»Die Karte funktioniert nicht«, sagte der Kassierer im Co-op.
»Ich übernehme das«, bot Andrea an und griff nach ihrer Geldbörse. Ivy schüttelte den Kopf, zog ihre zweite Kreditkarte hervor – die, die sie für den Skiausflug im Januar beantragt hatte – und reichte sie dem Kassierer. Er wirkte verlegen. Der Unmut trieb Ivy die Röte in die Wangen. Was war schon dabei? Das ganze Land hatte Schulden.
Doch als sie nach Hause kam, bereute sie es, die Trauben gekauft zu haben – wer hätte gedacht, dass eine so kleine Tüte so teuer sein würde? Auch die Bio-Milch hätte nicht sein müssen, sie hätte die normale nehmen sollen. Sie wappnete sich, um den Kontostand ihrer Kreditkarte zu überprüfen, doch dann verließ sie der Mut. Stattdessen verbrachte sie den Abend damit, sich die Fingernägel zu maniküren und zu lackieren. Der Nagellack war alt, und das Ergebnis war so grauenvoll, dass sie am nächsten Morgen das Nagelstudio an der Ecke aufsuchte. Die junge Koreanerin leistete so gute Arbeit, dass Ivy sich verpflichtet fühlte, ihr ein großzügiges Trinkgeld zu geben. Vor Angst drehte sich ihr der Magen um. Sie wusste nicht, wie sie noch mehr sparen konnte – sie hatte ihre Kinobesuche bereits eingestellt, und auf Bücher, Kaffee oder Lieferdienste von Restaurants verzichtete sie ebenfalls. Ihre Zigaretten waren ein Luxus, den sie sich noch gönnte, denn jedes Mal, wenn sie versuchte, mit dem Rauchen aufzuhören, schnellten ihre Ausgaben nur noch mehr in die Höhe, da sie eine fast volle Schachtel wegwarf und sich kurz darauf eine neue kaufte. All die schönen Zigaretten, die im Abfall landeten, nur weil sie sich nicht beherrschen konnte! Sie hatte die Trauben wegen der Vitamine gekauft, doch von nun an würde sie Obst von ihrer Einkaufsliste streichen.
Seit Beginn der Sommerferien fühlte sie sich antriebslos und benommen, sie hatte auch keinen Appetit mehr. Wenn sie zu schnell aufstand, wurde ihr schwindelig, und sie musste sich hinlegen. Ihre Mahlzeiten bestanden aus Andreas Pralinenreserven, die sie im Liegen in sich hineinstopfte, die Schachtel auf der Brust, und kalten italienischen Panini aus dem Diner ein Stück die Straße hinunter. Um die Mahlzeit aufzustocken, riss sie kleine Stücke von dem alten Brot ab, tauchte sie in Instant-Kaffee und ließ den Teig in ihrem Mund aufquellen, bis er zerfiel. Jede Woche erhielt sie eine weitere E-Mail von einer übereifrigen Kollegin, die Gutmensch-Aktionen wie das Streichen der Turnhalle oder ehrenamtliche Lernprogramme organisierte. Sie antwortete nie darauf.
Andrea sagte, sie würde zu dünn, und wies Ivy an, auf die Waage zu gehen. Sie hatte drei Kilo abgenommen.
»Iss das, jetzt sofort«, sagte Andrea und schob ihr die letzten Bissen von einem Stück Käsekuchen zu. Krümel klebten an ihren Lippen; eine feuchte Zunge, bedeckt mit Keksbröseln, schoss hervor, um sie abzulecken.
Ivy schüttelte den Kopf.
»Wie schaffst du es bloß, so viel Selbstbeherrschung aufzubringen?«, jammerte Andrea.
Ivy ging hinaus, um eine zu rauchen.
Die Gangster standen wieder einmal zusammen und bewachten die kostbare Fracht in ihren unzerstörbaren Jeeps – worum auch immer es sich dabei handeln mochte. Ivy dachte an den glänzenden neuen Van ihrer Mutter. Jeder brauchte etwas, wofür es sich zu leben lohnte.
