Nachdem Nan und Shen ihre Tochter aus dem Land geschafft hatten, nahmen sie ihre erste Hypothek auf, um ein altes, zweigeschossiges Kolonialhaus in Clarksville, New Jersey, zu erwerben. Ivy war erschüttert über diese einschneidende Veränderung in ihrem Leben. Sie würde Gideon nie wiedersehen! Nach ihrer Rückkehr weinte sie eine Woche lang. Dann schlug die Trauer um in Abscheu. Das Haus, das ihre Eltern immer wieder in überheblichen, selbstgefälligen Tönen lobten, war schrecklich. Die Teller drohten vom Tisch zu rutschen, so schief war der Boden, die mit Wasser vollgesaugten Fensterrahmen waren verzogen, die Scheiben schmierig, Küchen- und Badezimmerfliesen gelb und rau vor Kalk. Das Haus war unter Marktpreis verkauft worden. Die Vorbesitzer, ein polnisches Ehepaar, hatten im Hinterhof ihre eigene Hühnerzucht betrieben, und jedes Mal, wenn Meifeng darauf bestand, die Fenster zu öffnen, um zu »lüften«, machte der stechende Geruch nach getrockneten Fäkalien, fauliger Erde und regenverklebten Federn das Atmen unmöglich, vom Essen ganz zu schweigen. Und das war der Inbegriff von Nans und Shens Träumen? Dieser Hühnerstall? Der einzige Vorteil war, dass Austin und sie zum ersten Mal ihre eigenen Zimmer bekamen. Das Esszimmer im Erdgeschoss wurde zu Meifengs Schlafzimmer umfunktioniert.
Nan hatte Clarksville wegen des hohen chinesischen Bevölkerungsanteils ausgewählt. Ihre Schwester Ping, die in Pennsylvania lebte, hatte ihre beiden Kinder kürzlich an einer Chinesischen Schule angemeldet. Ping behauptete, Feifei und Tong noch nie zuvor so wohlerzogen erlebt zu haben, was eindeutig dem vorbildlichen Verhalten der chinesischen Klassenkameraden geschuldet sei. Ihrer Meinung nach hätte Nan Ivy in Massachusetts niemals auf diese religiöse Schule mit privilegierten Amerikanern schicken sollen. Nan fühlte, dass Ping recht hatte: Ivy sollte unter ihresgleichen sein – chinesische Schüler, die schulische Arbeit und häusliche Pflichten wertschätzten. »Eine Mutter kennt ihre eigene Tochter am besten«, teilte Nan ihrem Ehemann mit. »Ivy lässt sich leicht von anderen beeinflussen. Wenn sie Ärztin werden soll, muss sie Freundschaft mit anderen chinesischen Kindern schließen, die dieselben Ziele verfolgen wie sie. Sie können sie dazu bringen, mehr zu lernen.«
Alles an Clarksville erfüllte Nans Kriterien. An Ivys erstem Tag in der Highschool hatte sie den Eindruck, der gesamte Flur bestehe aus einem Meer aus schwarzen Haaren. An der Grove hatte sie sich so sehr bemüht, sich der Mehrheit anzupassen, aber hier in Clarksville wollte sie nichts zu tun haben mit ihren asiatischen Klassenkameraden und deren Obsession bezüglich Noten, Aufbaukursen und Zusatzaufgaben. Wollte sich nicht den immer gleichen Cliquen anschließen, die durch die Schule eilten, Rucksäcke voller Mathe- und Naturwissenschafts-Lehrbücher sowie mustergültig bestückte Federmäppchen auf dem Rücken. Ab und an lud eine freundliche Seele sie dazu ein, sich beim Mittagessen zu ihnen zu setzen. Ivy warf einen Blick auf die Tupperboxen mit kaltem Reis, Rindfleisch und Sellerie, lo mein mit Shrimps und ab und an einem gekochten Ei oder süßem Congee aus der Dose – Variationen ihrer eigenen täglichen Mittagsmahlzeiten. Die Vorstellung, dass andere sie als Teil dieser Gruppe und damit als ihresgleichen betrachten könnten, ließ sie innerlich erschaudern. Sie zog sich immer mehr zurück, ihr Blick schweifte zu den Lacrosse-Spielern und ihren Freundinnen, die im Flur hinter den Musikräumen lachten, und sie fürchtete, sie lachten über sie.
