So sehr es auch überraschen mag: Das Hotel Meurice in Calais ist das Mutterhaus des berühmten Palace-Hotels in Paris, nicht umgekehrt. Die alte Poststation ist sogar eine Vorgängerin der Luxushotellerie in ganz Europa – mit einem Luxus allerdings, der inzwischen ziemlich abgeblättert ist, für lange Zeit jedoch zu Ibis-Preisen englische Touristen angezogen hat. Das Problem ist, dass sich die englischen Touristen, wie Ihnen jeder Händler in Calais erklären wird, aus Angst vor den Migranten und allgemeiner vor dem Chaos in der Stadt verdünnisiert haben.
Herr Cossard, der Besitzer des Meurice, würde seinen Laden gern verkaufen – nur leider verkauft sich in Calais rein gar nichts mehr. Er würde auch gern die Bereitschaftspolizisten als Gäste gewinnen, immerhin sind eintausendachthundert davon rund um den Tunnel und den Hafen stationiert – ein Glücksfall für alle Geschäftsführer von Ibis, Novotel und Formule 1 –, doch die Leute, die im Innenministerium darüber entscheiden, halten die verfallene Bürgerlichkeit des Meurice, seine Toile-de-Jouy-Stoffe, seine wackligen Chaiselongues und seinen verstaubten Nippes wohl für schwer vereinbar mit der rauen Mission der Ordnungskräfte.
Und doch gibt es seit einigen Monaten eine neue Kundschaft. Sie besteht zu einer Hälfte aus Journalisten, zur anderen aus Filmemachern und Künstlern aus ganz Europa, die kommen, um über das Elend der Flüchtlinge zu berichten. Zuweilen könnte man meinen, man befinde sich im legendären Holiday Inn von Sarajewo, wo während der härtesten Zeit der Belagerung sämtliche Kriegsberichterstatter logierten. Nach dem Frühstück zieht sich jeder eine warme Daunenjacke über die Multipocket-Weste, schnappt sich seine Kamera und steigt in sein bei Avis an der Place d’Armes geliehenes Mietauto, um in den »Dschungel« zu fahren, so wie man sich anderswo an die Front begibt.
Ich selbst fahre nicht in den Dschungel – noch nicht. Ich bleibe in der Stadt. Doch noch bevor ich das Haus verlasse, wird mir ein Brief ausgehändigt, der heute Morgen an der Rezeption für mich abgegeben wurde und dessen erste Zeilen lauten:
»Nein, Sie nicht!
Heute Nachmittag war Laurent Cantet da, letzte Woche Michael Haneke, auch Charlie Winston hatten wir schon, insofern, Herr Carrère, nein, nicht auch noch Sie! Wir hier sagen uns: Wir haben die Nase voll von diesen Promis, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, die hier in Calais ihre Schäfchen ins Trockene bringen und uns, die wir in seinen Mauern eingeschlossen sind, als Laborratten betrachten. Was wollen Sie hier? Zwei Wochen zwischen Das Reich Gottes und Ihrem nächsten Opus, um im Meurice zu nächtigen, ein paar Seiten für XXI zu schreiben und Ihre persönliche Wahrheit über unsere Stadt zum Besten zu geben? Sie werden bemerkt haben, ich sage ›unsere Stadt‹, als würde ich mich selbst als Calaiserin betrachten. Doch wissen Sie, Herr Carrère, in den drei Jahren, die ich in diesem Loch wohne, habe ich jede Woche mindestens eine Anfrage von Leuten von außen erhalten, die, wie Sie, über das, was sie gesehen haben, schreiben, einen Film machen oder in ein Mikro sprechen wollen – möglicherweise im Glauben, es besser zu können als alle anderen davor, und mit dem Wunsch, das gewiss dringende Bedürfnis nach einer persönlichen Stellungnahme zu stillen. Calais ist zu einem Zoo geworden, und ich bin eine der Kassenfrauen in diesem Zoo. Ich kenne den Rundweg, und so frage ich mich: In welche Falle werden Sie tappen? Welche Atmosphäre werden Sie einsaugen? Die des Channel (ich habe Sie dort gesehen)? Des Betterave (auch dort habe ich Sie gesehen)? Des Minck (wo man Sie sicher dazu gebracht hat, den Leuten die Hand zu schütteln)? Ich weiß es nicht, es gelingt mir nicht, meine Gedanken auf den Punkt zu bringen, aber eines bin ich mir gewiss: Ihr Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt.«
Acht Seiten in diesem Stil, acht eher traurige als bösartige Seiten, sehr gut geschrieben und mit einem Namen unterzeichnet, der nach einem Pseudonym aussieht: Marguerite Bonnefille – das brave Mädchen. Nach der Lektüre mache ich mich natürlich recht nachdenklich auf den Weg ins Café du Minck. Zu Fuß, was in diesem so verarmten Département, dass es seine Steuereinnahmen vor allem aus Kfz-Zulassungen bezieht, selten praktiziert wird.
Ich laufe die Rue Royale hinauf, die Hauptverkehrsader von Nord-Calais – das praktisch eine Insel ist und bis ins 19. Jahrhundert ganz Calais war. Die Rue Royale wird wegen der vielen Bars, die sie säumen, auch »Rue de la Soif«, Straße des Dursts, genannt. Hier wird sich Samstagabends ordentlich geprügelt. Morgens sind die Bars geschlossen und ein Teil der Läden auch – letztere jedoch ohne die Aussicht, auch wieder zu öffnen, zum einen, weil es immer weniger Leute in Calais gibt, die irgendetwas kaufen könnten, zum anderen, weil man für Einkaufsbummel, aber auch für Freizeitbeschäftigungen oder Kinobesuche, falls man für solche das nötige Kleingeld hat, in die Cité Europe geht, das große Einkaufszentrum in der Nähe der Tunneleinfahrt in der Nachbargemeinde Coquelles.
Die Cité Europe, der Tunnel: Alles scheint sich verschworen zu haben, um die Innenstadt von Calais überflüssig zu machen. Bleibt noch der Hafen, auf den man stößt, wenn man die Place d’Armes überquert. Wie die gesamte Stadt nach dem Krieg von einem Architekten wiederaufgebaut, der ihr einen mediterranen Touch verlieh – welcher recht schlecht zum Klima passt, der Architekt hatte sich seinen Namen vor allem in Toulon und Casablanca gemacht –, wird dieser riesige, windige Platz von zwei Statuen geziert, die den General de Gaulle und seine Tante Yvonne darstellen, eine Calaiserin und Schwester von Jacques Vendroux, der von 1959 bis 1969 im Rathaus das Zepter schwang. Diese Statuen sollen einige Tage nach meiner Abreise mit Graffitis besprüht werden: von einem »Nik la France«, den man den mysteriösen No Borders zuordnet, Aktivisten ohne bestimmte Nationalität, Struktur und Hierarchie und im Dschungel sehr gegenwärtig, auf ihre Weise hingebungsvolle Idealisten, die man in der Stadt allerdings einvernehmlich als irgendwie boshafte Trolle betrachtet, die nur nach Gelegenheiten zum Stänkern suchen.
Kurz und gut: Der Hafen von Calais ist der größte Passagierhafen Frankreichs und nach Dover der zweitgrößte Europas. Zusammen mit den Webspitzenfabriken war er lange der wichtigste Arbeitgeber der Stadt. Und das letzte Wort ist dazu auch noch nicht gesprochen: Ein ehrgeiziges Projekt namens »Calais 2015« (das allerdings Anfang 2016 noch nicht besonders weit gediehen war) plant die Verdoppelung seiner Fläche und seiner Aktivitäten. Doch die Konkurrenz des Tunnels, der trostlose Fortsetzungsroman um SeaFrance und die täglichen Zwischenfälle mit den Migranten haben ihm gehörig den Wind aus den Segeln genommen.
