sie mit einer Körperbewegung auf ihre Couch. Sie krachte mit dem Kopf gegen das hölzerne Kopfteil und die Schmerzen verstärkten sich noch. Gabrielle griff sich an die Stirn – da lief etwas hinunter. Blut? Tatsächlich! Als sie ihre Hand vor das Gesicht hielt, war sie blutverschmiert.
„¡Discúlpame!“, flüsterte der Mann und behielt dabei das dämliche Grinsen im Gesicht.
Frau Londgrün richtete sich auf. Welch ein Glück, dass die Tochter nicht hier war. Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. „Was ... was wollen Sie?“
„¿Dónde está la habitación? Der versteckte Raum ... im Bungalow. Wo?“
Der Frau war sofort klar: Dieser Mann wenige Meter neben ihr hatte mit dem Tod von Olaf zu tun. Vielleicht war sogar er es, der abgedrückt hatte. Aber sie verstand nicht. Alles war vorbei, oder doch nicht? Verzweifelt versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen. Doch die Kopfschmerzen und die Angst ließen das nicht zu.
„Sagen Sie es mir?“
Der Typ musste Spanier sein. Aber er schien auch Deutsch zu sprechen. Er war groß, von schlanker Statur, gut gekleidet, hatte einen gepflegten Mantel an und trug dazu schwarze Lederhandschuhe. Sie schätzte ihn auf etwa siebzig. Seinen Körperbau würde sie als sportlich, fast muskulös beschreiben. Das Haar vollständig grau, kurz geschnitten mit leichten Geheimratsecken. Die Frau war bemüht, sich auch sein kantiges Gesicht für ein späteres Fahndungsfoto einzuprägen.
„Ihr wisst es doch schon! Jetzt lasst mich in Ruhe! Mörder, Mörder!“, schrie sie in Panik.
Der Unbekannte machte einen Schritt auf sie zu, sodass die junge Frau ängstlich zurückwich. Fast hätte sie die Lampe mit dem Porzellanfuß auf dem kleinen Tisch seitlich umgestoßen. Sie wackelte verdächtig und beide Personen schauten überrascht darauf. Ihr war klar, sie konnte nichts gegen den Mann ausrichten. Er schaute sie unentwegt an. Plötzlich griff er in die Tasche und zog ein Messer heraus. Es war mittelgroß mit einem Holzgriff. Langsam und genüsslich, wie vor dem Schneiden einer Wurst, zog er die Klinge aus dem Schaft. Sie bemerkte, dass seine Hände zitterten. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Der Typ machte einen weiteren Schritt auf sie zu, kniete sich zu ihr auf die Couch, doch bevor sie ausweichen konnte, spürte sie den kalten Stahl an ihrem Hals.
„Ich frage noch ein letztes Mal, dann ...!” Die Stimme des Fremden bebte und Frau Londgrün spürte, er meinte es tatsächlich ernst.
„Sie haben doch schon alles gefunden!“ Gabrielle begann zu weinen. Die Schmerzen, die Angst stellten sie auf eine harte Probe.
„Deine kleine Tochter ...!“, zischte der Mann und sein Mundgeruch ließ sie für kurze Zeit ihren Atem anhalten. Sein Gesicht war extrem nah an ihrem, sodass sie an der behaarten Oberlippe eine Furche erkennen konnte. Wie nach einer Operation, oder war es eine Hasenscharte? „Los, sprich ...!“
Nein, nicht ihre Tochter, das würde sie nicht zulassen! Im gleichen Moment hupte draußen vor dem Haus ein Fahrzeug. Der Mann sprang erschreckt auf und war mit wenigen Schritten an der Terrassentür.