Sie hatte den Tag damit verbracht, in ihren Lieblingsboutiquen zu shoppen, und aus einer plötzlichen Laune heraus eine Digitalkamera für Austin gekauft. Ihre Mutter sagte, es gehe ihm besser, und Ivy wollte ihn belohnen, indem sie ihm etwas Gutes tat. Er hatte seine Vitamine genommen, berichtete Nan, und Shen habe ihn zur Gartenarbeit verdonnert, damit er jeden Tag an die frische Luft kam. Er würde die Kurse am örtlichen College wiederaufnehmen – so konnten sie ihn im Auge behalten und morgens aus dem Bett werfen, damit er pünktlich war. Austin wollte nicht weiterlernen, aber schließlich hatten sie ihn überredet. Shen hatte sich mit ihm hingesetzt, und gemeinsam hatten sie einen Zeitplan entworfen: wann Austin aufstehen, wann er lernen und wann er essen, schlafen und zur Toilette gehen würde. »Er braucht einfach etwas Disziplin«, erklärte Nan. »Selbst mir kommen mitunter seltsame Gedanken, wenn ich mich den ganzen Tag lang in meinem Zimmer verkrieche. Das ist unnatürlich.« Zum Zeitpunkt des Telefonats hatte Ivy das Haus seit vier Tagen nicht mehr verlassen. Sie fühlte, dass es sinnlos wäre, ihre Mutter darauf hinzuweisen.
Die Digitalkamera hatte jeden Rahmen gesprengt, aber Ivy rechtfertigte die Ausgabe, indem sie sich fragte, wann sie Austin das letzte Mal ein hübsches Geschenk gemacht hatte.
In diesem Monat schickte sie Nan nicht den üblichen Scheck über dreihundert Dollar und ließ bei Anrufen von zu Hause den Anrufbeantworter laufen.
An einem brütend heißen Nachmittag im Juli schaute sie zum ersten Mal in Gideons Büro vorbei. Seine Firma hatte eine Eckeinheit im zehnten Stock gemietet – ein Co-Working-Space mit Tischtennisplatten, Sekretärinnen mit Hornbrillen und bunten, eiförmigen Stühlen. Sie lernte Roland Wellington, Gideons Kompagnon, kennen, einen blassen Mann mit einer schmalen Nase und nasaler Stimme, außerdem die zehn Angestellten – jugendlich-frische Jungs, direkt von den Elitehochschulen im Nordosten der Vereinigten Staaten – und die einzige weibliche Kraft, eine hübsche Inderin in einem senffarbenen Rollkragenpullover, die gerade ihren Abschluss in Oxford gemacht hatte. Hauptgesprächsthema war das Barbecue, das einer der Investoren, Dave Finley, am nächsten Tag in seinem Haus in Wellesley veranstaltete. Es ging das Gerücht, dass Mark Zuckerberg auftauchen würde.
Gideon lud Ivy ein, ihn zu begleiten, doch er warnte sie, dass sie sich möglicherweise langweilen würde, da die Mehrzahl der Gäste schon älter war.
»Ich freue mich darauf, mitzukommen«, sagte sie.
»Du wirst Dave und Liana lieben«, versicherte ihr Roland.
»Alle lieben Dave und Liana«, sagte Gideon. Etwas an seinem Ton ließ Ivy aufhorchen. Diese Menschen, die er nie erwähnt hatte, waren für Gideon in irgendeiner Hinsicht etwas Besonderes. Jedes neue Mitglied seines sozialen Umfelds war ein potenzieller Schlüssel, der es ihr erlaubte, tiefer in sein Seelenleben vorzudringen. Sie stellte sich sein Inneres als eine Reihe von Räumen entlang eines langen Korridors vor. Bislang hatte sie nur die vordersten betreten. Sie hatte gedacht, sie würde sich sicherer fühlen, seit sie ihre Beziehung vor sechs Wochen offiziell gemacht hatten, doch tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Ihre Vertrautheit wuchs nicht, sie wurden eher noch unsicherer im Umgang miteinander, da sie beide den Druck verspürten, Nähe aufzubauen. In einem entsetzlichen Moment hatte sie ihn vergangene Woche in beschwipstem Zustand »Giddy-Bär« genannt und förmlich sehen können, wie er zurückschreckte. »J-j-ja?«, hatte er gestammelt. Sie war verlegen gewesen, er war verlegen gewesen, und sie hatte ihn weiterhin mit seinem richtigen Namen angesprochen. In Gegenwart von Tom und Marybeth oder Andrea war es leichter, Leidenschaft vorzuspielen. Wenn sie ins Stocken gerieten, konnten sie einfach auf die vertraute Gruppendynamik zurückgreifen. Allerdings gab es nichts, was die tiefgehende Unbeholfenheit entschärft hätte. Wie zwei Schauspieler in einem Theaterstück versuchten sie, den anderen an den richtigen Text zu erinnern, obwohl ihre Rollenhefte leicht voneinander abwichen.