Diese Themen sind Dauerbrenner bei den Stammgästen des Café du Minck – in das man mich, Marguerite Bonnefille hatte richtig gelegen, gleich nach meiner Ankunft geführt hat. Meine Verbindungsleute waren dabei Bruno Mallet, ein Journalist von La Voix du Nord, und seine Frau Marie-France Humbert, die für den Nord littoral zeichnet – was darauf hinausläuft, für die Capulets und die Montagues zu arbeiten, so erbittert wetteifern diese beiden, obgleich derselben Mediengruppe zugehörenden Tageszeitungen um ihre Leser. Doch dann versöhnen sich alle wieder bei einem Muscadet im Café du Minck, einem der gastlichsten Orte von Calais und, wie ich glaube, der Welt. Die Kundschaft ist im Durchschnitt recht betagt: pensionierte Seeleute, Fischer, Händler, Gewerkschafter aus dem Hafenbetrieb …, und ich hoffe, nicht missverstanden zu werden, wenn ich behaupte, dass es vor Charakterschädeln à la Raymond Bussières nur so wimmelt, die einen Castingdirektor für einen Nostalgiefilm zur Feier des früheren proletarischen Adels in helles Entzücken versetzen würden.
Das Bemerkenswerteste ist allerdings nicht diese außergewöhnliche Konzentration an weißhaarigen, rotgesichtigen, arglosen Rüben und auch nicht die Tatsache, dass diese Rüben zu einem mir unbekannten Anteil Wählern des Front National gehören, sondern der vor fünfzehn Jahren von den Wirten Laurent und Mimi eingeführte Brauch, dass jeder, der die Tür des Minck aufstößt – durch die mit ihm zusammen eine gehörige Brise Meeresluft fegt –, vor seiner Bestellung eine Runde um die Tische und die Bar dreht, um alle anwesenden Gäste, ob er sie kennt oder nicht, per Handschlag zu begrüßen.
Selbst wenn ich sonst ein eher reservierter Typ bin, habe auch ich es mir zur Gewohnheit gemacht, bei meinem Eintreten zwanzig oder dreißig Flossen zu schütteln, und ich war begeistert davon, bis meine Briefpartnerin mir klarmachte, dass ich mich damit wie ein Tourist verhielt, der in Paris mit dem Bateau-Mouche herumschippert und seine Abende im Moulin Rouge verbringt.
In der Tat trinke ich morgens meinen Kaffee im Minck und schlürfe abends ein paar Bier im Betterave, einer angesagten Bar in Nord-Calais und Ableger des Channel, über das ich gleich noch sprechen werde. Am Tresen des einen wie des anderen konnte ich überprüfen, inwieweit das Klischee zutrifft, die Leute im Norden seien ebenso herzlich und gastfreundlich wie ihr Wetter scheußlich. Es ist wie mit den Russen: Man sagt, sie seien versoffen, sentimental und exzessiv – und es stimmt.
Seitdem ich allerdings Marguerite Bonnefilles Brief erhalten habe, verdächtige ich jedes Gesicht, das meiner ominösen, im Hinterhalt lauernden Schreiberin zu sein und mir mit bitterer Ironie heimlich zuzuhören, wie ich meine Leier vorbringe, warum ich hier sei. »Was das Persönliche betrifft«, schreibt sie mir, »ist Ihr Ansatz zugegeben originell. Über Calais zu sprechen, aber nicht über seine Migranten, sondern über den Rest – wenn ich richtig verstanden habe –, das ist wirklich mal was anderes. Sie setzen aufs Unkonventionelle, herzlichen Glückwunsch!« Sie sind ungerecht, Marguerite Bonnefille. Ich erzähle niemandem, ich wolle über Calais sprechen, »aber nicht über seine Migranten« – warum nicht gleich über Warschau 1942, aber nicht über sein Ghetto? –, sondern nur, dass ich meinen Fokus vor allem auf die Stadt und ihre Einwohner richten will.
All meine Gesprächspartner begrüßen dieses Vorhaben lebhaft: »Es stimmt«, höre ich allerorten, »wir haben genug davon, dass man nur deswegen über uns spricht. Und auch wir selbst haben genug davon, immer nur darüber zu sprechen.« Woraufhin wir unausweichlich beginnen, »darüber« zu sprechen. Manche auf eine sehr drastische Art, doch viele vor allem mit dem Tenor: Das Schlimmste ist, dem nicht ausweichen zu können und ständig gezwungen zu sein, sich als ›pro-‹ oder ›antimigrantisch‹ zu positionieren. Es ist die ewige Dreyfus-Affäre: Kennen Sie die entsprechende Zeichnung mit dem Familienessen? Auf dem ersten Bild sagt der Hausherr: »Bitte, sprechen wir nicht darüber«, auf dem zweiten sieht man einen verwüsteten Tisch und einander mordende Gäste, und die Bildunterschrift lautet: »Sie haben darüber gesprochen.«
›Pro-‹ und ›antimigrantisch‹ sind seltsame Begriffe. ›Promigrantisch‹, so etwas gibt es nicht, in dem Sinn, dass niemand dafür sein kann, vor den Türen einer Stadt mit siebzigtausend Einwohnern eine Bevölkerungsgruppe von sechstausend Notleidenden in einer verzweifelten Lage zu wissen, die bei beißender Kälte im Schlamm in Zelten schlafen und den anderen – je nach Charakter – Besorgnis, Mitleid oder ein schlechtes Gewissen einflößen. Und ›antimigrantisch‹, in der extremen Bedeutung des Worts, das Leute bezeichnet, die fähig sind zu brüllen: »Ertränkt sie!« oder »Geht nach Hause!« – was häufig auf dasselbe hinausläuft –, ja, das gibt es tatsächlich, ich habe welche getroffen, aber nicht sehr oft. Viele sagen, solange es nur ›die Kosovaren‹ waren – die in den 1990er Jahren am Ende der Balkankriege ankamen, weshalb vor allem die Alten sämtliche illegale Fremde so nennen –, sei es ja noch gegangen. Sie waren nur einige Hundert, und man fand sich mit ihnen ab. Aber jetzt, mit ›den Sibiriern‹, jetzt ist es zu viel.
Zweimal hat man mir von ›den Sibiriern‹ erzählt. Und ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass damit die Syrer gemeint waren und mit ihnen die Kurden, Afghanen, Eritreer, Sudaner und all jene, die inzwischen zu Tausenden aus einem Mittleren Osten oder einem Ostafrika kommen, die man jeden Tag im Fernsehen als verwüstete Landstriche sieht, sodass man verstehen kann, dass diese Unglückseligen flüchten, aber lieber hätte man doch, wenn sie anderswo Halt machten als in unseren Gärten. Schon klar, dass man sie aufnehmen muss, aber warum bei uns? Warum in Calais, das ohnehin genug zu kämpfen hat?
Niemand ist von der kompromittierenden Anwesenheit der Migranten begeistert, und die Migranten selbst sind verzweifelt, hier zu sein, nur die Antimigranten suchen die Schuld direkt bei ihnen – mit einer gehörigen Portion Rassismus, das muss man klar sagen –, während das Ganze für die Promigranten ein Problem des Staats, von Europa und vor allem von England ist, wohin ja alle wollen, das aber sie nicht will und uns den üblen Streich gespielt hat, seine Grenze bei uns zu ziehen und uns zu beauftragen, sie zu überwachen. Dieser Nepp trägt den Namen »Vorgezogene Grenzkontrollen am Ärmelkanal«, und diese Bezeichnung sagt selbst Leuten etwas, die Syrer Sibirier nennen.
Das Ergebnis der Vorgezogenen Grenzkontrollen lässt sich konkret an der Ausfahrt der A16 beobachten, wenn man im Osten der Stadt die Umgehungsstraße nimmt, die zum Hafen und den Fährterminals führt. Man wähnt sich in einem Kriegsfilm oder einem postapokalyptischen Videospiel. Dutzende von Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei CRS parken auf dem Seitenstreifen und überwachen den unterhalb liegenden größten Slum Europas.