In der zweiten Schulwoche freundete sich Ivy mit dem einzigen weißen Mädchen in ihrem Chemiekurs an, Sarah Wilson. Sarahs Bruder Brett spielte im Nachwuchs-Lacrosse-Team der Universitätsmannschaft.
Um Thanksgiving herum vergnügten sich Ivy und Brett in einem der Musikräume, und Ivy fand heraus, warum der Ort an der Schule so beliebt war: Man konnte die Türen abschließen und das Licht ausmachen, sodass niemand etwas durch die kleine Glasscheibe erkennen konnte. Außerdem waren die Wände schallisoliert.
Um Weihnachten herum hatte der Kitzel, die Freundin eines Lacrosse-Spielers zu sein, seinen Reiz verloren; Ivy sehnte sich nach einem kultivierteren Freund, der Französisch sprach, in Europa gelebt hatte, Gedichte las oder – besser noch – Gedichte schrieb. Ein Freund, der zumindest Songs komponierte, der ihr die Schönheit verborgener Orte offenbarte und ihr eine neue Art zu leben zeigte.
Im Frühling fing sie etwas mit einem dünnen, sensiblen Jungen aus der Theater-AG an, der ganze Monologe des Hamlet auswendig gelernt hatte und der mit seinem Zeigefinger Nerven aktivieren konnte, von deren Existenz Ivy bis dato gar nichts gewusst hatte. Schnell fand sie heraus, dass es weitaus prickelnder war, in den dunklen, staubigen Seitenkulissen der Aula Sex zu haben, wenn das grobe Seil des Flaschenzugs an ihrem Rücken scheuerte und leuchtend rote Spuren auf ihrem Rücken hinterließ wie bei einer Verbrennung, als in dem schalldichten Kokon des Musikraums. Anschließend schlichen sie durch die Seitentür hinaus und teilten sich eine Zigarette unter einem aufgepinselten blauen Himmel. Während er sich über seine langjährige Freundin ausließ – eine Erstsemesterin an einem College in Texas –, zeichnete sie durch das Loch in seiner zerrissenen Jeans Flügel auf sein Knie.
Dann bat Sarah Wilson um eine neue Laborpartnerin. Ivy musste nicht lange überlegen, um sich einzugestehen, dass es Sarah gewesen war, die ihre Berichte geschrieben, die Diagramme gezeichnet und während des Unterrichts laut, Zeile für Zeile, die verwirrenden Anweisungen vorgelesen hatte. Ivy schloss das Schuljahr mit einer mittelprächtigen Durchschnittsnote ab, in Algebra lag sie sogar unter dem Durchschnitt.