Ivy war froh, dass sie einen verschwenderischen Aufwand für Dave Finleys Barbecue-Party betrieben hatte. Sie hatte eine quälende Stunde mit sich gehadert, dann war sie in die Innenstadt gefahren und hatte sich in einem schicken Salon eine teure Föhnfrisur geleistet, außerdem ein neues, plissiertes Midikleid mit hohem Rüschenkragen. Eine makellose Trophäenfrau. Sie hatte sich von Gideon inspirieren lassen – er war bei ihr zu Hause in einem gekreppten Leinenanzug erschienen, dessen ganz spezieller blautürkiser Farbton seine Haare zu einem sahnigen Mandelblond aufhellte, sodass sie am liebsten daran geleckt hätte.
Auf dem Weg zum Haus der Finleys setzte Gideon sie über das Grundlegendste ins Bild: Dave war sein langjähriger Mentor und einer der Partner bei dem größten Risikokapitalunternehmen in Boston; seine Frau Liana war Menschenrechtsanwältin und Philanthropin; sie hatten eine fünf Jahre alte Tochter namens Coco. Wegen Cocos Alter nahm Ivy an, dass Dave Finley Ende dreißig oder Anfang vierzig war, kräftig gebaut, mit durchtriebenem Blick und dunklem Bartschatten im Kinngrübchen. Als jedoch ein schlanker, weißhaariger Gentleman über den Rasen auf sie zu eilte, um sie willkommen zu heißen, wurde Ivy klar, dass sie sich den Dave Finley von vor zwanzig Jahren vorgestellt hatte. Dieser Dave trug Jeans, gestreifte Espadrilles und ein sportliches Hemd aus Frottee. Kein anderer auf der Party war so lässig gekleidet. Es war eine Möglichkeit, Macht zu zeigen: zu betonen, dass man sich für niemanden zurechtmachen musste. Ein Wirrwarr aus Lachfältchen überzog sein tiefgebräuntes Gesicht, die Art Gesicht, die man umgehend mit Bootskatalogen oder Werbung für Seniorenresidenzen in Florida in Verbindung brachte.
»Sie sehen großartig aus, meine Liebe«, sagte er. Seine blauen Augen strahlten bewundernd, als er Ivys Hand in seine eigene nahm. Als er sich vorbeugte, konnte sie den Alkohol in seinem Atem riechen, zusammen mit irgendetwas Medizinischem. Binnen Minuten gelang es ihm mit demselben mühelosen Charme, Ivy sämtliche Details über ihr Alter, ihre Ausbildung, ihren Job und ihre Gehaltsklasse zu entlocken, ohne dabei aufdringlich oder neugierig zu erscheinen.
»Lehren ist eine noble Berufung«, sagte Dave und entblößte sehr weiße, sehr gerade Zähne. »Ich wünschte nur, Lehrer wären nicht so unterbezahlt und überarbeitet. Erst letzten Monat war ich in Korea. Die Lehrer dort sind Gottheiten. Die Eltern bombardieren sie mit Geschenken – Elektronikartikeln, Urlaub, mitunter sogar mit gutem, altem Bargeld – und bitten sie, die Paten ihrer Kinder zu werden. Vergessen Sie die Festanstellung – dort herrscht absoluter Mangel an qualifizierten Lehrkräften. Die guten können arbeiten, wo immer sie wollen. Hier hingegen sind Lehrer arm wie Kirchenmäuse, leben vom Bodensatz der öffentlichen Kassen und sind gezwungen, schlampige Forschungsarbeiten zu plagiieren, um sich einen Namen zu machen.«
»Das ist wohl wahr«, pflichtete Ivy ihm bei. Er schien davon auszugehen, dass sie Professorin war. »Meine Erstklässler bestechen mich manchmal mit selbst gebackenen Plätzchen«, scherzte sie.
Er schien sie nicht zu hören.
