Kapitel 4
Sandra verfolgte am späten Nachmittag von der Besucherterrasse aus den Landeanflug der kleinen zweimotorigen Maschine, die aus Sylt kommend auf dem Hamburg Airport einflog. Erinnerungen an ihren eigenen Flug über der Hansestadt kamen in ihr hoch. Das war inzwischen drei Jahre her. Noch immer schauderte es sie bei dem Gedanken an dieses Abenteuer. Sanft setzte die Maschine auf und die Kommissarin bewunderte den Piloten, der, im Gegensatz zu ihr, dem Fluggerät keinerlei Schäden zugefügt hatte. Ihr lädierter Nackenwirbel erinnerte sie noch oft an die harte Landung.
Die Kommissarin erkannte die Dänin Gabrielle Londgrün sofort. Sie war die einzige Person des Fluges 7E024 von Sylt, die ein Kind an der Hand hielt. Die Frau war groß und von eher dünner Statur. Sie trug ein langes Kleid, das nichts verhüllte, und darüber eine modische Lederjacke in der Trendfarbe Gelb. Sandra tippte vom Alter her auf ihren eigenen Jahrgang. Das Mädchen neben ihr trug exakt das gleiche Kleid, und wie Zwillinge unterschiedlichen Alters näherten sich die beiden der Kommissarin.
„Hallo, Frau Londgrün, ich bin Kommissarin Sandra Holz. Herr Tabler hat mich angekündigt.“
Erst jetzt bemerkte Sandra die verheulten blauen Augen der jungen Frau. Dunkle Tränensäcke hatte sie mit einem Abdeckstift unkenntlich gemacht. Aber wie es aussah, waren die nicht über Nacht entstanden. Frau Londgrün stellte den kleinen hellblauen Koffer ab und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann hielt sie der Kommissarin wie in Trance die Hand hin. Sandra bemerkte das Zittern und fast hätte sie ihre Hand ergriffen. Doch dann erinnerte sie sich an die Corona-Regeln und hielt die geballte Faust hin, eine Begrüßung, die ihr jedes Mal einiges abverlangte, so unmenschlich fand sie diese.
„Oh, entschuldigen Sie!“ Frau Londgrün drückte ihre Faust gegen die der Kommissarin und blickte dann zur kleinen Tochter: „Das ist Luise.“
„Hallo, Luise!“, grinste Sandra das Mädchen an und die etwa Dreijährige grinste schüchtern zurück. Die Kommissarin vermutete, dass die Kleine noch nichts vom Tod des Vaters wusste. Das würde Sandra auch nicht ändern wollen, sondern die Aufklärung des Kindes der Mutter überlassen.
*
Schweigend fuhren sie im Passat durch Hamburg. Sandra hatte sich einen neutralen Dienstwagen ausgeliehen; im Smart war nur Platz für zwei. Sie hatte selbst an einen Kindersitz gedacht. Man konnte ihn bei der Fahrbereitschaft ausleihen, und das hatte sie heute zum ersten Mal gehört.
„Wo werden Sie wohnen?“, fragte die Kommissarin.
„Im Strandhotel Blankenese. Wie ich weiß, ist der Bungalow noch nicht freigegeben. Olaf besitzt zwar aus seiner Studienzeit noch eine kleine Wohnung in Hamburg, aber erst einmal sind wir hier untergekommen.“
Sandra nickte. „Das ist gut so, sicher ist es im Hotel für Sie und die Kleine zunächst angenehmer.“
„Ist Papa auch im Hotel?“, wollte die Kleine plötzlich wissen.
Die beiden Frauen schauten sich an, und wie abgesprochen rollten ihnen Tränen die Wangen herab. Sandra griff vorsichtig nach der Hand der Beifahrerin und meinte: „Keine Angst, ich bin bei Ihnen!“
*
Sandra war heute zum ersten Mal im Blankeneser Strandhotel und es entpuppte sich als echtes Kleinod. Luise lag auf dem zweiten Bett im Zimmer und war eingeschlafen.
„Wie ist Olaf gestorben?“, flüsterte die Mutter.
„Der Täter hat ihn mit ... mit einem Schuss ins Herz niedergestreckt!“, stotterte die von der Frage überraschte Kommissarin.
„Musste er leiden?“
Sandra schüttelte den Kopf. „Nein, auf keinen Fall!“ Die Kommissarin wollte noch hinzufügen, dass der Täter wohl ein ausgezeichneter Schütze war, ließ es aber.
„Gibt es schon Hinweise darüber, was die Männer im Haus gesucht haben?“
„Nein, aber helfen Sie mir. Eigentlich sollten wir das im Kommissariat besprechen, aber die Kleine ...!“ Sandra wies auf Luise, die nur wenige Meter neben ihnen lag.
„Befand sich in der Villa etwas besonders Wertvolles, etwas, was einen ... Mord rechtfertigen würde?“
Gabrielle Londgrün ließ sich Zeit für ihre Antwort. Erst nach einigen Minuten begann sie: „Mein Mann sammelt leidenschaftlich Uhren. Im Tresor in seinem Arbeitszimmer liegen sicher Chronografen für einige Tausend Euro. Wahrscheinlich hatten sie es darauf abgesehen.“
Sandra schaute zur Sprecherin. Sie fand den Satz etwas merkwürdig, fragte aber: „Mehr Wertsachen gab es nicht?“
„Was meinen Sie mit mehr?“
„Aktien, Gold, Diamanten, Wertpapiere, keine Ahnung, Wertvolles halt.“
Die Frau starrte Sandra entgeistert an. „Glauben Sie, wir sind Millionäre?“
Sandra überlegte, wie sie antworten sollte, und bereute erneut ihren voreiligen Entschluss, die erste Vernehmung im Hotel durchgeführt zu haben.
„Verstehen Sie doch, Frau Londgrün. Die Einbrecher haben in der Villa etwas von großem Wert gesucht und sind dabei von Ihrem Mann überrascht worden. Was also könnten Sie unten in der Wellness-Einrichtung gesucht haben?“
Die Kommissarin zog ihr Handy hervor und zeigte ihr Fotos von den beschädigten Wänden im Spa-Bereich. Sie glaubte am Zittern der Dänin zu erkennen, dass sie psychisch am Ende war. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, woraufhin die Kommissarin aufgesprungen war.
„Ich lasse Sie für den Rest des Tages allein. Lassen Sie uns morgen auf dem Kommissariat weitersprechen. Zehn Uhr? Hier ist meine Karte, rufen Sie an, wenn Sie unten an der Pforte angekommen sind, ich hole Sie dann ab.“ Sie legte ihre Visitenkarte auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett und trat zur Tür.
„Eine Frage noch!“
Frau Londgrün nestelte nervös an ihrer Bluse und schaute die Kommissarin an.
„Was genau hat Ihr Mann mit seiner Firma gearbeitet?“
Frau Londgrün zögerte, dann erklärte sie: „Olaf war App-Entwickler. Er und seine Angestellten haben unter anderem an der Corona-App mitgearbeitet.“
Sandra nickte. Sie war kein Freund dieser Corona-App, hatte sie aber trotzdem auf beiden Handys installiert. Da hatte Londgrün bestimmt gut verdient, schätzte die Kommissarin. Die Bundesregierung hatte ja anfänglich Milliarden verpulvert, zum Beispiel mit der Beschaffung des medizinischen Mund-Nasen-Schutzes. Warum nicht auch für eine App? Sie grüßte, indem sie die Hand hob, und verließ dann das Hotelzimmer.