Kapitel 22

Die Witwe von Karl-Heinz Tenda lebte inzwischen in Schnelsen. Kommissarin Emma Meyfeld hatte die Aufgabe von Mik übernommen und hatte ihre liebe Mühe mit Recherche und Telefonaten, bis sie auf die 59-jährige Ehefrau des Verstorbenen gestoßen war. Karl-Heinz Tenda hatte wohl bei der Hochzeit in den 90ern den Nachnamen seiner polnischen Frau angenommen: Polcac!

Emma überlegte auf der Fahrt nach Schnelsen, was einen Deutschen bewegt haben musste, den polnischen Nachnamen seiner Ehefrau anzunehmen. Sie kam nicht drauf.

Frau Polcac lebte in einer Reihenhaussiedlung in der Schnelsener Wählingsallee. Emma hatte vorher angerufen und die Frau hatte sich bereit erklärt, ihr auf Fragen zu ihrem verstorbenen Karl-Heinz zu antworten. Die Kommissarin stellte den Smart EQ an der Straße ab und spazierte in Richtung des Blocks. Die Ecke kam ihr bekannt vor. Dann fiel ihr ein, dass sie vor Jahren mal eine Freundin in der Nähe besucht hatte. Aber das war lange her, die Freundin schon längst verheiratet und aus Hamburg weggezogen. Überhaupt besaß sie kaum noch Freunde aus Schule und Studium, fiel ihr ein, während sie an der Tür klingelte. Frau Polcac war blond und kräftig. Sie hatte ein extrem rotes Gesicht, sodass Emma etwas Angst um ihre Gesundheit hatte. Aber sie grinste über die runden Backen, als seien die beiden Frauen seit Jahren beste Freundinnen. Sie bat Emma hinein, hatte schon Tee gekocht und Kuchen aufgetaut. Emma mochte keinen Kuchen, aber die Freude der Frau war so groß, dass sie sich nicht traute abzulehnen.

Während Emma das Gebäck hinunterwürgte, hatte die Polin einen Stapel Fotoalben herausgekramt, die sie auf dem Wohnzimmertisch ausbreitete. Sie blätterte durch die Seiten und gab Erklärungen zu den Bildern ab.

„Kalle und ich lernten uns in den 90ern kennen. In meiner Heimatstadt Bydgoszcz. Sie kennen Bydgoszcz nicht?“

Emma schluckte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Sie musste schnellstens einschreiten, sonst würde das Gespräch in einer familiären DIA-Show enden.

„Bydgoszcz liegt in Kujawien-Pommern. Ich habe als Fremdenführerin gejobbt, neben meinem Studium. Und ich habe Deutsche durch die Stadt geführt. Auch Kalle. Er war so freundlich. Sicher war er älter als ich. Meine Mutter hat geschimpft, als ich ihn schon am Abend meinen Eltern vorgestellt habe. Zum Glück schimpfte sie auf Polnisch und Kalle hatte nichts verstanden. Er hat gefragt, was hat deine Mama gesagt. Und ich habe geantwortet, du weißt doch, wie Mütter sind, sie wollen nur dein Bestes. Zwei Wochen später bin ich zu ihm nach Schnelsen gezogen!“ Sie drehte mit dem Zeigefinger der linken Hand einen Kreis. „Damals wohnte Kalle noch mit seiner Mutter hier. Leider starb sie schon ein paar Monate später, die Arme.“ Emma nahm der Frau den gezeigten Schmerz nicht ganz ab.

Als die Frau nach dem Tee griff, übernahm die Kommissarin die Regie. „Frau Polcac, Sie sind sehr freundlich. Kuchen, Tee, besten Dank dafür. Aber ich habe einen Mord aufzuklären und wenig Zeit für private Geschichten, die mich nicht weiterbringen!“ Sie erwartete, dass die Gesichtszüge der Frau entgleisten, doch die Polin hatte sich im Griff. Demonstrativ räumte sie die Fotoalben unter den Tisch, faltete die Hände und schaute die Kommissarin mit ernstem Blick an.

„Karl-Heinz Tenda hat lange Jahre im Hamburger Star-Club gearbeitet. Wussten Sie davon?“

Die Frau entspannte sich leicht und nickte. „Natürlich! Kalle hat so viel davon gesprochen. Er hat auch Fotos davon, die könnte ich ...!“ Sie brach ab und schaute entschuldigend zu ihrem Gegenüber.

„Nein, Sie müssen sich keine Gedanken machen. Vielleicht benötige ich diese Alben später. Wie hat Herr Tenda seinen Lebensunterhalt bestritten?“

„Sie meinen, was er gearbeitet hat?“

„Ja, genau!“

„Ich habe ihn all die Jahre nie richtig arbeiten sehen. Er erzählte mal etwas von einer Erbschaft des Vaters. Kalle besaß drei Wohnungen in Bergedorf und eine in Mölln. Wir haben uns darum gekümmert, haben sie vermietet, und als die Mutter starb, erbte er auch dieses Haus. Als mein lieber Mann von mir ging, habe ich die Immobilien verkauft. Es war mir alles zu viel geworden.“

Emma überlegte, das verstrickte sich alles, und nun musste sie noch nachschauen, von wem Tenda geerbt hatte und ob das auch alles rechtens war.