Sobald es dunkel ist, machen sich junge Kerle in schwarzen Anoraks und Strickmützen, die in diesem Slum dahinvegetieren, an die Erstürmung der Umfahrung und starten die verschiedensten Ablenkungsmanöver – wie Äste oder Einkaufswagen auf die Straße werfen –, um einerseits die Aufmerksamkeit der Bereitschaftspolizisten abzulenken und andererseits den Verkehr zu verlangsamen in der Hoffnung, einen LKW erklimmen zu können. Dabei gibt es zahlreiche, manchmal tödliche Unfälle, und selbst für diejenigen, die es schaffen aufzuspringen und zum Hafen zu gelangen, sind die Chancen weiterzukommen verschwindend gering, so ausgeklügelt sind dort die Kontrollen: Hunde, Infrarotstrahler, Wärme- und Herzschlagsensoren … Ein Albtraum für alle Beteiligten: für die Flüchtenden wie die CRS-Polizisten, die LKW-Fahrer wie die Autofahrer, die entweder Angst davor haben, von einem Migranten angegangen zu werden oder einen zu überfahren – eine andere Variante des Gegensatzes anti oder pro.
Man fährt zwischen zwei weißen, vier Meter hohen Gitterzäunen entlang, die mit aufgesetztem Stacheldraht und Rasierklingen versehen sind (das Modell heißt »Concertina«). Diese Zäune haben die britische Regierung 15 Millionen Euro gekostet – das ist ihr Beitrag, während Frankreich das Personal stellt –, und sie erstrecken sich im Osten der Stadt weiter bis zum Tunneleingang, dem anderen Zugangsweg nach England. Die gesamte Landschaft, die hier einst aus bewaldeten, sattgrünen Hügeln bestand, wurde in einen riesigen Wassergraben verwandelt. Die Eurotunnel-Gesellschaft ließ letzten Herbst 100 Hektar Bäume fällen, um die Migranten daran zu hindern, sich ungesehen fortzubewegen, und um die Überwachung mit Videokameras zu erleichtern: Selbst ein Hase fände inzwischen kein Versteck mehr. Um das Maß voll zu machen, hat sie einige Monate darauf das gesamte Gebiet geflutet. In den Worten Bruno Mallets: Wenn sie Krokodile hineinsetzen könnten, würden sie auch das noch tun.
Der Himmel über all dem, der prächtige und so abwechslungsreiche Himmel der Opalküste, ist von Hubschraubern durchzogen. Rastlos kreisen Blaulichter, heulen Sirenen, verfolgen Menschen andere Menschen. Ich will die Situation nicht Eurotunnel vorwerfen, das seinen Verkehr schützen muss, ich bin ganz sicher nicht in der Lage zu sagen, wer der Hauptverantwortliche dafür ist: der französische Staat, der nicht tut, was zu tun wäre, England, das sich von Europa nimmt, was ihm passt, und uns mit dem Rest allein lässt, oder Präsident Bush, der mit seiner Eroberung des Irak den komplizierten Orient in Brand gesetzt hat, ich will auch nicht vergessen, dass mein Thema die Bewohner von Calais sind und nicht die Migranten – wenn ich es vergäße, würde mich Marguerite Bonnefille daran erinnern –, doch es bedarf dieser Kulisse, um zu verstehen, warum man sich in Calais schwertut, an irgendetwas anderes zu denken.
Und doch versucht man es: Man denkt an die Arbeit, die Kinder, die Freunde. Man versucht, ein normales Leben zu führen. Ich frage mich, wie dieses normale Leben für mich aussähe, würde ich einige Monate oder Jahre in Calais wohnen, statt zwei Wochen hier als Journalist zu verbringen. »Zwei Wochen, Herr Carrère, zwei Wochen! Glauben Sie wirklich, Sie werden Calais in zwei Wochen kennenlernen? Ich sage Ihnen: Sie täten besser daran, eine Zeitlang wirklich hier zu leben und dann ein Buch daraus zu machen.« Ich habe den Ratschlag vernommen, vielleicht bahnt er sich ja seinen Weg. In der Zwischenzeit jedoch frage ich mich: Wenn ich eine Zeitlang in Calais leben würde, wie würde ich hier meinen Platz finden, welche Orte würde ich aufsuchen, mit welchen Leuten hätte ich Umgang?
Die Antwort ist einfach, meine Briefpartnerin konnte kaum fehlgehen: Zumindest in der ersten Zeit wäre ich Stammgast im Channel. Von einem Kulturschaffenden aus Calais, Francis Peduzzi, gegründet und in den alten Schlachthöfen am Rand des Stadtrings eingerichtet, hat dieser riesige Komplex den prestigeträchtigen Status eines Staatstheaters, die damit einhergehenden Subventionen und den berechtigten Anspruch, ein »Ort städtischen Lebens« zu sein. Weitläufige rote Backsteingebäude, Industrieparkett, Theatersäle, Buchhandlung, Bistro, gemütliche Sessel und Sofas, das Ganze mit der sehr persönlichen, ein wenig an Eiffel und Jules Vernes erinnernden Note des Künstlers François Delarozière aus Nantes, der seit zwanzig Jahren ein legendärer Weggefährte der Channel-Gemeinschaft ist und dessen nächster Besuch von dieser jedes Mal erwartet wird, als sei er der Messias.
Denn das Channel, in dem man sich leicht in New York oder Berlin wähnen kann, ist tatsächlich eine Gemeinschaft. Jedermann kennt sich und drückt sich Küsse auf die Wangen: das Team, die Stammgäste, aber auch, das muss man hervorheben, die Schüler aus dem benachbarten Gymnasium, die herkommen, um hier ihre Hausaufgaben zu machen. Es ist das kunstsinnige, pulsierende Herz einer armen, zerstrittenen Stadt. Es ist auch, man ahnt es schon, die sicherste Bastion der Partei der Promigranten in Calais. Die verschiedenen Organisationen für Flüchtlingshilfe treffen sich zwanglos hier jeden Mittwoch (zur gleichen Zeit wie die Verkäufer von Bioprodukten), der »Appell der 800« für Flüchtlinge findet hier seine natürliche Fortsetzung, junge, coole, aufgeweckte Leute sind jederzeit bereit, als ortskundige Vermittler für Pariser Künstler zu agieren, die den ›Djeungueule‹ besichtigen wollen – denn im Channel sagt man nicht ›Dschungel‹, sondern ›Djeungueule‹, und ›Dschungel‹ zu sagen, das habe ich schnell verstanden, ist in etwa so, als würde man für ›Jude‹ ›Israelit‹ sagen oder, wie früher die Rechten, ›Mitt-ran‹ für Mitterrand.
Im Channel gibt es eine ausgezeichnete Buchhandlung, die dem Verlag Actes Sud gehört und von Marie-Claire Pleros geführt wird. Marie-Claire ist eine hübsche, ernste, sanfte Frau mit einer sehr schönen Stimme, jedermann liebt sie. Sie hat mir zu Beginn meines Aufenthalts sehr geholfen und mich mit Leuten bekannt gemacht, von denen einige mir ihre Türen geöffnet haben und deren Namen ich hier gern erwähnen möchte: Dominik und Marie-Claire Richard-Multeau, Jean-Louis und Annie Bougas, Pierre-Yves und Mimi Chatelin.
Gemessen an Calais mit seinen 13% Arbeitslosen sind sie Privilegierte, und das wissen sie, doch von den berühmten 200 Familien sind sie weit entfernt: Sie sind Finanzberater, Lehrerin, Direktor des Feriendorfs VVF (das VVF befindet sich in Sangatte, einem hübschen kleinen Badeort, dessen Tourismus durch die derzeitigen Medienberichte fürchterlich gelitten hat, aber inzwischen hat ganz Calais dieses Problem), ein seit kurzem pensionierter Sportlehrer, der nach mehreren Transatlantik-Regatten eine Weltumsegelung plant – vier oder fünf Jahre sieht er vor, doch seine Frau lacht zärtlich: ein oder zwei werden vielleicht genügen … Als Télérama- und zum Teil sogar XXI-Leser, Stammgäste des Channel und standhafte Linkswähler haben sie mit ihren Prinzipien bemerkenswert offene und freundliche Kinder herangezogen (ich spreche von den beiden, die ich kennengelernt habe: Marion Chatelin und Camille Richard-Multeau), die angesehene Studiengänge in Lille oder Paris besuchen und genau wissen, dass sie, selbst wenn sie es wollten, nicht dort werden leben können, wo sie geboren sind, weil es keine Arbeit gibt und wahrscheinlich auch nie wieder geben wird.
