Kapitel 30

Der Himmel war strahlend blau. Nur das Rauschen des Meeres und dünnes Vogelgezwitscher durchbrachen die Stille. Es roch nach Jod hier an der Adria, dazu salzig. Die Wärme auf Sandras Haut hatte gefühlt Sauna-Temperatur. Was ihr fehlte, war ausreichende Luftfeuchtigkeit. Vielleicht lag es aber auch noch an den Nachwirkungen der schweren Herzbeutel-Verletzung. Sandra nahm die Spraydose von der Liege, schloss die Augen und sprühte sich den feinen kühlen Sprühnebel in ihr Gesicht. Das sorgte an diesem heißen Tag für eine wunderbar leichte Abkühlung zwischendurch. Doch schon bald musste sie eine neue Dose kaufen. Sie machte sich kurz Gedanken um die Umwelt, aber eigentlich war das nebensächlich. Nach dem Angriff des Ex-RAF-Terroristen und seinem Tod im Wellnessbereich der Villa Sanders lag sie nach der schwierigen Operation am Herzen fast vier Wochen im Koma. Als sie endlich wieder aufgeweckt wurde, gingen die eigentlichen Beschwerden erst los. Sie hatte weder Kondition noch Selbstbewusstsein. Die Zoom-Gespräche mit Ex-Mann Luca und Tochter Lara Sophie konnten sie zumindest etwas beruhigen und den Genesungsprozess in Gang bringen. Die Ärzte sprachen von langwieriger Rekonvaleszenz und dass sie Glück gehabt habe. Corona sei gerade gefährlicher. Dann drei Wochen Reha in Thüringen. Kurz vor Abschluss Verlängerung um weitere drei Wochen. Endlich die Entlassung, aber auch nur eingeschränkt. Kein Sport, regelmäßige Untersuchungen des Herzens. Dienstuntauglich. Die Frage nach einer Frühpensionierung stand im Raum. Sie war keine 40 Jahre alt. Sollte sie sich noch vier Jahrzehnte mit dem Kampf um die Freizeit herumschlagen? Natürlich war sie eine Kämpferin. Das hatte auch Freundin und Rechtsmedizinerin Traudel Kensbock auf den Punkt gebracht. Aber sie sei keine Frau, die kürzertreten könnte. Und ihr Herz sei dauerhaft geschädigt. Einen Marathon? Nie wieder. Traudel schlug ihr vor, das Angebot der Dienststelle nach Ablauf des Krankenstandes 65 Prozent Pension anzunehmen und sich eine kleine Nebentätigkeit zu suchen.

,Ehemalige Hamburger Star-Kommissarin verkauft belegte Brötchen am Kiosk beim Hauptbahnhof‘!

