Sie standen überall herum und hatten das Wohnzimmer in ein Labyrinth aus Pappe, Klebeband und Qualen verwandelt. Ich habe Umzugskartons immer schon gehasst. Allein schon ihre Farbe treibt einem jede Freude aus. Ich bückte mich, um den ersten anzuheben, als unvermittelt eine Welle aus verworrenen Erinnerungen über mich hinwegschwappte. Wie oft hatte ich genau das schon getan? Ich hielt einen Moment inne und versuchte, mich an die Anzahl der Umzüge zu erinnern, die ich bereits hinter mir hatte. Ich kam auf 30.
Ich konnte einfach nicht weitermachen. Es war Juli, ich lebte seit drei Jahren in Paris und hatte kaum zwei Tage Zeit für den Umzug. 48 Stunden, um 80 Umzugskartons zu kaufen, mein aus Kleidung, Geschirr, Büchern, Fotos und Erinnerungen bestehendes Leben darin zu verpacken, einen Transporter zu mieten, ihn zu beladen, an der neuen Wohnung wieder zu entladen und mein Leben an diesem mir nahezu unbekannten Ort wieder aufzunehmen. Ich wollte mit meiner damaligen Partnerin zusammenziehen, mit der ich eine Tochter erwartete. Wir lebten übergangsweise in einer Wohnung im Süden der Stadt, die einem nach Berkeley gezogenen Freund gehörte. Von dort aus wollten wir in aller Ruhe nach »unserem Zuhause« suchen, einem Ort, an dem alles — von den Wänden über die Möbel und Einrichtungsgegenstände bis hin zu den Empfindungen — unseren gemeinsamen Vorstellungen entsprach. Umzüge sind das profane, alltägliche Pedant zum Jüngsten Gericht, in dem die Verdammten von den Auserwählten getrennt werden und eine Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen wird, die zugleich die Grenze zwischen Schmerz und Glück ist. Umzüge sind Übergangs- und Verwandlungsrituale.
Wir wohnten vier Monate in diesem Übergangsdomizil und fanden erst einige Wochen vor dem Umzug eine Wohnung in den östlichen Vororten von Paris. Dort lebten Künstler, Designer und junge Paare. Die Räume hier waren größer und die Parks grüner, weshalb man nicht das Gefühl hatte, im Einzugsgebiet der Hauptstadt, sondern bereits in einem Dorf in der Provinz zu wohnen.
Wir blieben kaum ein Jahr in Montreuil, denn ich erhielt eine Einladung in die Vereinigten Staaten, und wir zogen nach New York. Dort lebten wir nun zu dritt neun Monate lang in einer kleinen Wohnung an der Upper West Side, nur einen Steinwurf von der Universität entfernt, an der ich arbeitete. Die Wohnung befand sich in einem von diesen typischen New Yorker Gebäuden mit einem Pförtner, der Tag und Nacht hinter einem großen Tresen saß und den Eingang bewachte. Hier machte meine Tochter Colette ihre ersten Schritte. Ich war nur mit wenigen Taschen angekommen, doch am Ende meines Aufenthalts hatten sich Dutzende Kartons mit Besitztümern angesammelt, die ich über den Atlantik verschicken musste. Mit anderen Worten, ein Großteil dieses New Yorker Lebensjahres reiste getrennt von mir.
Zurück in Europa zogen wir wieder in die Wohnung am Stadtrand von Paris. Aber auch diesmal blieb ich dort nicht lange, denn nur ein Jahr später verließ mich meine Partnerin. Also suchte ich mir eine andere Wohnung und verpackte Leben und Ängste erneut in Pappkartons.
Aber auch das war nicht von Dauer, denn über viele Jahre zog ich durchschnittlich einmal pro Jahr um und wechselte mit der Wohnung meistens auch die Stadt. Nicht selten befand sich mein neues Zuhause in einem anderen Land, Tausende Kilometer vom alten entfernt. Zu dieser Zeit bedeutete ein Umzug für mich, dass ich fast alles aufgeben musste, was ich hatte. Und beileibe nicht nur die Möbel.
Zum bislang letzten Mal bin ich vor anderthalb Jahren umgezogen. Die Wohnung liegt unweit der Kirche Saint Germain, in einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert, das sich von außen gesehen gefährlich nach innen zu neigen scheint. Anders als die aus derselben Zeit stammenden Hôtels particuliers hat es so gar nichts Herrschaftliches an sich und man sieht ihm sein Alter an. Die Flachreliefschilde, die die Hofwand neben dem Efeu zieren, haben sehr unter dem sauren Regen gelitten und sind stark verwittert. Im Hof liegt auch die halboffene Treppe, die zu meiner Wohnung führt. An den Wänden des Treppenhauses hat die Zeit ebenfalls ihre Spuren hinterlassen, doch niemand hat es je gewagt, sie zu beseitigen. In diesem Fall sind die Altersflecken nämlich ein Zeichen der Schönheit. Zum ersten Mal liebe ich den Ort, an dem ich lebe.