Nan war außer sich. Sogar Meifeng ergriff keine Partei für ihre Enkelin. Stattdessen sagte sie scheinheilig: »Deine Mutter ist für deine Bildung zuständig.« Es folgten Beschimpfungen, Drohungen und unzählige Abstecher in die Bibliothek, um zusätzliche Lehrbücher zu besorgen. Ivy setzte dem wenig entgegen. Auch sie war bedrückt wegen ihrer mittelmäßigen Noten. Sie wollte so gern der mühelos-intelligente Typ sein wie Sunrin, doch stattdessen fand sie sich beim asiatischen Bodensatz wieder, wie Jojo. Nan predigte ihr stets, sie möge noch härter arbeiten, aber Ivy hatte den Eindruck, dass sie das bereits tat, zumindest gab sie sich alle Mühe. Allerdings machte es ihr die Furcht vor einer bestimmten Abfrage oder Prüfung mitunter schwer, sich zu konzentrieren. Sie beging den Fehler, dies eines Nachmittags in Nans Gegenwart zu erwähnen. Ihre Mutter blähte die Nasenflügel und kreischte: »Du weißt doch gar nicht, was harte Arbeit bedeutet! Ihr amerikanischen Kinder kennt keine Verantwortung. Ihr seid faul! Denkt ihr, ihr könnt ewig in diesem Haus leben?«
»Ich hasse dieses Haus«, sagte Austin zwischen zwei Bissen gebratenem Schweinefleisch. »Es stinkt nach Scheiße.«
»Du dummer Junge«, blaffte Nan. »Du bist doch gar nicht fähig, dein eigenes Leben zu führen. Deine Noten sind noch schlechter als die deiner Schwester. Wenn du es nicht aufs College schaffst, endest du auf der Straße, sobald Mama und Baba tot sind.« Das war stets das unausweichliche Ende, das die Lin-Kinder erwartete, sollten sie versagen: Obdachlosigkeit und Hunger.
Am ersten Morgen der Sommerferien platzte Nan morgens um halb sieben in Ivys Zimmer. »Deine Cousine Feifei hat deiner Tante Ping schon mit elf geholfen, die Rechnungen zu bezahlen.« Sie legte einen turmhohen Stapel Post auf Ivys Nachttisch ab. »Sieh die Briefe durch. Deine Großmutter hat recht. Ich muss dir mehr Aufgaben im Haushalt geben. Von jetzt an verwaltest du unser Geld.«
Ivy war inzwischen an diese listigen Attacken gewöhnt, trotzdem öffnete sie die Umschläge umständlich langsam und innerlich schäumend. Kontoauszüge, Telefon-, Gas- und Stromrechnungen, Rechnungen für die Autoversicherung. Unmengen an Dollarzeichen und Zahlen.
»Vergiss die hier nicht.« Nan deutete auf die bunten Couponhefte ganz oben auf dem Stapel. »Such nach einem Wasserfilter für unseren Kühlschrank. Du kannst auch anfangen, mich zum Lebensmitteleinkaufen zu begleiten, dann lernst du, wie viel es kostet, diese Familie satt zu bekommen. Das hier« – sie zog einen dicken, quadratischen Umschlag hervor – »ist der Gehaltsscheck deines Vaters. Er kommt zweimal pro Monat. Und hier drin kannst du alles nachverfolgen.« Sie reichte Ivy einen Hauswirtschaftsordner und ein Scheckheft in einer transparenten Hülle, an der ein kleiner Plastiktaschenrechner befestigt war. »Nur zu!«, forderte Nan sie auf.
Doch Ivy fasste den Taschenrechner nicht an. Wie mickrig er aussah, wie eines der billigen Spielzeuge, die selbst Austin nicht haben wollte, wie traurig die abblätternden Ziffern auf den Gummitasten. Die 6 wurde zur 0, die 4 fehlte ganz.
»Es ist nicht leicht, Verantwortung zu übernehmen«, räumte Nan ein. »Mathematik ist in sämtlichen Lebensbereichen wichtig, nicht nur in der Schule.« Sie warf Ivy einen langen, bedeutungsschweren Seitenblick zu, bevor sie sich abwandte.
Es war der schlimmste Sommer in Ivys Leben. Sie war gezwungen, Nan in den China-Star-Supermarkt zu begleiten, zur Bank, zur Tankstelle, zur Post. Sie erstattete Bericht über die wöchentlichen Angebote beim Metzger, rief Telefonanbieter an, um sich wegen eines zusätzlich berechneten Dollars zu beschweren, bat an Kundenserviceschaltern um Rückerstattungen, übersetzte Nans empörte Anschuldigungen in höfliche, auf Englisch gestellte Fragen. Jeden Abend trug sie unter dem wachsamen Auge ihrer Mutter die Quittungen zusammen und heftete sie im Hauswirtschaftsordner ab. Samstagsmorgens bezahlte sie die Rechnungen, die während der Woche per Post eintrudelten. Ihre Mutter überprüfte alles gleich drei Mal, glich mit dem Zeigefinger Ziffer um Ziffer, Buchstaben um Buchstaben ab, als könnten sie sich auf magische Weise neu anordnen, wenn Nan nicht aufpasste.