„Er wollte ein Buch über die Zeit im Star-Club veröffentlichen. Das war sein Antrieb, während der Lungenkrebs ihn auffraß. Ja, die Zigaretten! Er hat viel geraucht, schon in seiner Jugend! Zum Glück haben mir meine Eltern ...!“

Emma unterbrach die Frau. „Gibt es Aufzeichnungen zu dem geplanten Buch?“

„Natürlich! Kalle hat früher Tagebuch geführt. Exakt hat er alles aufgeschrieben. Da war er sehr pingelig.“

„Würden Sie mir die Bücher holen und gegebenenfalls ausleihen?“

„Gerne, aber nicht dass ich Sie damit langweile!“ Sie warf einen trotzigen Blick auf die am Boden liegenden Fotoalben.

*

Auch Kommissarin Holz hatte von zu Hause aus mit ihrem Diensthandy einige interne Telefonate geführt. Die verantwortlichen Kollegen in Lübeck versprachen ihr, sich um den Schutz der Familie Spencer-Wiss in Barsbüttel kümmern zu wollen. Sie ließ Emma eine Nachricht zukommen, dass der ihr zugedachte Auftrag schon abgearbeitet war. Emma antwortete schnell mit einem ,Daumen nach oben‘.

Sandra hatte noch immer kein Wohngefühl in dieser – von Kollegin Meyfeld gemieteten – Miniwohnung entwickelt. Aber es gab keine Alternativen und die aktuelle Pandemie machte jeglichem Wohnungswechsel einen Strich durch die Rechnung. Also hieß es ausharren, bis sich die Zeiten änderten, und vor allem, bis sie sich besserten.

Sie schaltete den Fernseher an: Corona-Special! Corona-News! Corona-Tipps! In allen Programmen außer den Kinderkanälen drehte es sich noch immer nur um Corona. Sie stellte das Gerät wieder aus. An Netflix-Serien hatte sie im Moment keinerlei Interesse. Sie versuchte den aktuellen Fall wieder in den Vordergrund ihrer Gedanken zu stellen. Es fiel ihr schwer, aber nach und nach gelang es ihr.

*

Emma Meyfeld war auf dem Rückweg von Frau Polcac, als ihr Handy klingelte. Das Fahrzeug besaß keine Freisprecheinrichtung, so drückte die Kommissarin den Knopf der Warnblinkanlage und stoppte den kleinen Smart, zum Leidwesen des nachfolgenden Verkehrs, direkt an der gut befahrenen Holsteiner Chaussee.

„Frau Kommissarin Emma Meyfeld?“

Die Fahrzeuge zwängten sich am Hindernis vorbei und hupten, was das Zeug hielt. Manche zeigten ihr auch den Vogel oder gar die Faust. Emma drehte den Kopf zur Fußgängerseite.

„Wir haben hier den Überfall auf einen jungen Mann! Er wurde bewusstlos geschlagen ...!“ Emma unterbrach den Satz des Streifenkollegen. „Hallo, ich arbeite für die Mordkommission. Ich denke, Sie haben die falsche Person angerufen!“

Ein Klopfen an der Fensterscheibe ließ sie aufschrecken. Ein kräftiges, vom überhohen Blutdruck in Rot eingefärbtes Gesicht schaute sie mit bösem Blick an. Die Kommissarin bewegte die Scheibe nach unten, griff nach ihrem Ausweis, der im Lüftungsschlitz parkte, und hielt ihn der Person wenige Zentimeter vor die Augen.

„Einen dummen Satz und du verbringst die Nacht in Untersuchungshaft!“, brüllte sie. Der rote Kopf des Kräftigen wurde noch um eine Nuance dunkler. Sprachlos und mit herunterhängenden Schultern schlich er nach hinten weg.

„Hallo, Frau Kommissarin, sind Sie noch dran?“, schallte es aus dem auf Mithören gestellten Handy. Emma hatte genug gehört. Sie überlegte, dem Gespräch ein Ende zu setzen und ihren kurzfristigen Halt hier auf der Holsteiner Chaussee zu beenden. Doch etwas in ihrem Innern ließ sie zögern.

„Nein, Frau Kollegin, warten Sie! Der junge Mann wurde schwer verletzt, aber nicht lebensbedrohlich. Als er eben auf der Krankentrage kurz aufwachte, bat er mich dringend, Kommissarin Meyfeld zu informieren. Sein Name lautet ...“

Emma spürte Schweißausbruch und Schauer, die über ihren Rücken liefen. Die Kommissarin befürchtete das Schlimmste.

„... Ruben Spencer-Wiss!“