Alle ihre Muskeln angespannt, griff Frau Londgrün nach der schweren Lampe, zerrte sie hoch, der Stecker riss aus der Steckdose, und schleuderte sie auf den Typen. Noch bevor die Lampe ihr Ziel getroffen hatte, war sie aufgesprungen. Noch im Sprung vernahm sie einen lauten Schmerzensschrei, dann einen Fluch. Doch da war sie schon barfuß an der Eingangstür angekommen. Sie riss die Tür auf, rannte die Stufen hinab, nahm noch eine weitere Treppe in den Keller und sprintete durch den Flur. Das Licht schaltete sich automatisch ein. Sie kannte sich aus, wusste, unten im Keller des Gebäudes befand sich ein Notausgang. Sie zögerte nicht, rannte darauf zu, drückte die breite Entriegelung und sprang, geblendet vom Tageslicht, die Außentreppe hinauf. Ohne sich auch nur umzuschauen, überquerte sie eine kleine Wiese, zwängte sich durch ein Gebüsch und verschwand letztendlich seitlich hinter einem großen Wohnblock.
Schwer atmend hatte sich Frau Londgrün im Eingangsbereich des Nachbarblocks versteckt. Ihr Puls schlug fest bis in den Kopf und jeder Schlag ihres Herzens fühlte sich an wie der Hieb mit einem Gegenstand auf ihren Schädel. Sie griff sich weinend mit beiden Händen an die Schläfen, als eine ruhige Stimme fragte: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
*
Die junge Frau mit dem Baby hatte sie gebeten, mit in ihre Wohnung zu kommen, und war dabei, Brei für das Kind und gleichzeitig Kaffee für den Gast zu kochen. Sie hatte Frau Londgrün auch mit einer Schmerztablette versorgt. Obwohl diese noch nicht wirken konnte, spürte Frau Londgrün schon eine leichte Linderung.
„Kann ich bitte Ihr Telefon benutzen?“
„Aber natürlich!“, erklärte die Frau und bewegte dabei das Baby, das sich in einem Schal vor ihrer Brust befand. Sie griff das Smartphone vom Küchentresen und hielt es der Unbekannten hin.
„Ist schon entsperrt!“
Frau Londgrün zog die zerknitterte Visitenkarte von Kommissarin Holz aus der Hosentasche und wählte mit zittrigen Händen ihre Nummer. Es klingelte einige Male, während sie betete, dass die freundliche Kommissarin ihren Anruf entgegennahm. Endlich hörte sie eine Stimme: „Ja, hallo?“
„Sandra?“
„Ja!“
„Londgrün, ich wurde überfallen!“
*
Die Kommissarin war im Fahrzeug mit Blaulicht und mit einem versierten Fahrer in wenigen Minuten in Borgfelde. Sie rannte zusammen mit dem Kollegen in die beschriebene Wohnung. Eine junge Frau mit Baby vor der Brust öffnete ihnen die Eingangstür.
„Frau Londgrün!“, rief die Kommissarin und hinter der Unbekannten trat die Gerufene auf den Flur. Angstvoll schaute sie sich um. Sie war im Gesicht blutverschmiert und sah auch sonst alles andere als entspannt aus.
„Alles in Ordnung?“ Die Angesprochene nickte.
„Sie bleiben hier!“, ordnete die Kommissarin mit einem Blick zum Kollegen an; der Uniformierte nickte. Die Kommissarin sprang mit drei Sätzen die Flurtreppen hinunter, versuchte sich zu orientieren. Der Häuserblock mit Gabrielles Appartement musste seitlich sein – und Sandra lief los. Nach wenigen Metern hörte sie das schrille Piepen eines Feuerwarnmelders und steuerte darauf zu. Auf dem Fußweg bemerkte sie einige Anwohner, die wohl schon darauf aufmerksam geworden waren. Sie standen neugierig und tuschelnd vor dem Wohnblock. Das laute und nervige Piepen schien aus der Wohnung Londgrüns zu kommen. Nun bemerkte die Kommissarin auch die dünnen Rauchschwaden, die durch die Terrassentür nach draußen zogen.