Befeuert von der Entschlossenheit, nie wieder bei ihrer Mutter »in die Lehre gehen« zu müssen, schrieb Ivy in der zehnten Klasse gute Noten. Sie lernte mehr als im letzten Jahr, aber nicht so viel, wie Nan annahm. Eine Fehleinschätzung, die Ivy sofort zu ihrem Vorteil ausnutzte. Als sie stundenlang mit ihrem Freund telefonierte, machte sie ihrer Mutter weis, sie müsse mit ihrer Lerngruppe reden. Nan wusste nichts von Brett Wilson oder dem sensiblen Jungen aus der Theater-AG oder dem grünäugigen Klassensprecher oder einem der anderen. Sie sah nur, dass Ivy ständig in ihrem Zimmer war und las – Schulbücher, vermutete Nan – oder Seite um Seite zu Papier brachte – Hausaufgaben, vermutete Nan. Wie Ivy richtig erkannt hatte, verfügte Nan weder über die Mittel noch über das Selbstvertrauen, Ivys schulisches Engagement zu kontrollieren. Auch Meifeng, in ein anderes Stockwerk verbannt, war nicht länger mit Ivys Gepflogenheiten vertraut. Shen war ebenfalls keine Hilfe. Er war von der Versicherungsgesellschaft, bei der er nach ihrem Umzug nach New Jersey gearbeitet hatte, entlassen worden und verbrachte nun Tag für Tag in der Bücherei, wo er die Stellenangebote in den Tageszeitungen durchforstete und »Go« im kostenlosen WLAN spielte. Nan hatte noch keine Arbeit gefunden. Meifeng ging mit Austin nicht mehr zu McDonald’s, ganz gleich, wie sehr er sich über die neue Schule beschwerte, die er so hasste, und darüber, dass er in New Jersey keine Freunde hatte und dass die fiesen Kerle aus der Nachbarschaft ihn fatso nannten und sein Fahrrad in einen Müllcontainer geschmissen hatten. Jetzt waren die Speichen verbogen, behauptete Austin, und die Räder hatten eine Acht.
»Kann ich ein anderes Rad bekommen, bitte?«, fragte er seine Mutter beim Abendessen.
»Nein«, sagte Nan.
»Warum nicht?«.
»Baba hat seinen Job verloren.«
»Freddie Abernathys Vater wurde auch gefeuert, und er hatte schon nach einer Woche eine neue Arbeit.«
Shen drehte sich um und schlug Austin mit dem Handrücken ins Gesicht.
»Baba!«, schrie Ivy.
»Lass den Jungen essen«, sagte Meifeng.