Dessen ungeachtet werde ich wahrscheinlich nicht sehr lange dort bleiben. Denn obwohl ich einen starken Widerwillen gegen Umzugskartons empfinde, von denen mittlerweile 150 im Keller auf ihren Einsatz warten, habe ich keine Angst davor, ein weiteres Mal umziehen zu müssen.
Im Laufe der Jahre habe ich über 30 Mal ein neues Zuhause betreten und schließlich wieder verlassen. Während ich das schreibe, wird mir klar, dass ich noch nie versucht habe, mir alle meine Wohnungen nebeneinander vorzustellen. Und das ist auch verständlich, denn dabei käme ein kleines Stadtviertel aus völlig unvereinbaren Welten heraus. Jedes Zuhause enthielte Gesichter, die ich kaum wiedererkennen würde und mit denen ich in meinem jetzigen Leben so gut wie nichts gemeinsam hätte.
30 Ansammlungen von Wänden, die das, was ich als meins betrachtete, aufnahmen, schützten und behüteten. Aber nicht im Sinne von Recht und Besitz, denn vieles von dem, was »mein« war, war nicht durch ein Eigentumsverhältnis an mich gebunden, das ich vor Gericht hätte geltend machen können. Es handelte sich nämlich nicht nur um materielle Dinge, es waren Erinnerungen, Empfindungen, Erfahrungen und vor allem die Leben anderer Menschen, die mir zwar nicht gehörten, aber trotzdem auch meine waren.
30 Zuhause sind vor allem 30 Orte unterschiedlicher Form und Größe, die an meiner Stelle »Ich« sagten. Aber keines von ihnen hat es geschafft, den richtigen Ton zu treffen, denn meine eigene Stimme habe ich in ihnen nicht wiedererkannt. Alle diese Wohnungen waren für ein paar Monate oder Jahre mein Zuhause, aber in keiner fühlte es sich so an, als sei ich dort auch wirklich zuhause. Ein Zuhause finden, es betreten und nicht mehr verlassen, ist eine Fähigkeit, die manche Menschen auf Anhieb beherrschen. Ich dagegen schien diesen Vorgang bis zum Sankt-Nimmerleinstag wiederholen zu müssen. Und doch waren es gerade diese Wiederholungen, die mich das Konzept des Zuhauses haben verstehen lassen. Denn es war meine ungewollte häusliche Promiskuität, die mich zwang, alles zu untersuchen, was einen Ort zu einem Zuhause macht, und es mir ermöglichte, einen Katalog zu erstellen. Kaum eine der Eigenschaften eines Zuhauses hat jedoch etwas mit Architektur oder Design zu tun. Es stellt vielmehr eine moralische Realität schlechthin dar, ein psychisches und materielles Artefakt, das es uns ermöglicht, besser in der Welt zurechtzukommen, als unsere Natur es uns eigentlich erlaubt.
Deshalb ist eine Theorie des Zuhauses nicht nur die Voraussetzung, sondern auch die Erfüllung der Moraltheorie, eine Zusammenstellung von Wissen und Geschichten, die uns verstehen lässt, wie wir im Hier und Jetzt gemeinsam mit anderen glücklich sein können. Genau das ist ein Zuhause: der erste und niemals fertige Entwurf einer Überlappung unseres Glücks mit der Welt. Es ist der Ort, an dem die Moral bekennen muss, dass sie sich nicht nur mit Willen und Charakter, Gerechtigkeit und Glück, Taten und Tugenden befassen kann, sondern die Welt in ihrer schlichtesten, materiellen Dimension erfassen muss. Eine Theorie des Glücks und der Gerechtigkeit muss notwendigerweise eine Theorie der Verwandlung der Welt, der Dinge und der Materie sein.
Wir sind Lebewesen, die alles um sich herum manipulieren und verändern müssen, um glücklich zu sein. Es genügt uns nicht, die Welt zu kennen und das moralische Gesetz in uns zu befolgen. Wissenschaft und Gesetz reichen nicht aus. »Zuhause« ist nur der Name für diese Ansammlung von Anpassungstechniken, die uns helfen, auf dem Planeten zurechtzukommen, eine Raumfalte, in der Psyche und Materie, Seele und Welt für einen kurzen Moment eins werden.