Weit entfernt konnte sie die Sirenen eines Einsatzfahrzeugs hören. Sicher hatten beherzte Anwohner den Notruf gewählt.
Sandra zog ihre Waffe, als sie das Gebäude durch die offen stehende Haustür betrat. Im Flur blieb sie kurz stehen und überlegte, das MEK zu rufen. Aber es war alles ruhig; außerdem drängte die Zeit. Sie schlich – ihren Rücken an die Wand gedrückt – in aller Ruhe die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ein kurzer Blick um die Ecke, niemand befand sich auf dem Flur. Die Tür zu Londgrüns Appartement war geöffnet und mit einem Sprung stand Sandra, die Waffe im Anschlag, daneben. Ihr Herz schlug bis an die Kinnlade. Der Gedanke, dass diese Aktion schieflaufen könnte, kam ihr kurz in den Sinn.
Drinnen hörte sie Geräusche, als ob ein Wasserhahn lief und jemand hin und her rannte.
„Hier ist die Polizei!“, rief sie. „Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus! Ich habe eine Schusswaffe auf Sie gerichtet und werde auch davon Gebrauch machen!“
Die Schritte im Appartement verstummten, nur der Wasserhahn lief noch.
„Ich sage es ein letztes Mal, dann werde ich mit meinen Kollegen den Raum stürmen!“
„Halt, nein! Ich wollte doch nur helfen ...!“, rief eine zittrige, dünne Stimme. Ein schmaler, junger Mann in kurzem Hemd und Jeans erschien daraufhin mit erhobenen Händen in der Tür.
*
Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Mann in Londgrüns Appartement um einen Studenten. Er lebte in der Wohnung nebenan und hatte gelernt, Kopfhörer in den Ohren. Dann aber wurde er doch vom lauten Geräusch des Feuermelders aufgeschreckt. Er hatte die offene Tür gesehen, drinnen den brennenden Teppich bemerkt und war ohne nachzudenken in die Wohnung gerannt. Mit einem Topf voll Wasser hatte er den Schwelbrand des Teppichs schnell unter Kontrolle. Völlig außer sich saß der Student im Krankenwagen auf der Straße, während ein Rettungssanitäter sich um ihn kümmerte.
*
Die Spusi hatte überraschend schnell ihre Arbeit beendet und der Verantwortliche trat zur wartenden Kommissarin. „Hallo, Sandra, laut Zeugin hatte der Eindringling Handschuhe an, da müssen wir nicht lange nach Fingerabdrücken suchen. Aber die Frau scheint ihn verletzt zu haben. Sie warf ihrer Aussage nach eine Lampe nach ihm. Die hat ihn am Kopf getroffen und er muss geblutet haben. Ich tippe darauf, der Typ wollte mit dem Brand das Blut und damit Spuren beseitigen. Hat in der Eile ein Kleenex-Tuch und etwas Flüssigkeit – wohl aus der Wodka-Flasche, die dort lag – auf den Teppich gekippt und angesteckt. Frau Londgrün sprach bei ihrer exzellenten Beschreibung des Täters auch von einer Narbe an der Oberlippe. Ich vermute, es handelt sich um eine Lippenspalte. Vielleicht aus diesem Grunde auch der Vollbart!“
Die Kommissarin hatte schweigend zugehört. Das klang zwar recht positiv, aber noch zeichnete sich kein Ermittlungserfolg ab.
„Der Teppich selbst war zum Glück hochwertig und nur schwer zum Brennen zu bringen. Gute Nachricht: Wir konnten trotz des Brandes DNA sicherstellen. Ob sie ausreichend ist für ein Profil?“, der Beamte zuckte die Schultern. Mit den Worten: „Ich melde mich“, spazierte er zum wartenden Kollegen im weißen Bulli.