Mit zitterndem Kinn schaufelte sich Austin Löffel für Löffel Reis in den Mund. Mit zusammengeschnürter Kehle sagte Shen: »Seht ihn euch an. Ein chinesischer Junge, der nicht einmal weiß, wie man mit Stäbchen isst.«
Für den Rest ihres Lebens würde Ivy an den schrecklichen Frühling in der zehnten Klasse denken, in dem ihre Eltern grau und ausgelaugt wurden, in dem Nan um acht Uhr abends die Lichter ausschaltete und Meifeng anfing, leere Seifen- und Shampooflaschen mit Wasser zu füllen. Die Speisen auf dem Tisch beschränkten sich auf gebratenen Reis, Nudeln und Mehlpfannkuchen; das köstliche fette Fleisch, das frische Gemüse und die gelegentliche Packung Eiscreme – Luxuslebensmittel, von denen Ivy bis jetzt nicht einmal gewusst hatte, wie gern sie sie mochte, waren verschwunden. Eines Nachmittags kam sie nach Hause und verkündete leichthin, dass sie einen Job als Einpackhilfe bei Price Rite an der Route 1 bekommen hatte. Sie hatte großes Lob erwartet – »Was haben wir doch für eine ting hua- Tochter!« –, stattdessen aber drehte Shen sich zu Nan um und brüllte: »Wie kannst du es zulassen, dass unsere Kinder arbeiten? Bist du so … so …« – er suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort – »… geldgierig ?«
»Ich wusste nichts davon!«, schrie Nan. In ihren Augen zitterten stecknadelkopfgroße Tränen. Sie wirbelte zu Ivy herum. »Wenn du deine Zeit an diesem schmutzigen Ort verbringst, anstatt für die Schule zu lernen, breche ich dir die Beine!«
Durch ihre Bekanntschaft mit anderen chinesischen Großmüttern, die sich im Park des Viertels trafen, hatte Meifeng eine Stelle als ayi bei einer taiwanesischen Familie gefunden, die vor Kurzem nach Clarksville gezogen war. Meifeng war dort, noch bevor die Familie wach wurde, um ein warmes Frühstück mit Congee – einer Art Reisschleim –, Eintopf und gedämpften Eiern zuzubereiten. Während die beiden Jungen im Alter von sechs und zehn Jahren in der Schule waren, wischte sie Staub, fegte und saugte jeden Winkel des Hauses mit den vier Schlafzimmern. Nachmittags um vier fing sie an, das Abendessen zu kochen. Als die Familie sich beschwerte, dass ihre Speisen zu würzig und zu fettig seien, bemühte sich Meifeng, ihre Küche an deren feinere Geschmacksknospen anzupassen. Als auch das fehlschlug, gab sie braunen Zucker und Ketchup hinzu, und das schien zu funktionieren. Shen holte sie um sieben Uhr abends ab. Für gewöhnlich war Meifeng so müde, dass sie es kaum schaffte, ohne Hilfe die vier Stufen bis zur Haustür hinaufzusteigen.
Obwohl Ivy nur noch selten Zeit mit ihrer Großmutter verbrachte, spürte sie doch deren Abwesenheit. Sie ärgerte sich über die beiden Jungen, die sie sich genauso vorstellte wie Sunrins Kinder, wenn sie die arme ayi malträtierten. Auch Meifeng konnte nichts anderes tun, als zu flehen und zu bestechen. Ivy übernahm die Hausarbeit. Nan bereitete die Mahlzeiten zu. Sie kochte noch sehr viel schlechter als Meifeng, aber selbst Austin wagte es nicht, sich zu beschweren. Nachdem sie das Geschirr gespült hatte, saß Ivy in ihrem Zimmer am offenen Fenster und hoffte, dass der Gestank nach Hühnerkacke den Rauch ihrer Zigaretten überdecken würde. Durch die dünnen Wände lauschte sie den endlosen Streitereien ihrer Eltern, in denen lauter ominöse Fachausdrücke aus dem Bankwesen vorkamen, die sie nicht verstand. Nicht einmal Nan hatte noch die Kraft, ihre Tochter in diesen Dingen zu unterweisen, der Druck war einfach zu groß. Ivy begann wieder zu stehlen, aber anders als damals bereitete es ihr keine Freude mehr. Damals hatte Stehlen für sie bedeutet, das System zu überlisten, einfallsreich und eigenständig, wie Meifeng es ihr beigebracht hatte. Jetzt wusste sie, dass Einfallsreichtum und Eigenständigkeit Eigenschaften waren, die aus der Not geboren wurden. Meifeng war einfallsreich und eigenständig. Und jetzt war Meifeng eine ayi. Ivy war die Enkelin einer ayi.