Das ist mir erst durch meine Umzüge klar geworden. Es scheint offensichtlich, aber es ist tatsächlich der Einzug, der das Zuhause zum Zuhause macht. Und das aus einem ganz einfachen Grund: Die Wohnungen, die wir anschließend bewohnt und geliebt haben, waren uns zunächst fremd. Wir haben das Zuhause immer von außen betreten. So wie wir auch Fremde unseres eigenen Glücks sind, denn es wäre illusorisch, anzunehmen, dass es in uns ist. Wäre es so, müssten wir nicht leben, Erfahrungen machen, anderen Menschen begegnen und unser Leben mit ihrem verflechten, wir müssten nicht essen, uns die Knie aufschlagen und vergiften, indem wir den Dingen zu nahe kommen. Unser Glück ist nicht naturgegeben. Im Gegenteil, das Streben nach Glück bedeutet, an sich selbst zu arbeiten und das zu verfeinern, was wir »Kultur« nennen. Wir müssen nicht erst das Haus verlassen und die Stadt — die politische Sphäre — betreten, damit das Glück zu etwas Kulturellem und Künstlichem wird. Es ist die Ethik, also das Glück, das uns zu kulturellen Wesen macht und zu einem Leben verpflichtet, in dem wir uns selbst und die Welt verändern, um Vollkommenheit zu erlangen. Wir alle sind Fremde, und doch gelingt es uns immer wieder, ein Zuhause, mithin eine Form des Glücks zu erschaffen.
Der Einzug ist die Initialzündung, der Moment der Wahl. Wir glauben, dass Wohnungen und Häuser vor den Menschen existieren, die darin wohnen, und nur darauf warten, von uns geöffnet zu werden. Zu einem Zuhause werden die Wände und Dächer, Schränke, Betten, Tische und Kleidungsstücke jedoch erst nach einer langen, seltsamen Zeremonie, deren Regeln wir — wenn auch nur unbewusst — alle kennen. Jedes Zuhause entsteht durch einen Akt der Wahl. Denn wir wählen eine inhomogene Ansammlung von Gegenständen, Menschen und Wänden aus und machen sie zu einem privilegierten Ort, zu unserer Welt. In der Regel ist es nicht der Ort, an dem wir uns am längsten aufhalten, aber es ist der Ort, an den wir jeden Tag zurückkommen: der Ort der Rückkehr. Es ist eine willkürliche Wahl, denn es gibt nichts, was uns auf natürliche Weise mit einem Raum, einer Reihe von Gegenständen oder einer Gruppe von Lebewesen verbinden würde. Selbst wenn es sich um unseren Vater und unsre Mutter handelt, bedarf es eines enormen psychischen und materiellen Aufwandes und zahlloser Vorkehrungen, um bei ihnen zuhause zu sein.
Die Wahl ist allerdings nur der Anfang, denn es bedarf eines längeren Gewöhnungsprozesses. Aber auch das reicht noch nicht. Der Fremde, der wir bei Geburt waren, muss sich verändern und die Vielzahl unterschiedlicher Welten und Geschichten mühsam in seine Geschichte, seine Vergangenheit und vor allem in seine Zukunft verwandeln. Der Umzug verdeutlicht, dass ein Zuhause nichts ist, das bereits existiert, sondern etwas, das erst erschaffen werden muss. Das Zuhause ist ein nicht enden wollender Tanz, in dem sich Dinge und Menschen gegenseitig kultivieren. Im Zuhause bändigen wir uns selbst, um uns an die Welt anzupassen, in der wir leben, zähmen zugleich aber auch die Welt und verändern sie, bis sie unserer äußeren Gestalt und unserem Bild zum Verwechseln ähnlich sieht.
Wir Menschen können uns in etwas verwandeln, das fest in unsrer Umgebung verankert ist, und zugleich die Umgebung in etwas verwandeln, das untrennbar mit uns verbunden ist. Diese Fähigkeit ist vielleicht die eigentliche Kraft des menschlichen Lebens. Wir sind jedoch nicht allein in ihrem Besitz, denn alle Lebewesen haben sie, was sie womöglich zur grundlegendsten Kraft dessen macht, was wir »Leben« nennen. Es beginnt bereits mit dem ersten Atemzug, denn nach dem Mutterleib ist die Welt ein neues Zuhause, das wir uns allmählich aneignen müssen. Wir müssen uns zunächst körperlich daran gewöhnen, denn mit der Geburt verändert unser Körper seine Konsistenz.