*
„Frau Kommissarin?“
Sandra hatte den Hörer abgenommen und antwortete abwesend mit einem kurzen „Ja!“ Sie nahm ihren Blick nicht von Frau Londgrün, die mit einem dicken Pflaster und einer großen Tasse Kaffee vor ihr auf dem Stuhl saß und noch immer zitterte. Die Kommissarin hatte sich gerade gefragt, was der Typ von Frau Londgrün wollte. Ging es vielleicht um Geldschulden ihres Mannes?
„Die DNA konnten wir tatsächlich zum Teil entschlüsseln!“, erklärte die Stimme am Telefon.
Sandra konzentrierte sich auf das Telefongespräch. Prima! Die DNA war entschlüsselt, jubilierte sie innerlich. Das hieß, sie kamen voran.
„Das ist doch gut!“, meinte sie erfreut und Frau Londgrün schaute sie skeptisch an.
„Die schlechte Nachricht kommt noch. Wir haben den DNA-Teilstrang in die Suchmaschine eingegeben ...!“
„Und? Nun machen Sie es nicht so spannend.“ Sandra verlor langsam die Geduld.
„Ja, das System zeigte uns einen Treffer an, aber die Abfrage endete mit einer Verschlusssache.“
„Und das heißt?“
„Die Freigabe liegt beim Bundeskriminalamt oder gar noch höher!“
„Wie noch höher, wer und was ist denn noch höher?“
„Der liebe Gott!“, lachte der Kollege und legte auf.
*
Kriminalrat Jensen und Kommissarin Holz saßen schweigend im Besprechungsraum. Sandra schaute aus dem Fenster, während ihr Chef über das Display seines Handys strich.
„Es tut mir leid, Sandra!“, flüsterte Jensen und bearbeitete das Smartphone weiter.
„Aber das gibt es doch nicht! Wir besitzen die DNA des eventuellen Mörders und man verschweigt uns den Namen?“
„Na, so ist es nun auch nicht!“ Jensen hatte das Handy in die Tasche gesteckt und war aufgestanden. „Wir haben einen Teilstrang der DNA, und so wie ich das sehe, möchte man vonseiten des Landeskriminalamtes nicht irgendwelche schlafenden Hunde wecken.“
„Wie schlafende Hunde wecken? Das verstehe ich nicht. Entweder wir haben ihn oder wir haben ihn nicht!“
Jensen zuckte mit den Schultern. Mit den Worten: „Macht einfach weiter“, verließ er den Raum.
*
Sandra hatte heiß geduscht und sich einen Tee aufgegossen. Diese gesperrte und geheimnisumwitterte DNA ließ sie nicht los. Sie fühlte sich so ohnmächtig. Irgendwer musste ihr doch helfen können. Plötzlich fiel ihr der ehemalige Polizeipräsident Jochen Andres ein. Der war noch nicht so lange außer Dienst. Sicher hatte der hochrangige Beamte noch seine Kontakte. Sie griff nach dem Handy und wählte seine Nummer. „Ja!“
„Jochen!“
„Ja, wer ist denn da?“
„Sandra, also Kommissarin Holz aus Hamburg!“
„Sandra! Hallo, welche Freude. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, so weit gut. Aber ich könnte etwas Unterstützung gebrauchen.“
„Gerne, wenn es in meiner Macht steht. Erzählen Sie, während ich meinen Tee trinke!“
Die Kommissarin berichtete von den stockenden Ermittlungen, was den Tod von Olaf Londgrün und Richard Sanders betraf. Dann kam sie zur DNA des Unbekannten, der Frau Londgrün bedrängt hatte.
„Als die Kollegen den DNA-Abgleich der Person durchgeführt haben, war die Seite plötzlich gesperrt“, endete sie.
„Oh! Das ist ungewöhnlich. Sicher hatten wir das auch zu meiner Zeit hin und wieder mal. Speziell dann, wenn es sich bei der Person um einen Terroristen handelte oder aber auch um eine hohe Persönlichkeit. Wenn Sie mir das Aktenzeichen nennen, kann ich morgen mal schauen, ob mich noch jemand kennt!“ Er lachte vergnügt.