»Die meisten Lehrer hier sind ziemlich dumm. In Utah erzählen sie ihren Schülern zum Beispiel, die Evolutionstheorie sei eine Erfindung des Teufels, die dazu diene, Jesus zu diskreditieren. Werfen Sie bloß einen Blick auf unsere naturwissenschaftlichen MINT -Fächer im Vergleich mit anderen Ländern. Eine Schande ist das!«
»Nun, nicht alle …«
»Selbstverständlich nicht. Wie ich schon sagte – eine noble Berufung. Sie haben ein goldenes Herz, meine Liebe, ich sehe es schlagen, während wir sprechen.« Daves Blick schweifte über den Rasen. »Wo ist Liana?«
Es erschien Ivy unmöglich, dass Dave seine Frau im Gedränge all der Gäste in aufwendig gearbeiteten Blazern und Sommerkleidern entdecken würde, die von Gruppe zu Gruppe flatterten wie Schmetterlinge, die systematisch jede Blume im Garten bestäubten, während das Catering-Personal in den strengen schwarzen Westen und weißen Handschuhen wie riesige Motten mit Tabletts voller Canapés und kalten Getränken in verschiedenen Sorbet-Farben um sie herumschwirrte.
»Da ist sie ja!« Dave rief eine große Asiatin zu sich, die auf der Terrasse stand, ein Kind auf dem Arm.
Ach du Schande, dachte Ivy.
Liana Finley hatte eines der hässlichsten Gesichter, die sie je gesehen hatte. Breiter als lang und völlig asymmetrisch. Ein Wangenknochen war höher als der andere, die Kinnlinie weder rund noch eckig. Ein rosa-weißer Seiden-qipao umschmeichelte ihre hochgewachsene Statur, der bis zur Hüfte reichende Schlitz enthüllte ein muskulöses, bronzefarbenes Bein. Bräunungsspray? Nein, das war Liana Finleys Hautfarbe. Kein Wunder, dass Dave sie in der Menge entdeckt hatte – diese chinesische Amazone wäre überall herausgestochen.
Liana kam auf sie zu, das kleine Mädchen auf der Hüfte. Sie begrüßte Gideon herzlich mit einem Kuss, dann schüttelte sie Ivys Hand. Ivy konnte unmöglich Lianas Alter oder Akzent bestimmen, der abgehackt und entfernt nach deutscher Sprache klang.
»Wie alt bist du jetzt, Coco?«, fragte Gideon.
Das kleine Mädchen hielt fünf Finger hoch. Es trug ein limettengrünes Tutu und eine weiße Strumpfhose. Die Erwachsenen machten viel Aufhebens um ihre Pausbäckchen, auf denen Libellen aus grünem Glitzer prangten.
»Wie heißt Libelle auf Chinesisch, Coco?«, fragte Dave.
Keine Antwort.
»Das hast du doch heute Morgen gelernt.«
Alle warteten.
Coco flüsterte etwas. Ivy war sich ziemlich sicher, dass es nicht »Libelle« bedeutete.
»Du bist so klug, meine Süße«, lobte Liana.
Dave gab seiner Tochter drei überschwängliche Schmatzer. Seine Lippen glitzerten.
Ich war fünf, dachte Ivy, als mich die Flugbegleiterin am Logan Airport allein gelassen hat.
»Neulich habe ich gelesen, dass Kleinkinder ohne große Mühe bis zu vier Sprachen erlernen können«, sagte Liana zu Ivy und überließ das kleine Mädchen der Kinderfrau. »Unsere Coco hinkt also ein klein wenig hinterher.«
»Sie kommt mir klüger vor als viele meiner Sechsjährigen«, hielt Ivy dagegen.
»Sie ist ein echter Schatz«, räumte Liana ein, »aber vielleicht empfindet jeder so, wenn es sich um das eigene Kind handelt.«
Ein Kellner kam mit einem Tablett voller Mojitos. Ivy und Liana nahmen sich einen. Liana rührte die Pfefferminzblätter in ihrem Glas um, bis der Rum trüb wurde. »Vor Coco«, sagte sie, »dachte ich, es wäre lästig, Kinder zu haben. Ich fürchtete, ich wäre zu gebunden, würde alles verlieren, wofür ich gearbeitet hatte. Doch tatsächlich ist das Gegenteil der Fall – sie hat dem, was ich tue, eine Bedeutung verliehen. Sie werden das verstehen, wenn Sie selbst Kinder haben.«
Ivy nickte ernst. Dann war das also Lianas Hauptthema. Eine einflussreiche Anwältin für Menschenrechte, die alles für den Zauber der Mutterschaft aufgegeben hatte. Nicht gerade eine neue Geschichte, und doch würde sich Liana für den Rest ihres Lebens gezwungen sehen, zu demonstrieren, dass sie nichts bereute, dass sie ihrem uralten, weißhaarigen Ehemann in keinster Weise nachstand, auch wenn alle insgeheim glaubten, dass sie ihn nur wegen seines Geldes geheiratet hatte (hatte er sie denn während des Jurastudiums unterstützt?). Alle Frauen, begriff Ivy, hatten irgendein spezielles Thema. Eine Geschichte, die sie sich permanent selbst einredeten. Eine innere Wunde.
