Mai 2017

Die vorliegende Reportage entstand im Januar 2016. Im Verlauf der folgenden neun Monate änderte sich nicht viel. Nacht für Nacht versperrten Migranten mit Baumstämmen oder Hohlblocksteinen die Umgehungsstraße am Hafen, um LKWs zum Anhalten zu zwingen, ihre Planen aufzuschneiden und sich im Laderaum zu verstecken in der Hoffnung, so nach England zu gelangen. Die Umgebung des Dschungels war flächendeckend von der gewohnten Mischung aus afghanischen oder eritreischen Jugendlichen, Polizisten, Wütenden Calaisern, Vertretern von humanitären Organisationen und kleineren oder größeren Medienberühmtheiten in der Rolle des Beobachters bevölkert – zuletzt Pamela Anderson. Die Blaulichter der Streifenwagen waren so dauerhaft im Einsatz, dass man Calais scherzhaft »die blaue Stadt« oder »Las Vegas« nannte. Das Übliche also. Doch dann fand Ende Oktober 2016 das statt, was man monatelang angekündigt hatte: die Räumung des Dschungels.

Ich selbst war nicht dabei, doch meine Briefpartnerin Marguerite Bonnefille berichtete mir davon. Nach der Veröffentlichung meiner Reportage waren wir freundschaftlich in Kontakt getreten und sie hatte mir ihren wirklichen Namen verraten: Marie Goudeseune. Wie ich vermutet hatte, arbeitete sie für eine lokale Zeitung, La Voix du Nord, und von ihr erhielt ich die meisten meiner Informationen.

Die Auflösung, erzählte sie, dauerte vier Tage und war – aus Sicht der Behörden, weniger aus der der Dschungel-Bewohner – sehr gut organisiert. Die Polizisten pferchten die meisten von ihnen in Busse, auf denen optimistische, poetische Slogans standen wie: »Bis ans Ende meiner Träume«. Sie wurden entweder ins benachbarte Lager nach Grande-Synthe geschickt, ins Heim für Minderjährige nach Saint-Omer oder in Dörfer in ganz Frankreich. Nachdem der Dschungel mehr oder weniger leer war, kamen Männer in orangen Anzügen, Bagger machten sich ans Werk, und schließlich verbrannte man vor den gierigen Augen einer Armee von Journalisten und vor denen eines erschütterten letzten Rests von Bewohnern die Hütten.

»Solange man über Flüchtlinge im Allgemeinen spricht«, schreibt Marie, »geht das alles in Ordnung, und wir bewegen uns im Rahmen einer Verwaltung, die entschieden durchgreift. Anders sieht es aus, wenn man über den sechzehnjährigen Saleh sprechen will, der vor dem brennenden Kid’s Café in Tränen ausbricht, weil er nicht weiß, wo und mit wem er heute Abend schlafen wird, weil er hoffnungslos allein ist.« Der Dschungel ging buchstäblich in Rauch auf, man hätte ihn für die Überbleibsel eines im Krieg oder durch eine Naturkatastrophe zerstörten Dorfes halten können. Danach waren in Calais und Umgebung kaum noch Flüchtlinge zu sehen. Die Polizei machte nach dem Null-Toleranz-Prinzip Jagd auf Hausbesetzer und wilde Camper, die erschöpften Calaiser atmeten auf.

Doch zwei Monate später kamen ein paar Dutzend Flüchtlinge zurück, und La Voix du Nord, bei der Marie arbeitet, stellte die beängstigende Frage: »Sind sie wieder da?« (Dieses »sie« ist derzeit sehr begrenzt, es handelt sich um 150 bis 200 Leute, während der Dschungel mindestens 8000 beherbergte.) Eine zweite Frage schließt sich an: Welche Auswirkungen wird der Brexit, so er dereinst abgeschlossen sein wird, auf die Rolle der englischen Grenzpolizei haben, die bis jetzt, und zwar ausgesprochen ungern, von französischen Behörden ausgeübt wird? Und eine dritte: Was wird aus dem riesigen, leeren Gelände, auf dem sich der Dschungel erstreckte? Man hört von einem Reitsportzentrum, ebenso von einem Naturschutzgebiet unter der Verwaltung der Küsten- und Naturschutzbehörde Conservatoire du littoral. Die Leute vom Conservatoire du littoral haben eine einzige fixe Idee, erzählt Marie: auf dem Gebiet Uferschwalben anzusiedeln. Nun sind aber Uferschwalben – ist es bittere oder naive Ironie – Zugvögel, auf Französisch: »oiseaux migrateurs«; ihnen wird man nun einen herzlicheren Empfang bereiten als ihren menschlichen Vorgängern, die zusehen können, wo sie bleiben.