„Wie ist das Wetter auf Malle?“, fragte die Kommissarin.
„Ein Traum! Und in Hamburg?“
„Traumatisch!“
*
Kollegin Emma Meyfeld hatte ihrer Abteilungsleiterin gleich zu Beginn des Dienstes vom Besuch des Gitarrenladens in Altona erzählt.
Sandra hatte still zugehört und die gesamte Geschichte sacken lassen.
„Was meinst du?“, fragte sie nach einer kurzen Pause. „Hilft uns das weiter?“
Emma zuckte mit den Schultern und fuhr sich anschließend durch die Haare.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es alte Gitarren gibt, die so viel Geld einbringen. Aber wir stoßen auf Bankräuber, die für eine fünfstellige Summe jemanden ermorden. Auch auf Dealer, die für kleines Geld zustechen. Warum sollte es nicht einen Personenkreis geben, der den Diebstahl solch teurer Instrumente in Auftrag gibt?“
„Und dafür Tote in Kauf nimmt? Du spinnst, Emma! Schaust du zu viele Netflix-Serien? Wer ermordet denn jemanden für eine alte Gitarre? Das ist etwas weit hergeholt, um nicht zu sagen: An den Haaren herbeigezogen!“
Sandra war sofort bewusst, sie hatte ihre Ansprache an die engagierte Kollegin etwas überzogen und setzte einen entschuldigenden Blick auf.
Wieder zuckte Emma mit den Schultern, dieses Mal sah es nach Gleichgültigkeit aus. Sandras Handy spielte eine Melodie ab und unterbrach das Gespräch. Die Kommissarin schaute gespannt auf das Display. Die Nachricht lautete: „Bitte von einer sicheren Leitung diese Nummer anrufen: 0034 ...!“
Absender der SMS war der ehemalige Polizeipräsident Jochen Andres.
*
Kurzerhand meldete sich Sandra Holz bei Kollegin Emma Meyfeld ab und fuhr – Minuten später – mit der U-Bahn in Richtung Hamburg-Centrum. Es musste sich um etwas Größeres handeln, wenn Jochen sie schon bat, eine spezielle Nummer anzurufen. Da war es sicher ratsamer, nicht das eigene Handy zu nutzen. Sie entschied sich für den Rückruf aus einem der Callcenter auf St. Georg.
Der dunkelhäutige Inhaber des Centers schaute die Kundin neugierig von oben bis unten an, wies ihr dann aber einen freien Platz hinter der Holzabsperrung an. Es roch schlimm nach Rauch und Döner, dazu war die Hygiene des Computerplatzes alles andere als sauber. Sandra lief zurück zum Eingang, zog zwei Tücher aus dem Spender, benetzte sie mit dem Desinfektionsmittel und kehrte zurück. Der Besitzer ließ seine dunklen Augen nicht von der umtriebigen Kundin. Erst als sie alle Teile am Platz abgewischt beziehungsweise desinfiziert hatte, legte die Kommissarin das abgegriffene Headset an und wählte die angegebene Nummer.
„Hallo!“
„Sandra?“
„Ja, ich bin es, Sandra Holz. Jochen, nennen Sie bitte das Codewort!“
Auf der anderen Seite der Leitung war nur Schweigen zu hören, dann: „Sie verarschen mich, oder?“
Sandra lachte: „Natürlich, aber die Sache klang ja so geheimnisvoll!“
„Sie ist es tatsächlich, Sandra. Ich habe mir nach meinem Gespräch mit einem Freund beim Bundeskriminalamt sofort eine neue SIM-Karte gekauft. Diese werde ich entsorgen, wenn ich Ihnen die Details erklärt habe.“
Die Kommissarin spürte, da steckte mehr dahinter als ein popliger Bankräuber, und sie merkte, wie die Aufregung ihren Herzschlag beschleunigen ließ.