Der Mangel ließ Ivy vom Überfluss träumen. Sie fantasierte von Kleiderschränken, groß wie ihr Schlafzimmer, von goldenen Amex-Kreditkarten, von Schuhen, die sich bis zur Decke stapelten, von Zigaretten in langen goldenen Zigarettenhaltern, von Juwelen an jedem Finger und einer dreireihigen Perlenkette, von Tellern voller köstlicher Speisen, von denen sie jeweils nur einen Bissen nahm. Sie sehnte sich danach, so vermögend zu sein, dass andere zu ihr aufschauten und dachten: Was für eine wohlbehütete junge Dame, diese Ivy Lin. Sie hat in ihrem Leben vermutlich niemals einen Finger krumm machen müssen. Es heißt, Selbstbeherrschung sei eine endliche Quelle, und Ivy kam es nach ihrem sechzehnten Geburtstag so vor, als habe sie bereits für den Rest ihres Lebens sämtliche Disziplin und Mäßigung aufgebraucht und könne sich deshalb keine einzige Sache mehr versagen, nicht einmal eine Tasse Kaffee.
Irgendwann endete jener grauenhafte Frühling. Shen fand keinen Job. Stattdessen stieß Nan auf eine neue Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu sichern: Sie klapperte Flohmärkte ab, auf denen sie billige Haushaltswaren erstand, die sie im Internet verkaufte. Eine ihrer ehemaligen Kolleginnen aus der Kloßfabrik – Nan hatte schon eine Weile vor ihrem Umzug nach New Jersey die Stelle gewechselt, weil sie in der Kloßfabrik mehr verdiente als bei ihrem Job als Einpackhilfe – brachte sie auf die Idee, als sie anrief und sich erkundigte, ob Nan schon eine Arbeit gefunden habe. Die Frau berichtete, ihr Neffe schicke ihr gefälschte Designertaschen aus Hunan, die sie mit fünfhundert Prozent Gewinn verkaufte. Mittlerweile habe sie ihr Angebot um Produkte wie Schmuck und Antiquitäten erweitert. Sie behauptete, man könne sogar mit billigen Artikeln allein über die Versandkosten Geld verdienen. Nan äußerte sich dazu eher unverbindlich – sie war eine stolze Frau –, aber in ihrer Verzweiflung erschien ihr jede Idee, die Geld einbringen konnte, wie ein Sechser im Lotto. Fünfhundert Prozent Gewinn – das war eine Rechnung, für die selbst Nan keinen Taschenrechner brauchte. Die Ironie, dass ausgerechnet Nan die Lins zu Haushaltsauflösungen, Garagenverkäufen und Flohmärkten schleppte, entging Ivy nicht. Binnen sechs Monaten entsprach der Gewinn, den die Lins erzielten, Shens ehemaligem Gehalt. Meifeng kündigte ihre Stelle als ayi. Sie humpelte jetzt permanent. Jeden Abend massierte sie ihre Knie mit chinesischem Heilkräuteröl, weshalb es im ganzen Haus nach Terpentin roch.
An Weihnachten ging Shen zu Best Buy und kehrte mit einem neuen Dell-Computer zurück. Ivy und Austin kämpften um die Ehre, ihn auszupacken. Meifeng bereitete ein chinesisches Festmahl zu: einen ganzen gedämpften Fisch mit Essiggemüse, doppelt gekochtes Schweinefleisch, Schüssel um Schüssel mit geschnittenem Rindfleisch, kalten Nudeln, gedämpften Schweinerippchen mit Süßkartoffeln und Ivys Lieblingsgericht: köstliche Schweinebauchscheiben, zuckersüß geschmort und ummantelt mit einer Paste aus roten Bohnen. Nach dem Essen saß Nan auf dem Sofa, den Kopf zurückgelegt, beide Hände im Schoß, die Gesichtszüge weich, die Lippen zu einem milden Lächeln verzogen. Der Anblick genügte, um jeden im Haus in einen Zustand unbändiger Euphorie zu versetzen, da sich keiner von ihnen erinnern konnte, wann er Nan das letzte Mal so entspannt erlebt hatte. Der Dell-Karton war mit Schaumstoffchips gefüllt gewesen, und während sich Shen nach dem Genuss von sechs Bier daran machte, den Computer einzurichten, rannten Ivy und Austin durchs Wohnzimmer und versuchten, sich die Chips in ihre Unterwäsche zu stecken.