Sie leben im Viertel Saint-Pierre, der alten Gemeinde Saint-Pierre-lès-Calais, deren Entwicklung zur Stadt im 19. Jahrhundert mit der Herstellung von Spitze begann. Damals hatte man die Fabriken und Arbeiterhäuser dorthin gebaut, weil die Bürger von Calais – als es noch nicht Nord-Calais hieß – nicht vom pausenlosen Dröhnen der Jacquard- und Leaver-Maschinen, die Tag und Nacht liefen, gestört werden wollten. Die Leute im Alter meiner Gastgeber – das auch meines ist, Ende Fünfzig – erinnern sich noch lebhaft an diesen nervtötenden Lärm, dem sie dennoch nachtrauern. Es ist still geworden. Die Spitzenfabriken, bei denen vor dem Krieg noch etwa zwanzigtausend Personen in Lohn und Brot standen und selbst vor zwanzig Jahren noch fünftausend, zählen heute nur noch vierhundert Beschäftigte. Von den etwa hundert Fabriken sind ganze vier übrig geblieben. Die Gebäude der anderen sind riesige, entkernte, rußige Backsteingehäuse mit Höfen voller Rost und Unkraut, ideal für Hausbesetzungen, und in der Tat haben die Flüchtlinge genau dort Schutz gesucht, bis die Stadtverwaltung sie im letzten Jahr von dort vertrieb, um sie im Dschungel zusammenzupferchen, wo sie die Calaiser weniger stören – hatte man gedacht. Und damit sie nicht in Versuchung kämen zurückzukehren, vermauerte man sämtliche Türen und Fenster.
In den Straßen dieses früher brummenden, betriebsamen Viertels stehen jetzt zwei von drei Häusern zum Verkauf. Diejenigen, die nicht leerstehen, wurden von ihren Besitzern, die selbst in die ruhigeren Nachbardörfer Marck oder Coulogne gezogen sind, in winzige Wohnungen aufgeteilt und über das städtische Sozialamt an Sozialhilfeempfänger vermietet. Hinter geschlossenen Rollläden und heruntergezogenen Gittern kein Licht. Man läuft durch menschenleere, aschfahle Straßen, in einer Grauzone zwischen Sperrstunde und Ausnahmezustand.
Umso wärmer ist das Gefühl von Herzlichkeit und Halt, wenn sich die Tür eines Hauses von Freunden öffnet. Diese Häuser, in denen ich mit Sicherheit Stammgast wäre, wenn ich in Calais wohnen würde, wirken wie Kabinen an Bord der Titanic: voller Bücher und Schallplatten, mit glänzenden Küchen und auf den Toiletten eingerahmten Zitaten von Edgar Morin, Albert Jacquard, Stéphane Hessel und Pierre Rabhi, dem Apostel der Entschleunigung, dessen Kolibritheorie man mir bei einer prächtig stinkenden Käseplatte – Maroilles, Boulette d’Avesnes: die großen Klassiker des Nordens – erläutert hat: Im Wald brennt es, alle Tiere flüchten, nur der Kolibri flattert zum Fluss, füllt sein Schnäbelchen mit Wasser und fliegt schnell wie der Pfeil zurück, um den Inhalt aufs Feuer zu gießen. Den ganzen Tag lang schwirrt er so hin und her, und als ein Flusspferd ihn darauf aufmerksam macht, dass diese paar Tropfen Wasser gegen eine solche Feuersbrunst nichts ausrichten, antwortet der Kolibri: »Vielleicht, aber ich leiste meinen Beitrag.«
Der Kolibribeitrag meiner Freunde aus Calais bestand darin, den Flüchtlingen, als diese noch im Stadtzentrum hausten, Essen, Decken und Kleidung zu bringen und mit ihnen zu sprechen, und jetzt, da man sie in den Djeungueule ausgelagert hat, mehr oder weniger das Gleiche zu tun, aber weniger oft. Sie haben ein schlechtes Gewissen deswegen und fragen sich ängstlich, zu welchen Taten sie wohl unter der deutschen Besatzung fähig gewesen wären, sie würden sich gern mehr engagieren – genau wie ich, der ich in meinem Pariser Kiez doch genügend Afghanen oder Kurden vorfände, wollte ich ein tatkräftigerer Kolibri sein.
»Herr Carrère, wissen Sie, was das Schwierigste hier ist? Die Trägheit. Da steigt man schnell von seinem hohen Ross. Und ist zerschmettert, wenn man feststellt, dass in dieser Stadt nichts funktioniert. Dass alles festgefahren ist: die Bobos in ihrer Blase, die Blödmänner in ihren Wohnblöcken, die Politiker in ihrem Parteipolitikerlook, die Stacheldrahtprofis an der Umgehungsstraße und am Tunnel … Ich glaube, ich werde depressiv hier, Herr Carrère. Abends fahren wir bei Windböen von 94 km/h nach Hause, ins Warme und Trockene, während … Ach ja, es wurde ja vereinbart, nicht darüber zu sprechen.«
Wissen Sie, Marguerite, ich tue, was ich kann. Ich treffe Leute, viele Leute, nicht nur Bobos in ihrer Blase, wie Sie sagen – wobei es mich beruhigt, dass es in Calais überhaupt welche gibt. Sie haben sich selbst in meine Reportage eingeladen, also gut, dann sollen Sie mir helfen, erlauben Sie mir, Sie noch einmal zu zitieren: »Als wir erfuhren, welchen Blickwinkel Sie wählen wollen, haben mein Freund und ich gelächelt. Wir haben uns gesagt, wunderbar, dann können Sie ja in aller Ruhe über die Arbeitslosen, die Alkoholiker und all ihre Wesensverwandten berichten, die diese Stadt bevölkern. Über die Feuerwehrmänner, die den Front National wählen, und die Paare, die vorm Gericht landen, weil sie ihre Teenager in die Geheimnisse des Inzests einführen, wenn sie nicht gerade Oralsex mit ihren Schäferhunden haben. Über diese Schlägereien, die sich am Monatsanfang häufen, weil die Sozialhilfe fällig ist, und die Leute, die an den Geldautomaten Schlange stehen, im Taxi nach Auchan zum Einkaufen fahren, sich dann volllaufen lassen und am Schluss in den Bars von Nord-Calais prügeln.«
Hier, Marguerite, sprechen Sie von den ZUPs, den »Gebieten zur vorrangigen Stadtentwicklung« Beau-Marais und Fort-Nieulay, den Calaiser Pendants zu Outreau in Boulogne: ungute Orte, vor deren Gewalt sich jemand wie meine Freundin Marie-Claire sehr viel mehr fürchtet als vor der Kriminalität von Migranten; Viertel, die man »vorrangig zu entwickeln« nennt, außer dass inzwischen die ganze Stadt vorrangig zu entwickeln wäre, wie Kader Haddouche mit einem Lächeln anmerkt.
Kader ist 39 Jahre alt, er ist ein Harki-Enkel und Sohn algerischer Analphabeten – sein Vater pensionierter Arbeiter in der Asbestherstellung, seine Mutter Reinigungskraft – und eine solche Biographie ist gar nicht so gewöhnlich in einer Stadt, wo es, im Gegensatz zum Steinkohlerevier, praktisch keine Einwanderer gegeben hat. In Calais brauchte man keine zusätzlichen Arbeitskräfte, für die Spitzenherstellung fand man alles vor Ort. Genau das war paradoxerweise Kaders Glück: In der Spitzenherstellung nahm man, wie er berichtet, nur ›Langzeitcalaiser‹, als Araber hatte er da keinerlei Chance, und so musste er studieren, während seine Jugendfreunde, die auf eine Beschäftigung in der Spitzenindustrie setzten, es nicht taten. So wurde Kader Biologielehrer an der Fachoberschule, während seine Freunde, die ›Langzeitcalaiser‹, mehr oder weniger alle Statisten in jenem Bild geworden sind, das Sie, liebe Marguerite, mir entgegenkommenderweise schon gezeichnet haben: dem der Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, des Alkoholismus und Rassismus.