„Machen Sie es nicht zu spannend, Jochen, ich platze vor Neugierde!“
„Gut, dann will ich Sie nicht weiter auf die Folter spannen und Ihnen von meinen Ermittlungen berichten. Die DNA, die man aus dem Teppich extrahiert hat, stammt von einem der letzten noch flüchtigen Terroristen der ehemaligen ,Rote Armee Fraktion‘.“
Der frühere Polizeipräsident ließ Sandra Zeit, das eben Erfahrene zu verkraften.
„Sven Oliver Holmsen ist sein Name. Er gehörte wohl nicht zum Gründungskader der RAF, eher ein Mitläufer. War aber ab Anfang der 70er-Jahre bis Mitte, Ende der 80er an reichlich Blutvergießen der Baader-Meinhof-Bande beteiligt. Er wurde nie gefasst. Man glaubte vonseiten des Bundesstaatsanwalts, dass Holmsen – wie einige seiner Terroristenkollegen – in die DDR geflüchtet sei, aber nach dem Mauerfall wurden die meisten aufgegriffen. Er bislang nicht.“
Andres schwieg. Er war wohl mit seinen Ausführungen am Ende. Sandra ging so vieles durch den Kopf. Was konnte der ehemalige Terrorist mit dem Bungalow von Ex-Star-Club-Besitzer Richard Sanders zu tun haben? Und warum lauerte er Frau Londgrün auf?
„Hallo, Sandra?“
„Ja, entschuldigen Sie. Ich bin etwas durcheinander. Damit hätte ich nicht gerechnet.“
„Das glaube ich Ihnen. Behandeln Sie die Information als geheim und nennen Sie bitte nie in diesem Zusammenhang meinen Namen. Ich werde auch alles abstreiten. Das müssen Sie verstehen.“
„Natürlich!“, bestätigte die Kommissarin. „Aber wie sicher sind diese Angaben?“
„So sicher wie Ihre DNA, Frau Kommissarin!“
Jochen Andres hatte grade das Gespräch beendet, als Sandra eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie erschrak dermaßen, dass sie sich das Headset vom Kopf riss, aufsprang und eine abwehrende Stellung einnahm. Der Besitzer des Callcenters stand sprachlos vor ihr. Er blickte sie entgeistert an und stotterte: „Sind Sie ... fertig, ich ... also, ich habe noch einen ... weiteren Kunden!“
*
Sandra war gerade im Begriff, ihre Lederjacke im Büro auf den Haken zu hängen, als das Telefon klingelte. Sie hob den Hörer ab.
„Ja?“
„Kommissarin Holz?“
„Ja!“
„Hier ist die Pforte. Ein Beamter vom Staatsschutz ist auf dem Weg zu Ihnen.“
Sandra fuhr etwas zusammen. Was wollte der Staatsschutz von ihr?
„Wie? Lasst ihr denn hier jeden rein?“, wetterte sie heftig.
„Also nicht alle, Frau Kommissarin. Aber der Mann hatte einen Ausweis, und wir sind angewiesen, die Kollegen vom Staatsschutz höflich zu behandeln und ihnen ohne weitere Nachfrage den Zutritt zum Polizeipräsidium zu gewähren.“
Noch während Sandra an ihrer Fassung arbeitete, klopfte es an der Tür.
„Alles klar, danke!“ Die Kommissarin knallte den Hörer fest auf die Basisstation.
Die Bürotür öffnete sich ein wenig und ein grinsendes, eher unsympathisches Gesicht schob sich durch den Spalt.
„Kommissarin Holz?“, fragte der Mann und sein Grinsen hielt noch immer an. Sandra war sofort klar, der Gesichtsausdruck dieses schmierigen Typen war nur gespielt.
„Ja!“ Irgendwie kam ihr der Knabe bekannt vor.
Der Staatsschützer hatte inzwischen die Tür komplett geöffnet und seine schlanke Figur im grauen Anzug hindurchgeschoben. Sanft drückte er die Bürotür in das Schloss.