Ivy sehnte sich danach, in den Norden zurückzukehren, nach Massachusetts oder Vermont oder Maine – Orte, an denen in ihrem Kopf stets Herbst war, an denen es nach Kastanien und Regen duftete, an denen orangerote Blätter unter ihren Ledersohlen knisterten. Manchmal war es auch Winter. Sie stellte sich Blockhäuser vor, seidiges Haar unter flauschigen weißen Ohrenschützern, frischen Schnee, der auf Spitzdächern und Buntglasfenstern schimmerte. Während all der Jahre in Clarksville hielt sie Massachusetts für ihr wahres Zuhause, und sie erzählte ihren Freunden oft von der Grove – »eine kleine Privatschule, so spießig, dass wir diese unbequemen Uniformen tragen mussten …« –, und zwar mit einer vermeintlichen Bescheidenheit, die ihren heimlichen Stolz verriet. »Ich komme aus Massachusetts«, sagte sie. »Und ich habe immer noch Heimweh.« Natürlich kamen ihr nie die Worte West Maplebury oder Fox Hill über die Lippen. Stattdessen beschrieb sie die ruhigen, von Bäumen gesäumten Straßen, das verträumte Zirpen der Grillen, die Ferien am Meer, wo schaumige weiße Wellen an den Kiesstränden leckten und es in den aus Stein erbauten Landhäusern nach Geißblatt duftete, so lebhaft, dass sie am Ende wirklich glaubte, dies sei die Welt, aus der sie kam und nach der sie sich so leidenschaftlich zurücksehnte.
Ihre Noten reichten für die Aufnahme an einem staatlichen College mit Teilstipendium. Shen und Nan machten ihren Frieden mit dieser Lösung. »Eine Mutter kennt ihre eigene Tochter am besten«, teilte Nan ihrem Ehemann wieder einmal mit. »Das Lernen ist nicht Ivys Stärke. Sie ist gut in sozialen Dingen. Hängt ständig am Telefon. Hat so viele Freundinnen. Ping sagt, soziale Kompetenzen sind in Amerika wichtiger als Noten.« Mit »sozialen Kompetenzen« meinte Nan Ivys Fähigkeiten im Umgang mit Jungs. Sie war nicht so blind, wie ihre Tochter dachte. Den Wunsch, Ivy möge Ärztin werden, hatte sie längst aufgegeben. Ihre neue Hoffnung bestand darin, dass Ivy einen Arzt heiratete. Ein chinesischer Doktor würde im Jahr eine sechsstellige Summe verdienen und könnte Ivy ein Haus und zwei Kinder bieten – einen Jungen und ein Mädchen. Sie würden sich in New Jersey niederlassen und ein Gästezimmer für die Großeltern einrichten, die abwechselnd babysitten könnten.
Ivy jedoch hatte andere Pläne. Sie bewarb sich und wurde an einem kleinen Frauen-College in der Nähe von Boston zugelassen. Wie die meisten Mädchen, deren Leben sich um Jungs drehte, verklärte sie die Keuschheit und verpflichtete sich selbst zu strikter Enthaltsamkeit (zumindest tat sie so), da sie dies für das einzige Mittel hielt, sich von ihren leichtsinnigen Entscheidungen reinzuwaschen. Die Studiengebühren an diesem privaten College waren exorbitant. Da sie die letzten beiden Jahre Nans Einkünfte verwaltet hatte, wusste sie, dass ihre Eltern so viel Geld nicht aufbringen konnten, und nahm einen Studienkredit auf.