Die Wahlbüros Nummer 20 und 21 im Großraum Calais, die bei den letzten Regionalwahlen mehr als 50% der Stimmen für den Front National auszählten, befinden sich in Beau-Marais, dort spuckt man auf die Einwanderer, auch wenn man hier nie welche sieht, denn sie haben nicht den geringsten Anlass, hierher zu kommen. Kader kämpft dagegen an, er hat sich – wie Marie-Claire – für die Liste der Opposition aufstellen lassen, die von Yann Capet, dem sozialistischen Abgeordneten von Pas-de-Calais, angeführt wird. Sie haben es auf 20% gebracht, das ist ordentlich. Ihnen, Marguerite, erzähle ich nichts Neues, aber der Leser dieses Textes weiß womöglich nicht, dass sich das politische Leben in Calais seit dem Krieg zusammenfassen lässt in dreißig Jahre rechte Stammhalterpolitik von Jacques Vendroux, dem Schwager General de Gaulles, fast vierzig Jahre so dogmatische wie faule kommunistische Verwaltung, die sorgfältig alle Investoren mit der Begründung, man brauche sie nicht, vergraulte, und schließlich seit 2008 die Bürgermeisterin der UMP (inzwischen »Die Republikaner«) Natacha Bouchart, die man kritisiert und zugleich dafür schätzt – oder eben nicht –, das letzte Bollwerk gegen den Front National zu sein.
Kader führte mich in Beau-Marais herum, wo er aufgewachsen ist und immer noch lebt und sich zu Hause fühlt – was in Fort-Nieulay nicht der Fall ist, das ist nicht sein Revier, dort ist er vorsichtig. In einem kalten Nieselregen streunten wir zwischen heruntergekommenen Wohnblöcken und Spielplatzrutschen herum, die einem die Tränen in die Augen trieben, interviewten ein paar jugendliche Schulabbrecher, die sich kiffend in einer verwüsteten, nach allen Seiten offenen Halle den Arsch abfroren (»Was meinen Sie, was wir sonst tun sollten? Es gibt nichts zu tun«) und besuchten das Gemeinschaftszentrum, deren Leiterin sagt: »Wir arbeiten hier auf ein gelungenes Zusammenleben hin, auf persönliches Wohl und Geselligkeit.« Sobald es heraus ist, lächelt sie etwas betrübt, sie weiß genau, es ist reiner Beamtensprech – und doch, erzählt mir Kader, habe er genau hier als Kind seine ersten Tim-und-Struppi-Hefte gelesen und komme seine Mutter jede Woche zu einem Gymnastikkurs her: Das ist nicht nichts – und nicht nur nicht nichts, sondern alles, was es gibt.
Die letzten Geschäfte im »Gebiet zur vorrangigen Stadtentwicklung«, But und La Farfouille, sind verschwunden. Das Einzige, was in den letzten Jahren neu dazugekommen ist, ist die Arbeitsagentur: So muss keiner weit fahren und sich bis ins Zentrum bewegen, und tatsächlich kommt auch nie jemand dorthin – außer Samstagabends zum Prügeln. Dieses Detail, Marguerite, schien mir für sich zu sprechen, aber ich muss einräumen, dass es eine dürftige Ausbeute ist und dass ich keiner Fellatio mit einem Schäferhund beigewohnt habe.
Ich habe mich immer wieder um den Dschungel gedrückt und habe es vertagt und aufgeschoben, tatsächlich hinzugehen. In Ihrem Brief sprechen Sie darüber als »das, was uns alle hier die ganze Zeit aushöhlt«. Ja, das spürt man: dass es aushöhlt, besetzt, spaltet, und dass diese Spaltung nicht nur zwischen Großzügigkeit und Egoismus verläuft, zwischen Offenheit und Abschottung, gebildeten Leuten und einem Lumpenproletariat, das noch Elendere zum Hassen gefunden hat als sich selbst, sondern auch, ganz konkret, zwischen Leuten, die dort waren und möglicherweise auch noch einmal hingehen werden, und jenen, die nie einen Fuß hineingesetzt haben. Ich will auf Letztere keinen Stein werfen, vielleicht würde auch ich zu ihnen gehören, wenn ich in Calais wohnen würde, und ich habe mehr Respekt vor Marie-Claire, die bis jetzt davon abgesehen hat aus Angst, von ihren Empfindungen und dem Gefühl der Machtlosigkeit überwältigt zu werden, als vor all den gegen das Unglück abgehärteten Touristen.
Am Ende bin ich doch hingegangen, zusammen mit einer jungen Frau, Clémentine, die zwar im Channel arbeitet, aber das Camp gut kennt und oft Besucher hinbegleitet. Ich werde von diesem Besuch hier nicht erzählen. Ich habe es versucht, aber es schluckt alles andere. Es nimmt sofort zu viel Raum ein, man kann es nicht in die Grenzen von ein paar Absätzen zwängen. Ich möchte nur Eines zu jenen Calaisern anmerken, die wie die tapfere Clémentine mit Bergstiefeln und Rucksack das Camp aufsuchen, um zu helfen, zu versorgen und zu informieren. Sie sagen, was alle Freiwilligen gleich welcher Nationalität sagen und was mich zuerst als missionarische Romantik genervt hat, was aber, wie ich glaube, trotzdem wahr ist: Der Dschungel ist ein Albtraum aus Not und Verslumung, es passiert Schreckliches dort, es gibt Racheakte und Vergewaltigungen, und seine Bewohner sind weit davon entfernt, allesamt friedliche Ingenieure, fleißige Studenten und tugendhafte politische Verfolgte zu sein, aber es zeigt sich auch etwas unglaublich Mitreißendes, nämlich die Energie und der Lebenshunger, der diese Männer und Frauen auf eine lange, gefährliche und heroische Reise getrieben hat und auf der Calais, auch wenn es wie eine Sackgasse aussieht, nur eine Zwischenstation ist – was auch das Fresko des Graffittikünstlers Banksy auf einer Betonmauer am Eingang des Dschungels ausdrückt.
Die Stadtverwaltung wollte es erst entfernen lassen, dann jedoch bemerkte sie, dass es sich um ein Kunstwerk handelt, ein Kunstwerk zudem von einem der berühmtesten und teuersten Street Art-Künstler der Welt, und dass es, wie Die Bürger von Calais von Rodin, jetzt zum Kulturerbe der Stadt gehört. Das Bild zeigt Steve Jobs, der ein Bündel über der Schulter und einen Uraltcomputer in der Hand trägt, und erinnert daran, dass der Begründer von Apple seinen Weg in Amerika als Kind der syrischen Stadt Homs genommen hat. Die Situation ist gewiss nicht dieselbe, die Parallele ist umso schiefer, als Steve Jobs nur seiner Abstammung nach Syrer war und in San Francisco geboren und adoptiert wurde, aber egal: Manche Flüchtlinge werden bei dem Versuch, nach England zu kommen, sterben, andere werden ihr Dasein an den Rändern Europas in Demütigung und Armut fristen, und doch kann ein Syrer oder Afghane, der es um den Preis von tausend Gefahren bis nach Calais geschafft hat und sich jetzt, Gott weiß wie, im Dschungel durchschlägt, diesen als nur einen Moment in seinem Leben betrachten, als vorübergehende Prüfung, als Sprungbrett zur Erfüllung seiner Träume. Die Lage eines kleinen Weißen, der in Beau-Marais von Sozialhilfe lebt, ist weniger prekär, aber in gewisser Weise verfahrener und endgültiger, und ich frage mich, ob nicht das mehr oder weniger bewusst der eigentliche Grund für sein Ressentiment ist.