Im selben Moment erinnerte sich die Kommissarin an ihr Treffen mit dem Jüngling. Es war vor wenigen Monaten nach dem Bombenanschlag auf den Russen Sergej Schukow alias Batachow. Er hatte ihr den Zugang zum Tatort verweigert. Dieser miese ...!
„Hatte ich herein gesagt?“, brüllte sie und erschrak selbst, ebenso wie der Mann, über die Lautstärke ihrer Worte. Der Schreck ließ den Beamten vom Staatsschutz etwas unsicher nach hinten ausweichen und fast wäre er gestrauchelt.
„Na gut, wenn Sie schon mal da sind. Setzen Sie sich!“, grinste Sandra, um diese Überreaktion wieder zu korrigieren.
Die Selbstsicherheit des Typen war kurz dahin und Sandra freute sich, ihn aus der Reserve gelockt zu haben. Eher unbeholfen schob er sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sandra war stehen geblieben und genoss das anhaltende Schweigen.
„Wir kennen uns, oder?“, war der erste Satz des Besuchers nach etwa einer Minute.
„Darf ich erst einmal Ihren Namen erfahren, Ihren Ausweis sehen? Und dann erzählen Sie mir, was Sie von der Mordkommission möchten.“
Wie ein Erstklässler, den der Lehrer um seine Hausaufgaben bittet, griff der Staatsschutzbedienstete in die Jackentasche, zog einen Ausweis heraus, hielt ihn Sandra hin und meinte zögerlich: „Ludger Kollase, Staatsschutz.“
„Na geht doch!“, grinste die Kommissarin und warf sich, nun in bester Laune, auf ihren Schreibtischstuhl.
„Dann erzählen Sie mal, wie ich Ihnen helfen kann, Kollege Kohlhase?“
Sichtlich irritiert über diese falsche Namensnennung überlegte der Mann einen Moment, sein Gegenüber korrigieren zu wollen. Er ließ es dann aber.
Nach einer weiteren kurzen Schweigeminute schien sich der Staatsschutzbeamte wieder im Klaren geworden zu sein, dass er, was das Amt anging, über der Kommissarin stand. Er richtete seinen Körper auf und meinte: „Sie schwimmen in gefährlichem Gewässer!“
Sandra verstand nichts. Was wollte der? Schwimmen?
„Was ist mit Schwimmen, Kollege Kohlhase? Ich habe überhaupt keine Zeit zum Schwimmen, und nun erzählen Sie zügig, welches Anliegen Sie haben. Ich habe Besseres zu tun, als mit einem Beamten vom Staatsschutz über das Schwimmen zu quatschen.“ Die Kommissarin spürte, wie das Blut in ihr Gesicht strömte und ihre Halskrause anschwoll.
Der Mann war jetzt aufgestanden. „Ich, also der Staatsschutz, wir möchten, dass Sie jede weitere Ermittlung, was den Fall Londgrün betrifft, einstellen. Speziell die Nachforschungen über den Verdächtigen, dessen DNA Sie im Appartement von Frau Londgrün gefunden haben.“
Na, schau mal an, dachte Sandra, der war aber gut informiert.
„Ihr Abteilungsleiter wird es Ihnen noch einmal in aller Deutlichkeit übermitteln, Frau Kommissarin Holz!“ Die letzten drei Worte hatte er mit je einer Sekunde Verzögerung herausgedrückt; seine Mimik verriet Verärgerung. Mit Gesichtszügen, die Bände sprachen, öffnete Kollase die Bürotür und verließ den Raum.
„Dann noch einen schönen Tag, Kollege Kohlhase!“, brüllte Sandra ihm hinterher und zog schnell die Tür etwas bei, bevor andere Angehörige der Abteilung auf den Flur traten, um nachschauen zu wollen.
Sandra lauschte noch den Schritten des Mannes für einige Sekunden, dann drückte sie bestens gelaunt den Knopf des Kaffeeautomaten.