Die antike Philosophieschule der Stoa bezeichnete diesen Prozess als Oikeiosis. Ein schönes Wort, das so viel wie »Zueignung« (im doppelten Sinne, sich etwas zu eigen machen und sich etwas aneignen), »Gewöhnung« (im doppelten Sinne, sich selbst ähnlich werden und sich etwas anderem ähnlich machen) oder »Kultivierung« bedeutet. Der erste Impuls des Lebenden, so schrieben die Stoiker, sei die Sorge um den eigenen Körper und das eigene Bewusstsein, bis daraus etwas Vertrautes wird.
Wir öffnen die Augen, beginnen zu atmen, bewegen uns und werden dadurch vertraut mit dem, was wir sind. Die Gewöhnung an uns selbst ist ein unaufhörlicher Prozess, in den wir im Laufe der Zeit immer mehr von der Welt mit einbeziehen. Das Zuhause ist im Grunde nur eine Erweiterung und Steigerungsform unseres ersten Atemzuges nach der Geburt, denn es soll Vertrautheit erzeugen, uns an unsere Umgebung anpassen und das, was wir berühren, an uns anpassen, bis es zu unserer zweiten Haut wird. Vertrautheit — auch die mit uns selbst — ist jedoch ein »Konstrukt«, denn sie ist nicht naturgegeben, sondern ein Kunstgriff. Ein widersinniger Kunstgriff zumal, denn sie neigt dazu, für eigenes Verschwinden zu sorgen.
Die Vertrautheit steht für die Unmöglichkeit, zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen zu unterscheiden. Sie ist das Schwindelgefühl, das uns erlaubt, in etwas, das wir schon seit Jahren kennen, plötzlich etwas vollkommen Neues zu entdecken. Und von diesem Standpunkt aus betrachtet gibt es auch keinen Unterschied mehr zwischen Körper und Geist, denn Letzterer stellt nur das Bemühen der Körper dar, sich alle anderen Körper vertraut zu machen — bis zu dem Punkt, an dem sie, zumindest als Bilder und Empfindungen, in sich selbst eintreten. Vertrautheit ist die eigentliche Bezeichnung für das, was wir »Kenntnis« und »Aufmerksamkeit« nennen.
Durch die vielen Umzüge habe ich gelernt, die seelische und körperliche Aktivität zu verstehen, die wir als »Ich« bezeichnen. Wir haben das Subjekt auf eine immaterielle, in Sphären jenseits der Welt verbannte Entität reduziert, die wir mal »Seele« und mal »Psyche« oder »Geist« nennen.
Seit Jahrhunderten versuchen wir, das Verhältnis von Inkarnation und Präsenz in der Physiologie unseres Körpers zu begreifen. Nur ist das Ich keine Frage von Seele oder Körper. Es ist immer die Bewegung der Welt, der ganze Planet, der in jedem von uns »Ich« sagt. Das Ich ist ein Zuhause, das jedoch nicht mehr als privates und singuläres Faktum — eines einzelnen Subjekts oder Körpers — betrachtet wird, sondern als Wirbel, der eine Reihe von Subjekten und Objekten sowie einen Ort in der Welt durchläuft. Es ist die Schwelle, an der das Subjekt Realität wird und die Welt beginnt, ein einzigartiges und unverwechselbares Gesicht zu haben. Jedes Zuhause ist der tellurische Beweis dafür, dass wir, um »Ich« zu sagen, die Welt benötigen, den uns umgebenden Raum, die Dinge, die Menschen, die sich mit uns verschwören und mit denen wir uns verschwören. Und es zeigt, dass das Ich dieser Wirbel ist, in dem Körper und Geist für einen Moment versuchen, sich aneinander zu gewöhnen.
Bei jedem Umzug zeigt sich das Ich als das, was es ist, nämlich das Verzeichnis einer möglichen gemeinsamen Welt — ganz gleich, ob sie nun aus Gegenständen oder Gefühlen besteht. Deshalb ist das Umziehen manchmal auch so schwer, denn es zwingt uns, darüber nachzudenken, was wir alles benötigen, um »Ich« zu sagen. Es ist aber auch eine Gelegenheit, um einen Teil der Welt loszuwerden, der nicht mehr zu uns gehört. Doch der Welt insgesamt können wir uns damit nicht entledigen. Wir können Dinge, Menschen oder Empfindungen zurücklassen, werden aber niemals damit aufhören, andere zu bändigen und uns an sie zu gewöhnen. Selbst in Momenten des intensivsten Nomadentums werden wir wieder zu einem Zuhause. Leben bedeutet, sich auf einen Teil der Welt einzulassen, sich mit ihm zu umhüllen und ihm zu erlauben, in uns »Ich« zu sagen. Wir translozieren uns gewissermaßen, bauen uns an einem anderen Ort selbst wieder neu auf.