Als Liana aufhörte zu reden, machte Ivy ihr ein Kompliment zu ihren Satinschläppchen – »Wie fein gearbeitet sie sind, und sie passen so gut zu Ihrem Kleid« –, obwohl sie in Wirklichkeit dachte, dass sie aussahen wie die Billigschlappen, die man in Chinatown an Touristen verkaufte, rot und glänzend, mit schwarzer Plastiksohle und bestickt mit Kirschblüten.
Liana lächelte freundlich, doch die Freundlichkeit wirkte herablassend. Damit wären wir also wieder genauso weit wie vorher, schien das Lächeln zu sagen.
»Sie sind von diesem großartigen Designer, Ralph Li-Ping. Ich bemühe mich, asiatische Designer und Künstler zu unterstützen.«
Ivy lächelte. Beide Frauen nahmen einen Schluck von ihrem Mojito.
»Dave, was schaust du dir da an?«, fragte Liana, die offenbar genug davon hatte, die Mentorin zu spielen. Ivy kam sich vor wie ein neues Spielzeug, das von Dave an Liana weitergereicht wurde, da keiner von beiden großes Interesse daran hatte, damit zu spielen. Allerdings fühlten sie sich verpflichtet, um Gideons willen ein Minimum an Begeisterung vorzutäuschen.
Dave zeigte Gideon etwas auf seinem Handy. »Wir dürfen es eigentlich noch niemandem verraten, aber Liana wird das Gesicht der Herbstkampagne von Christopher Zhu. Das ist ein Video von Liana auf der Fashion Week in Tokio. Er hofft, dass es mir nichts ausmacht, sie zu teilen – er hat sie seine Muse genannt.«
Gideon und Ivy beugten die Köpfe über das kleine Display. Da saß Liana, das Gesicht wie eine gleißende Sonne unter Monden, in der ersten Reihe zwischen zwei gertenschlanken Models. Ihre tiefe Stimme übertönte das Geplapper der anderen im Raum. Sie sagte etwas auf Chinesisch zu der schwarzhaarigen Begleiterin links neben ihr, aber sie sprach nicht gut, artikulierte sogar noch schlechter als Austin.
Dave strahlte sie erwartungsvoll an. Ivy murmelte ein Kompliment.
»Es fällt mir erst jetzt auf«, sagte Dave und sah von Ivy zu Liana, »aber ich finde, ihr zwei könntet Schwestern sein.«
»Wir sehen uns ganz und gar nicht ähnlich, Liebling«, widersprach Liana. »Ich bin mindestens zehn Jahre älter als Ivy.«
Gideon klickte das Video noch einmal an und lauschte erstaunt. »Ich wusste gar nicht, dass du Chinesisch sprichst, Liana.«
»Kindergartenlevel«, erwiderte sie. Sie erzählte, dass sie zweimal pro Woche Unterricht in Mandarin nahm. Man erwartete von ihr, dass sie eine fünfminütige Rede für ihre Wohltätigkeitsstiftung hielt, die auf CCTV ausgestrahlt werden sollte.
»Gibt es schon einen Sendetermin?«, erkundigte sich Gideon.
»Im September.«
»Dann hast du ja noch Zeit. Wird die Rede aufgezeichnet? Ich würde sie mir liebend gern ansehen.«
Liana sagte, sie würde versuchen, jemanden zu finden, der sie filmte. Gideon und sie lächelten sich an.
Liana wandte sich an Ivy. »Sprechen Sie Mandarin?«
»Nicht gut.«
»Sagen Sie doch mal etwas«, forderte Dave sie auf.