Er: … Wir rackern uns ab und empfangen sie mit offenen Armen, wir kümmern uns darum, dass sie ein Dach über dem Kopf haben – okay, bei ihnen ist Krieg, und es heißt, sie sind arm, aber wenn Sie arm sind, dann haben Sie kein 600-Euro-Handy, und Turnschuhe, die zehnmal so viel kosten wie meine, und Markenklamotten. Die tun extra so, als seien sie arm, aber keine Sorge, die sind reicher als wir, die zahlen keine Steuern, kriegen Unterkunft, Verpflegung und Kleidung umsonst; die ganzen Verbände geben ihnen alles, was sie wollen. Mit ihrer Kohle gehen sie zu Bricoman und kaufen sich Schraubenzieher, Hämmer, Kreissägen und alles, was man braucht, um Zäune durchzuschneiden und um kaputtzuschlagen, was man kaputtschlagen kann, und wer zahlt das? Wir mit unseren Steuern.
Sie: Und jetzt lässt man sie auch noch Führerschein machen, während mein Sohn kein Geld dafür hat.
Ich: Wirklich? Man lässt sie den Führerschein machen?
Sie: Ja, das habe ich im Internet gesehen, und ich habe zwei gesehen, die aus der Fahrschule Gambetta kamen, die hatten vielleicht gute Laune, sage ich Ihnen! In Auchan, wo wir unsere Wocheneinkäufe machen, sieht man unsere Einkaufswagen neben ihren, ihre sind bis obenhin voll mit zehn Baguettes pro Tüte, mit Fanta in Sixpacks, Chips, und alles nur Markenzeug. Diese randvollen Einkaufswagen, das ist grausam, wirklich grausam. Die haben Geschäfte in ihrem Dschungel, ist das vielleicht legal? Ein französisches Geschäft zahlt Steuern und eine Zulassung, und die? Glauben Sie, dass die irgendwas zahlen? Die Franzosen lässt man im Stich, wir können uns allein durchschlagen, und die kriegen alles umsonst.
Er: Die schmeißen alles Mögliche von den Brücken runter, die laufen kreuz und quer über die Autobahn, wenn ein Franzose das täte, würde er ins Kittchen wandern, sie dagegen dürfen alles. Mittlerweile denk ich: Wenn einer von denen vor mir über die Autobahn läuft, dann brems ich nicht, dann geb ich Gas.
Sie: Die ziehen in Banden von dreißig, vierzig Leuten rum, schauen sich finster um und suchen irgendwas zum Klauen. Meine Söhne sind 21 und 17, aber wenn sie abends ausgehen, habe ich Angst, dass sie angegriffen werden. Man geht in die Stadt und ist allein, und die sind viele. Ständig gibt es Übergriffe.
Ich: Sind Sie schon angegriffen worden?
Sie schauen sich an: Nein.
Ich: Und Ihre Söhne?
Sie: Nein.
Ich: Kennen Sie jemanden, der angegriffen wurde? Den ich vielleicht treffen könnte?
Sie: Nein, aber es gibt welche. Es gibt eine Frau, die wohnte im Chemin des Dunes, die war dort zu Hause, und jetzt, wo die Migranten ihr das Leben unmöglich gemacht haben, muss sie weg.
Er: Sie hat ein Video gedreht, das können Sie sich auf der Webseite der Calaisiens en colère, der Wütenden Calaiser, anschauen. Die wollten sich zusammentun und sich verteidigen, aber sie mussten aufhören, weil es zu gefährlich wurde für sie. Das sind Familienväter und -mütter, die werden von niemandem geschützt. Die Polizei hat ihnen gesagt, sie könne sie nicht schützen, sie dürften Franzosen nicht beschützen.
Sie: Wissen Sie, was am Eingang ihres Camps steht? »Ein Bulle, eine Kugel.«
Ich besitze Kilometer solcher Wortprotokolle; Sie, Marguerite, dürften Sie auswendig kennen. Es ist genau das, was die Leute sagen, die Sie mir in ihrem Brief als solche beschreiben, »die sich mit dem Nachnamen zuerst vorstellen: Delcloy, Kevin oder Carpoulet, Monique«. Der Calaiser von der Basis, »alleinerziehend und bedürftig«, wie ihn melancholisch Baptiste definiert, ein junger Koch, mit dem ich Bekanntschaft schließe, der Dostojewski liest und im Übrigen Aljoscha Karamasow ähnelt.
Es ist schwer, sich das ohne Standesdünkel anzuhören, und diese Sätze sind weniger simple Gemeinheiten als vielmehr Worte von Armen, und zwar eher Armen an Bildung als an Zahlungsmitteln. Es ist ebenfalls schwer einzuschätzen, was an dem, was sie erzählen, dran ist und wie hoch der wirkliche Unsicherheitsgrad in Calais ist. Weder Polizei noch Stadtverwaltung haben mir auf meine, allerdings auch nicht sonderlich hartnäckig verfolgten Nachfragen geantwortet. Die gefühlte Unsicherheit – gefühlt, so wie man von gefühlter Kälte spricht –, wird je nach Gesprächspartner unterschiedlich angegeben. Doch selbst Leute wie meine Pierre Rabhi lesenden Freunde, die aus ideologischen Gründen dazu neigen sie herunterzuspielen, geben zu, dass eine bedrohliche Atmosphäre auf der Stadt laste.
Die Promigranten befürchten sie, die Antimigranten erhoffen sie, doch alle warten nur auf eine Katastrophe, die alles zum Umkippen bringen wird wie der Mord eines Calaisers an einem Migranten – was es, wie man mir klarmacht, schon gegeben haben muss – oder eines Migranten an einem Calaiser – das nicht, noch nicht, sonst wüsste man davon. Obwohl … Die Wütenden Calaiser sind überzeugt, dass das Gegenteil der Fall ist, dass die Lokalpresse empörte Titelseiten macht, sobald ein Flüchtling sich den kleinen Finger verstaucht, und dagegen auf Befehl von oben gezielt die Übergriffe vertuscht, deren Opfer Franzosen sind. Sie glauben, die Regierung sei für die Einwanderer und gegen die Einheimischen und die Redaktion des Nord littoral sei von No Borders überschwemmt (das ist allerdings nicht der Eindruck, den ich bei meiner allmorgendlichen Lektüre hatte), während sie selbst sich zum Ziel gesetzt haben, gegen diese Falschinformation anzukämpfen und jene Arbeit zu erledigen, die die Journalisten nicht machen, nämlich zu bezeugen, was in Calais wirklich passiert und wovon man nichts erfährt und was, wenn man es erführe, einen Bürgerkrieg auslösen würde.
Die Webseite ihres Kollektivs, das mit denen der islamophoben Riposte laïque oder des Essayisten und ehemaligen Front National-Mitglieds Alain Soral in ständigem Austausch steht, ist typisch für das, was man »Faschosphäre« nennt, und selbst wenn es mir aus einer vielleicht exzessiven Vorliebe für Nuancierung und die Komplexität der Welt gefallen hätte, Wütende Calaiser zu porträtieren, die keine grobschlächtigen Spießer sind, muss ich gestehen, dass diejenigen, die ich getroffen habe, solchen doch sehr nahekommen. Ob sie wirklich mit Prügeln losgezogen sind, bevor sie sich hinter einem primitiven Journalismus verschanzten und unermüdlich mit ihren Handys Szenen von Steinwürfen auf Bereitschaftspolizisten oder LKWs auf der Umgehungsstraße filmten? Waren ihre nächtlichen Treffen, bevor die Polizei sie unterband, tatsächlich klassische Ausschreitungen – wie ein Video bezeugt, das von ihren Erzfeinden, den No Borders, gepostet wurde – oder wurden sie, wie sie beteuern, von unkontrollierten, rassistischen und gewaltbereiten Elementen missbraucht, während sie selbst keine solchen sind?
Ich habe keine Ahnung, ich kann nur Folgendes berichten: Ich bin noch einmal hingegangen, nicht in den Dschungel, doch an seinen Rand, und zwar in Begleitung von zwei Wütenden Calaisern: einem kräftigen jungen Mann, der Sicherheitsbeamter seines Staats ist, und einer kleinen, leicht ergrauten, nervösen Dame, beide von der Sorte, die ihre Nachnamen vor dem Vornamen nennen, liebe Marguerite, nur dass sie Nämliches überhaupt nicht taten, weil sie die ihren lieber nicht preisgeben wollten. Sie haben gewiss gute Gründe, Journalisten zu misstrauen, und ich fürchte, wenn sie das hier lesen, wird das die Sache nicht besser machen.