Sandra konnte schon die Überschrift in den Hamburger Zeitungen vor sich sehen. Sie musste lachen und Töchterchen Lara Sophie, die neben ihr auf der Strandliege lag und Musik hörte, schaute sie etwas verlegen an. Ja, Mutter und Tochter hatten sich definitiv auseinandergelebt. Wie eine Ehe, die zig Jahre gut ging und dann ... nein, so konnte sie es nicht vergleichen. Sie hatte die kleine Tochter jahrelang vernachlässigt und der Aufenthalt hier bei ihrem Vater im fremden Land Italien hatte ihr Übriges getan. Und jetzt? Aufgeben? Nein, der Einsatz, sich Lara langsam wieder anzunähern, kostete keinen großen Gesundheitsaufwand und sie würde diesen wunderschönen Urlaubsort erst verlassen, wenn sie das Familiäre geregelt hatte. Was gab es sonst? Emma Meyfeld hatte inzwischen ihr Baby geboren. Ein Mädchen. Sechs Wochen später ermittele sie schon wieder, hatte sie Sandra geschrieben. Sie hielt es zu Hause nicht aus. Ihre Ehefrau war selbstständig und kümmerte sich wohl um das Baby. Emma fuhr während des Dienstes heim und stillte die Kleine. Die Welt war verrückt. Sandra hoffte, Emma machte mit ihrer kleinen Tochter nicht den gleichen Fehler wie sie, den Dienst über alles zu stellen. Wieder musste Sandra lachen. Sie glaubte, dass Kollege Sokolowski ihren Platz als Interims-Abteilungsleiter im Landeskriminalamt übernehmen würde, und hoffte, dass Soko seinen T-Shirt-Tick endlich dafür aufgab. Sonst waren seine Tage in der Führungsebene der Kriminalpolizei gezählt. Mikael Vitthudt ermittelte schon seit Wochen beim Landeskriminalamt in Berlin. Sandra hatte den jungen Kommissar seit dem Anschlag auf ihr Leben nicht mehr gesehen. Sie hatte mehrfach mit den verbleibenden Kolleginnen und Kollegen beim Bruno-Georges-Platz telefoniert. Und einmal, während einer Zoom-Konferenz an Sandras Geburtstag in der Reha, war auch Mikael Vitthudt mit allen anderen aus dem Landeskriminalamt 41 sowie Polizeipräsident Jensen auf dem Monitor erschienen. Sicher würde der Saarländer die kleine Berlinerin heiraten, die er bei der Ermittlung um Patrick Monarch, den späteren Bille-Bäcker, kennengelernt hatte. Emma Meyfeld hatte ihr bei einem persönlichen Gespräch die aktuellen Ergebnisse der Ermittlungen mitgeteilt. Sie vermuteten, dass Holmsen die Villa überwacht hatte und Sandra nachgeschlichen war. Sicher wusste er nicht, dass es sich um eine Kriminalbeamtin handelte. Die Ergebnisse der Spusi, was den geheimen Raum anging, waren ernüchternd. Der Raum, den sie vorfanden, war groß und klimatisiert und zu einem früheren Zeitpunkt wohl mit exklusiven Instrumenten und hochpreisigen alten Verstärkern und Boxen gefüllt gewesen. Es schien, als habe Richard Sanders den Wellnesspool nur als Kulisse benutzt und das angrenzende Musikerzimmer als Rückzugsort. An diversen Plätzen im Raum waren Messingtafeln angeschlagen. Sie zeigten den jeweiligen Typ des Instrumentes oder des Verstärkers an, dazu sein Baujahr. Bis auf die Tafeln fanden die Kollegen den Raum leer vor. Diejenigen, die davon wussten, hatten ihn sauber ausgeräumt. Zahlreiche Haken an der Wand ließen auf fast einhundert Gitarren und Bässe schließen. Eine Graviermaschine stand in der Ecke. Die Unbekannten waren Holmsen auf der Suche nach dem geheimen Raum zuvorgekommen.

*

Aus dem Tor, das zum ,Salino Village Camping‘ führte, strömte eine kreischende Horde junger Italiener heraus und rissen Sandra aus ihren Gedanken. Sie drehte den Kopf. Einer der Jungen hielt einen Volleyball in seiner Hand. Sandra hielt Ausschau nach einem Spielfeld am Meer und fand es weit von ihr entfernt. Welch ein Glück, Lärm am Strand wäre gerade das Übelste, was sie gebrauchen konnte. Sie hatte sich vor zwei Wochen in einem kleinen Wohncontainer auf dem Campingplatz in Giulianova eingemietet. Es war nicht ihre Absicht, Luca und ihrer Tochter auf die Pelle zu rücken und nur Campingplätze durften inzwischen wieder öffnen. Sie hatte Glück, diese Bleibe in einer Zeit, in der nur die wenigsten Urlaub machen durften, zu finden. Vielleicht hatte auch ihre Reservierung auf den Namen Holz-Ferraro etwas bewirkt? Egal! Es war traumhaft hier an der italienischen Adria und sie war sich im Klaren darüber, warum Lara Sophie keine Sehnsucht nach Hamburg hatte.

„Mamma, non puoi restare per sempre?“

Sandra erschrak etwas, als die feine Stimme ihrer Tochter an ihr Ohr drang. Sie drehte den Kopf und sah, dass Lara ihren Körper von einer Liegeposition in einen Schneidersitz gewechselt hatte. Die Kopfhörer baumelten lässig über den braunen Schultern und sie sah so niedlich aus in ihrem grün-roten Kinder-Bikini. Noch immer versuchte Sandra die Worte der Tochter zu übersetzen, als Lara auch schon bemerkt hatte, dass ihre Mutter nur wenig Italienisch verstand.

„Kannst du nicht für immer bleiben?“, stotterte sie mit hochrotem Kopf.

Sandra setzte sich auf, schwang ihre Beine in Richtung der Kleinen und streckte ihre Arme aus. Es war, als habe Lara Sophie jahrelang auf die Umarmung ihrer leiblichen Mutter gewartet. Die kleine Person rutschte mit den Knien in den Sand und schlang ihre Arme um den Körper der Mutter. Sandra musste sich etwas nach unten beugen, um sie zu halten. Ihr Herz schlug wild, denn sie hatte etwas Angst um den kleinen Muskel. Aber er hielt und so hingen die beiden einige Minuten eng verschlungen aneinander.