»Was denn zum Beispiel?«, fragte Ivy und verspürte neuerliches Mitgefühl mit Coco Finley.
»Sagen Sie: ›Die Temperatur heute beträgt einundzwanzig Grad Celsius.‹«
Ivy sagte den Satz auf Chinesisch.
»Ihre Aussprache ist gut!«, stellte Liana überrascht fest – zu überrascht, dachte Ivy gekränkt. »Vielleicht könnten Sie meine Rede mit mir durchgehen. Mein Chinesischlehrer war in letzter Zeit unausstehlich; ich wäre froh, endlich einmal richtige Fortschritte zu machen.«
»Wenn ich Ihnen damit helfen kann«, sagte Ivy und musste sich alle Mühe geben, Liana nicht zu unverhohlen anzustarren. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendein Mann, geschweige denn Gideon, ein solches Gesicht attraktiv finden konnte – und trotzdem hatte Liana einen Designer zu künstlerischen Hochleistungen inspiriert. Er hatte sie seine Muse genannt!
»Waren Sie jemals in China, Ivy?«, wollte Dave wissen.
»Ich bin dort geboren«, antwortete sie. »Mit fünf bin ich in die Vereinigten Staaten gekommen. Als ich vierzehn war, bin ich noch einmal dorthin zurückgekehrt.« Sie schilderte kurz ihre einzige Reise nach Chongqing, doch als sie bemerkte, dass sie zum ersten Mal die Aufmerksamkeit der beiden hatte – Daves und Lianas Interesse schien aufrichtig zu sein –, fing sie an, diesen einen Sommer zu vielen Sommern auszuschmücken. Sie erzählte von einer Kindheit, die sie in kleinen Dörfern auf dem Land und in glitzernden Metropolen verbracht hatte, von der Kluft zwischen Arm und Reich, von bitterer Armut und pompösem Exzess, von Familien, die sich zu viert auf ein Motorrad quetschten, und unendlich vielen Reisfeldern. Sie beschrieb Jojo, Tante Hong, Sunrin und Sunrins ayi – wo sie lebten, wo sie arbeiteten, wie sie die Menschen aus Amerika betrachteten – und reduzierte ihre Verwandten auf Stellvertreter für die Armen, die Reichen, die Chinesen. Während sie sprach, nahm Gideon ihr das Glas aus der Hand und bedeutete dem Kellner, ein neues zu bringen.
»Was Sie über die Klassen- und Geschlechterdiskrepanzen erzählt haben, hat mich wirklich berührt«, sagte Liana, als sie geendet hatte. »Meine Urgroßmutter wurde von ihren Eltern an einen fliegenden Händler verkauft, damit diese ihre Brüder durchfüttern konnten. Sie gehörte noch der Generation von Frauen an, denen man die Füße band, doch sie brachte sich selbst das Lesen bei. Sie schaffte es, meine Großmutter als erste Frau an einer ausschließlich von Männern besuchten Ingenieurschule in Peking unterzubringen. Wenn es Sie interessiert, habe ich da dieses Buch über chinesische Frauen, die in der Prä-Mao-Ära die Klassenbarrieren überwanden. Ich könnte es Ihnen leihen.«
Ivy sagte, sie würde es liebend gern lesen. Liana schlug vor, dass Ivy zur nächsten Versammlung ihres Buchclubs kommen möge.
»Bin ich auch eingeladen?«, scherzte Gideon.
»Nur für Frauen«, verneinte Liana.
»Selbst ich darf nicht teilnehmen«, sagte Dave und schüttelte seine weißen Locken. »Sie verbarrikadieren sich stundenlang hinter verschlossenen Türen, und ich höre nichts als unablässiges Gekicher. Sie müssen unser Maulwurf sein, Ivy. Verraten Sie uns, was da vor sich geht.«
Liana legte einen Arm um Ivys Taille. »Sie würde ihre Geschlechtsgenossinnen niemals verraten.«
Ivy spürte, dass Lianas warme Hand etwas Loyales, Beschützendes ausstrahlte, etwas, was sie in Lianas inneren Kreis einführte, auch wenn sie kaum eine Idee hatte, wie man sich in einem solchen Kreis bewegte. In einem Kreis, in dem ihre chinesische Herkunft nicht wie ein hässlicher Hund unter dem Tisch versteckt werden musste, sondern in einem prächtigen qipao mit einem Schlitz bis zum Oberschenkel zur Schau gestellt wurde. Sie hätte Lianas Leben, das Leben ihrer Verwandten, nicht derart vereinfachen sollen. Plötzlich schämte sie sich dafür. Vielleicht ging es gar nicht um die Geschichten der anderen, sondern lediglich um ihre eigene. Doch was zählte die Wahrheit, wenn die meisten Leute einen doch nur nach dem beurteilten, was offensichtlich war?