Ziel unserer Exkursion war, »eine Anrainerin zu unterstützen«. Ich habe bereits zugegeben, dass mir die Wütenden Calaiser weder besonders offen noch besonders interessant erschienen, aber ich muss ebenfalls eingestehen, dass besagte Anrainerin gute Gründe hat zu klagen und dass es eine wahre Hölle sein muss, wie sie in der Route de Gravelines zu wohnen. Eine Hölle, zu der Vieles seinen Beitrag leistet: zum Einen das unablässige Hin und Her der Flüchtlinge auf dem aufgerissenen, schlammigen Weg, die Horden von jungen, abgezehrten, ungestümen Männern, die sich sicher, wie jene in Köln, in fortgeschrittener sexueller Not befinden, private Gärten als Abkürzung Richtung Autobahn benutzen, beim Vorübergehen Holz klauen, einen Stinkefinger oder ihre Schwänze zeigen und Haustiere einfangen und essen (so sagt man mir); zum Anderen die gewiss beruhigende, auf Dauer aber belastende Anwesenheit der CRS-Mannschaftswagen, die ständig vor dem Haus parken und dann auf einmal wie der Blitz losstarten; und schließlich die Tatsache, dass dieses Haus, für das man sich abgerackert hat und das noch nicht einmal abgezahlt ist, offenkundig keinen Pfifferling mehr wert ist. Es gibt also Einiges, wofür man der Unterstützung bedarf, und ich sah nicht recht, wie ich der Anrainerin etwas über das »Einwanderungsland Frankreich« hätte herbeten oder Matthäus 25, Vers 35 zitieren sollen: »Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.« Zumindest habe ich sie gefragt, ob in ihrer Nachbarschaft alle ihre Ansichten teilen. Daraufhin deutete die Wütende Calaiserin, die an ihrer Statt das Wort ergriff, mit dem Finger auf ein kleines Nachbarhaus und sagte leise, als könne man uns hören: »Die da drüben, die ist gegen uns.«
Natürlich klingele ich an der Tür dieses Häuschens. Zunächst keine Antwort, aber da ein Auto davor steht, gebe ich nicht auf. Ich ahne sehr wohl, dass besagte Anrainerin mich von ihrem Fenster aus beobachtet. Schließlich geht die Tür auf und eine junge Frau mit einem Baby im Arm erscheint. Etwa dreißig, sehr freundlich. Ich sage meine Leier auf und erkläre, ich sei mit einer Wütenden Calaiserin hergekommen, aber man habe auf sie verwiesen als jemand von der anderen Seite.
Sie bestätigt lächelnd und bittet mich herein. Sie nennt mir ihren Namen und gestattet mir, ihn aufzuschreiben: Ghizlane Mahtab. Ohne Vorbehalt bewirtet sie mich und erzählt von sich: Ihr Mann und sie wohnen seit einem Jahr hier, er ist Auslieferer, sie eine arbeitslose Laborantin; bis sie etwas Besseres findet, arbeitet sie bei McDonald’s (bei der Tochter der Wütenden Calaiserin war es Quick). Sie haben vier Kinder zwischen acht und zwei Jahren. Ihr Haus wird »das Wlan-Haus« genannt, denn bevor man die Zäune aufstellte, die jetzt die Siedlung einfassen, sah man ständig etwa dreißig Flüchtlinge vor ihrem Haus. Die Nachbarn waren der Meinung, sie hätte ihnen das Passwort gegeben, aber es war einfach so, dass vor ihrem Haus die Verbindung funktionierte und es sie nicht störte, dass die Flüchtlinge kamen, sie hatte nie auch nur das geringste Problem.
Sie sagt nicht, dass es keine Probleme gebe, ihre Nachbarin habe tatsächlich welche gehabt, vielleicht übertreibe sie ein bisschen, aber jedenfalls habe sie welche gehabt, doch für sich kann Ghizlane nur sagen: sie nicht. Nie hat jemand in ihr Fenster geschaut, nie ein Paar Socken von der Wäscheleine geklaut oder ein Baguette aus dem vollgestopften Kofferraum ihres Autos, den sie offenstehen lässt, wenn sie ihre Einkäufe ausräumt. Sie mag eben Menschen, lächelt sie an, interessiert sich für sie. Die Kinder aus dem Dschungel kommen zum Spielen zu ihren, die Kleine nennt sie »die Nachbarn« und der Größte »die Armen«. Auch wenn ihr Mann reservierter ist als Ghizlane, denkt er wie sie, er hat einem jungen Kerl, der barfuß herumlief, Schuhe geschenkt, seine Hochzeitsschuhe sogar, und es stört ihn auch nicht, dass sie mit den Kindern in den Dschungel Teetrinken geht.
Den Nachbarn gefällt das natürlich nicht, sie rufen die Polizei, um die vor ihrem Haus versammelten Flüchtlinge zum Fortgehen zu bewegen, und es gibt Familienmitglieder, die ihr keine Wangenküsse mehr geben, weil sie glauben, sie habe etwas Ansteckendes: Krätze oder Schlimmeres. Andere denken, sie habe einen Liebhaber im Dschungel, aber das ist ihr egal. Sie weiß sehr wohl, dass es Diebstähle, Vergewaltigungen und miese Dinge gibt, sie ist sauer auf die zweihundert Idioten, die den Ruf von sechstausend Leuten schädigen, die in Ordnung sind – aber ist es in Calais nicht genauso, gibt es nicht überall Idioten? Und diese Wütenden Calaiser, die sich Masken überziehen, Steine auf Migranten werfen und Tag und Nacht ihre Runden drehen, haben die wirklich nichts Besseres zu tun? Die beiden Damen, die ständig da drüben zusammenhocken, wo ich hergekommen bin, haben die keine Kinder und keine Hausarbeit zu erledigen?
Ich höre Ghizlane zu, die währenddessen ihrer Kleinen Nuggets von McDonalds serviert, und natürlich finde ich ihre Worte tröstlich. Das sage ich ihr, sie setzt das gutmütige Lächeln einer Frau auf, die findet, das sei doch normal, das sei doch das Mindeste, schließlich sind wir alle Menschen, oder? Vor zwei Monaten haben Leute von Paris Match sie interviewt und fotografiert, sie weiß nicht, ob das erschienen ist, sie muss sich mal schlau machen – jedenfalls ist sie großartig in der Rolle der positiven Heldin, ganz Offenheit und Spontaneität: eine ebenso gute Besetzung wie die so oft gefilmte Dame, die den Flüchtlingen in ihrem Einfamilienhaus Verteilersteckdosen zur Verfügung stellt, damit sie ihre Handys aufladen können.
Ich verabschiede mich und kehre zu der Anrainerin zurück, die immer noch von der Wütenden Calaiserin unterstützt wird. Ich berichte ihnen – was sie natürlich bestens wissen –, dass ich von der Nachbarin komme, die »gegen sie« sei, und dass diese Nachbarin behaupte, keine Probleme zu haben. Daraufhin mustert mich die Wütende Calaiserin und punktet mit dem Argument: »Und warum lebt sie dann mit ständig zugezogenen Vorhängen?«
Es ist seltsam, auch mir war das aufgefallen, allerdings ohne registriert zu haben: Es war Mittag, schönes Wetter, sonnig und trocken, trotzdem waren die Eisengitter heruntergelassen und unser Gespräch wurde im Schein einer Deckenlampe geführt, und so strahlend Ghizlane auch ist, Tatsache ist, dass ihr Haus verbarrikadiert ist wie das der letzten Menschen auf Erden in einem Zombiefilm. Zerknirscht sage ich: »Das stimmt.« Die Wütende Calaiserin triumphiert und fragt mich mindestens dreimal: »Und? Warum lebt sie wohl mit geschlossenen Vorhängen? Warum? Hm? Warum wohnt sie im Finstern?«
Ich komme zum Ende, Marguerite. Sie hatten recht, zwei Wochen sind lächerlich, ich habe nichts von Calais gesehen – oder fast nichts. Und von dem, was ich gesehen habe, haben viele Dinge keinen Platz in diesem Bericht gefunden. Ich wollte von der Spitzenherstellung erzählen, von ihrer Größe und ihrem Niedergang, von den Dutzenden von hochspezialisierten Berufen, die sie hervorgebracht hat, wie Musterentwerfer, Musterzeichner, Patroneur, Lochkartenstecher, Schärerin, Garnpresser, Spulerin, Schwarzweber, Wieblerin, Ausbesserin, all diese Einzelkompetenzen, die im Beruf des Tüllmachers zusammenlaufen, dem wahren König der Textilfertigung, dem respektierten Dompteur dieser Maschinen, die 20 Tonnen wiegen und 12 Meter messen und aus denen das herauskommt, woraus zumeist hauchzarte Slips und BHs entstehen.