Als sie ihrer Familie die Nachricht überbrachte, dass sie nun doch nicht zu Hause wohnen und das öffentliche College besuchen würde und – noch katastrophaler – außerdem Schulden gemacht hatte, entbrannte der bislang größte Streit zwischen Mutter und Tochter. Ivy war mittlerweile zu kräftig für Nans körperliche Attacken, aber ihre Mutter drohte ihr mit allem, was sie sonst noch zu bieten hatte. »Ich werde mich umbringen, wenn du nicht ting hua bist!«, schrie Nan am Ende. Der Tod war ihr letzter Trumpf.
»Du bist doch längst tot!«, brüllte Ivy zurück. »Du bist damals zusammen mit deinem Freund in China gestorben. Wir sind bloß deine Ersatzfamilie!«
Nans Gesicht erschlaffte. Ihr Mund öffnete sich, schloss sich, öffnete sich wieder. »Du hältst mich für tot? Du willst keine Mutter? Schön. Geh. Es wird nichts ändern. Du wirst schon sehen. Ich bin nicht diejenige, die du hasst.«
»Ich habe nichts Falsches getan«, sagte Ivy zu Meifeng. Unter der blau-silbernen Robe für ihre Highschool-Abschlusszeremonie floss der Schweiß. Nan hatte entschieden, nicht teilzunehmen. Die Zeremonie fand im Footballstadion statt, vier Stunden in brütend heißer Sonne. Ivy versuchte, den Arm um Austins dicke Schultern zu legen, aber sie zog ihn schnell wieder zurück, erschrocken über die Feststellung, dass er inzwischen größer war als sie. Die Geschwister grinsten in Shens Kamera.
»Deine Mutter befürchtet, dass du dir deine Zukunft verbaust«, sagte Meifeng zum x-ten Male. »Weißt du eigentlich, wie viele Zinsen diese elenden Banken von dummen Studentinnen wie dir verlangen? Schulden sind wie ein Berg Steine auf dem Rücken einer Schildkröte …«
»Ich hatte immer schon Schulden«, blaffte Ivy. »Bei ihr. Von Anfang an stand ich in ihrer Schuld, genau wie Austin. Sie hält uns für ihre Sklaven, nur weil sie uns zur Welt gebracht hat.«
Meifeng seufzte. Sie reichte Ivy eine Karte, die sie in einem Ein-Dollar-Laden gekauft hatte. Über den Aufdruck Glückwunsch, Abschlussjahrgang 2000 hatte sie einen Hundert-Dollar-Schein geklebt.
Im August packte Ivy zwei alte Koffer und mehrere Tischlampen in den Kofferraum von Shens Wagen. Austin verabschiedete sich missmutig. Meifeng drückte Ivy einen Gegenstand in die Hand, eingewickelt in Zeitungspapier. Es war ein kleiner Glashund, der auf seinen Hinterbeinen saß. Ivy war im Jahr des Hundes geboren. »Denk dran, gelegentlich mal anzurufen«, sagte Meifeng schroff, bevor sie sich abwandte.
Shen fuhr Ivy nach Boston, sieben Stunden bei stockendem Verkehr. Regen prasselte auf sie herab. Ihr Vater stellte ihre Sachen in ein karges Mehrbettzimmer, das mit braunem Teppichboden ausgelegt war. »Ich habe nie viel zu deiner Erziehung beigetragen«, sagte er zum Abschied, aber wenn ich dir einen Rat mitgeben kann, dann diesen: Sei bescheiden und dankbar für das, was du hast. Erwarte nicht zu viel vom Leben. Wenn du dich umsiehst, wirst du immer Menschen finden, die besser sind als du.«
Ivys Haut kribbelte vor Groll. Ruhig sagte sie: »Ja, Baba.«
»Deine Mutter wird dir vergeben«, fügte er hinzu. »Mach dir keine Sorgen.«
Aber Ivy machte sich keine Sorgen. Sie war frei. Ihre Entschlossenheit, eine alte Verbündete, kam wieder zum Vorschein. Ihr Abschlussspruch im Highschool-Jahrbuch lautete: Das Beste kommt noch. Sie glaubte fest daran.