Nachdem sie Jakobsmuschel-Ceviche und Pistazientapenade gegessen hatten, schlug Dave vor, dass Liana Ivy die Rosen zeigte. »In diesem Jahr blühen sie ganz wundervoll« – er tätschelte Lianas Hüfte –, »dank dir, meine Liebe.«
»Dank Francisco«, stellte Liana richtig und nahm Ivys Arm. »Ich stelle bloß die Schecks aus.«
Ohne viel zu reden, schlenderten sie durch den gepflegten Garten nahe dem kleinen Pavillon. Gelegentlich winkte Liana einer Freundin oder zeigte Ivy das Gemüse, auf das sie besonders stolz war: die leuchtend roten Tomaten, die so prall waren, dass sie gleich zu platzen schienen, die armlangen, dicken Zucchini. »Wir hatten so viele Probleme mit Schädlingen und Kaninchen, aber seit wir Francisco eingestellt haben, kommt fast alles, was wir essen, aus dem eigenen Garten.«
»Was für ein Aufwand«, staunte Ivy. »Dabei sind Sie ohnehin so beschäftigt mit Coco und Ihren Wohltätigkeitsprojekten.«
»Mit Geld löst man alle Probleme«, sagte Liana, runzelte die Stirn und bückte sich, um eine Winde zu entfernen, die sich um den Stiel einer roten Rose geschlungen hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, tauchte wie aus dem Nichts ein Faktotum in schwarzer Weste auf, nahm das zarte Unkraut aus Lianas manikürten Fingern und reichte ihr ein feuchtes Tuch, mit dem sie ihre Hand reinigen konnte.
»Ich mag dich, Ivy«, sagte Liana frei heraus. »Ich darf doch Du sagen, oder? Ich verstehe, warum du für Gideon etwas Besonderes bist. Ihr zwei gebt ein schönes Paar ab. Lass mich wissen, wenn ich dich irgendwie unterstützen kann …«
Es war fast Mitternacht, als Ivy und Gideon die Barbecue-Party verließen. Die Villa war noch hell erleuchtet. Dave und seine Freunde spielten im Foyer Bridge; Liana saß auf der Terrasse, umgeben von Frauen aus ihrem Buchclub, und debattierte so leidenschaftlich über die Ölkrise, als würde der Präsident höchstpersönlich atemlos auf ihren Anruf warten, damit sie ihm mitteilte, was genau zu tun war.
Woraus genau bestand dieser Mantel, der sich Privileg nannte, und wie konnte er einen schützen? War er sichtbar für den Träger, oder konnten ihn nur Außenstehende erkennen?
»Irgendwann gehen wir mit den beiden essen«, sagte Gideon im Auto. Sein Lächeln im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden LKW s sah besonders süß aus. »Liana ist toll, findest du nicht? Ihr zwei habt vieles gemeinsam.«
»Tatsächlich?«, murmelte Ivy.
»Ich habe sie einmal vor Gericht erlebt«, sagte Gideon. »Damals war ich noch Student. Wie sie die Geschworenen für sich eingenommen hat … ›Wenn wir es nicht wagen, wer dann?‹ Diesen Satz werde ich nie vergessen. Er hat in mir den Wunsch geweckt, die Welt zu verändern.« Er schüttelte den Kopf. »Sie war etwas Besonderes.«
»Ja«, sagte Ivy. »Ich mag Liana und Dave sehr. Wer wäre nicht gern wie sie?«
Sie schwiegen. Das Radio spielte die Top-Ten-Lovesongs, jeder fünfzigste Anrufer bekam Konzerttickets geschenkt. Jetzt lief ein langsames Stück … and you know … for you I’d bleed myself dry … Im sanften Timbre der Männerstimme hörte Ivy ihre eigene Sehnsucht.
Als Gideon vor ihrem Haus anhielt, hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde den Lehrberuf an den Nagel hängen und Anwältin werden.