Ich hätte gern Anne Le Deist porträtiert, die Sie natürlich kennen, eine Stammbesucherin des Betterave und Musterentwerferin von Noyon – eine der letzten Fabriken, die noch in Betrieb sind – und die jetzt freiberuflich für chinesische Kunden arbeitet, und Bruno de Priester, den letzten manuell arbeitenden Lochkartenstecher von Calais, den ich wie einen Organisten an seiner Maschine habe arbeiten sehen, ebenso Olivier Noyon, den Chef, der eine Filmfigur von Sautet sein könnte. Piccoli hätte ihn großartig dargestellt, heute würde wohl Vincent Lindon die Rolle lieben: den Industriellensohn aus dem Norden, ein schöner, eleganter, warmherziger Mann, der sein Leben erst mit audiovisuellen Medien in der Pariser Cité des Sciences und dann mit Musik verbracht hat, bevor er mitten in einer Midlife-Crisis einwilligte, das Geschäft zu übernehmen, damit es in der Familie bleibt. Seine Frau, eine Filmcutterin, hat wohl gehörig damit gehadert, nach Calais zu ziehen. Von der Spitzenherstellung hatte er keine Ahnung, doch er bildete sich weiter und mochte es, und mir schien, auch ihn, Olivier oder »Monsieur Olivier«, wie ihn in der Fabrik jeder nannte, mochte man, auch wenn sein Job seit seiner Betriebsübernahme vor allem darin bestanden hat, die asiatische Konkurrenz wegstecken zu müssen, die Produktion nach Sri Lanka auszulagern und in fünfzehn Jahren drei Entlassungswellen durchzuziehen.
Und den Pfarrer Delenclos! Auch ihn, Marguerite, dürften Sie kennen, den Priester von Fort-Nieulay, der seit dreiundfünfzig Jahren dort wirkt und wiederum ein Held von Bernanos oder Pialat sein könnte: ein lachendes Miststück, ein erschöpfter Koloss, der sich selbst zu »nicht wenig Herz und ziemlich viel Schnauze« bekennt und der einzige mir bekannte Mensch auf der Welt ist, der zu meinen vermag, »dass unser Fort-Nieulay doch eigentlich ganz hübsch ist«. Früher gab es noch einige Gemeindemitglieder, jetzt fast keine mehr, seine Kirche ist leer, doch dass die Alten gehen und die Jungen nicht nachrücken, findet er normal, »wir sind keine religiösen Fleischfresser in dieser Gegend, außerdem sind wir nicht da, um Umsatz zu machen, sondern um Jesus-Christus zu bezeugen«, und wenn er auch kaum noch Gemeindemitglieder hat, so hat er doch immer noch Nachbarn, die ihn aufsuchen und um Rat bitten und denen er hilft, nicht allzu großen Blödsinn anzustellen, solche Leute eben, und solange es solche noch gebe und sei es auch nur einen in der Stadt, könne man nicht aufgeben, allerdings sei er auch schon 84 …
Ich muss wirklich zum Schluss kommen, Marguerite, ich habe maximal vierzigtausend Zeichen, und so habe ich keine Zeit mehr, vom Schiffsmakler Antoine Ravisse zu erzählen, obwohl mir der Mann doch so gefallen hat: einer, der nicht einen Tag in seinem Leben zu Bett gegangen ist, ohne am Hafen gewesen zu sein und das Meer gesehen zu haben. Und auch nicht von seiner neuen Lebensgefährtin Valérie Devos, einer Anwältin, die genauso aufgedreht ist wie er gelassen und die, während er aufs Meer schaut, wie ein Maschinengewehr grauenhafte Geschichten von Racheakten zwischen albanischen Schleppern herunterrattert, die sie als Pflichtverteidigerin vertritt.
Marguerite Bonnefille, ich muss Ihnen danken: dass Sie mich herausgefordert haben, dass Sie mir den Weg gewiesen haben, obwohl Sie doch Ihren Namen, Ihr Gesicht und Ihren Beruf nicht zu erkennen geben wollen. Aber Sie haben mir einen groben Hinweis gegeben, diese Passage in Ihrem Brief, erinnern Sie sich?: »So, ich komme gerade von einer Autofahrt zurück, weil ich über die Spannungen in der Stadt berichten soll. Werden Sie diese Spannungen in der Nacht überhaupt kennenlernen? Als ich näherkam, habe ich gezittert, wissen Sie, ich hatte Angst, einen Stein oder einen Stockschlag in die Scheibe zu bekommen. Doch scht!, Sie haben ja einen anderen Blickwinkel gewählt.«
Eine Frau, die sich nachts aufmacht, um »über die Spannungen in der Stadt zu berichten«, so etwas nennt man Journalistin. Sie arbeiten für die Rubrik Vermischtes, Marguerite, Sie dürften in denselben Büros wie meine Bekannten Bruno und Marie-France tätig sein. Und da Sie vom Fach sind, wissen Sie sicher auch, wie wichtig ein Stückchen Papier sein kann. Die Geschichte mit den Vorhängen von Ghizlane Mahtab jedenfalls hat mich gequält. Also rief ich sie an und fragte, was es damit auf sich habe. Sie fasste meine Frage, übrigens freundlich, nicht auf, als stelle ich ihr Vertrauen in die Menschheit, sondern ihre Qualitäten als Hausfrau in Abrede: »Ach wirklich? Die Vorhänge waren zugezogen? Das war, weil ich noch nicht aufgeräumt hatte. Aber wenn Sie jetzt kommen, werden Sie sehen, dass alles offen ist.«
Ich habe gedacht, von diesem Detail ausgehend könnte man zwei sehr unterschiedliche Geschichten erzählen. Einmal die Version, die einen Schimmer von Hoffnung, ein kleines Eckchen blauen Himmel lässt und besagt: Wer offen ist und lächelt, bekommt auch Offenheit und Lächeln zurück. Oder aber die, die, sagen wir, Eric Zemmour gefallen würde: Der Dschungel ist nicht nur eine Hölle, sondern jeder Hoffnungsschimmer ist zudem eine Lüge, und diese Frau erzählt Journalisten diese Glücksbärchi-Geschichte, weil das sympathischer rüberkommt und ein befriedigendes Bild von ihr abgibt, doch in Wirklichkeit lebt sie komplett verriegelt und verrammelt, »im Finstern«, wie die Wütende Calaiserin sagt; und auch wenn die Wütenden Calaiser nicht sympathisch sind, sind es doch sie, die die Wahrheit sagen …
Ich habe mich gefragt, für welche Version ich mich entscheiden würde, wenn ich einen fiktionalen Text schriebe. Aber ich schreibe keinen fiktionalen Text und deshalb bin ich am Tag meiner Abreise noch einmal in die Route de Gravelines gefahren, und ich weiß, es ist nicht von statistischem Wert, und was in einem Moment wahr ist, kann es im nächsten schon nicht mehr sein, aber trotzdem, Marguerite, ich habe mich gefreut, feststellen zu dürfen, dass an diesem Freitag, den 22. Januar 2016, um 11 Uhr morgens die Vorhänge von Ghizlane Mahtab aufgezogen waren.