In jener Nacht träumte Ivy von einer rot lackierten Tür mit einem goldenen Knauf. Unter dem Türspalt fiel leuchtend orangefarbenes Licht hindurch, als würde auf der anderen Seite ein Feuer wüten. Der Knauf fühlte sich kühl an und ließ sich geräuschlos drehen. Die Tür sprang auf. Der Raum dahinter war dunkel, sie konnte nichts erkennen, trotzdem war sie sich sicher, dass drinnen etwas Außergewöhnliches auf sie wartete und sie beim Namen rief. Sie wachte auf und hörte das Echo einer Männerstimme. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte fünf Minuten vor zehn an.
Heller Sonnenschein strömte in ihr Zimmer. Eine Böe musste in der Nacht die Balkontür aufgestoßen haben, denn nun wehten das muntere Tschilpen der Vögel und das leise Rauschen der an den Strand rollenden Wellen herein, das sich mit ihren Träumen vermischt haben musste. Sie blieb noch einen Moment liegen, bis Rufe und Gelächter sie auf den Balkon hinaus lockten. Die Speyers spielten auf dem Rasen Frisbee. Poppy war ziemlich gut, Ted miserabel. Sylvia fing die Scheibe, dann ließ sie sie mit einem schmerzerfüllten Schrei fallen. Gideon lief zu ihr und untersuchte ihre Hand. Sie steckten die flachsfarbenen Köpfe zusammen – ein Motiv wie in einem Ölgemälde der Romantik: Picknick im Sommer . Ein an den Seiten ausfransender schwarzer Fleck fiel Ivy ins Auge: Roux’ Haare, vom Wind zerzaust. Er stand direkt unter ihrem Balkon und sah zu ihr hinauf. Er lächelte nicht. Ihre Blicke trafen sich. Wie lange mochte er dort schon gestanden haben?
Als sie ihn gestern Abend gesehen hatte, war sie so schockiert gewesen, dass sie ihn nur völlig perplex angestarrt und sich gefragt hatte, ob dieser Roux im Schoße von Gideons Familie womöglich der Doppelgänger von ihrem Roux war. Doch dann hatte er diese Wunschvorstellung platzen lassen, indem er sie beim Namen nannte: »Ivy?«
Es folgte ein Hin und Her mit den Speyers – Ihr kennt euch? Wie klein die Welt doch ist! –, dann prasselten die unausweichlichen Fragen auf sie herab, woher sie einander kannten (sie hatten in derselben Stadt gewohnt) und wie gut (sie waren Nachbarn gewesen). Nach einer Weile hatte Poppy Roux und Sylvia zu einem späten Abendessen überredet, und Ivy hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen.
Sie hatte unruhig geschlafen und sich einerseits gewünscht, Gideon würde sich zu ihr schleichen, doch gleichzeitig war sie erleichtert gewesen, dass er es nicht tat, denn so blieb ihr mehr Zeit, sich eine Geschichte zurechtzulegen. Sie dachte an den Sommertag vor dreizehn Jahren zurück, an die Hitze und die staubige Fensterbank, und fühlte wieder einmal Roux’ schweißnasse Haut, sah seine zuckenden schwarzen Wimpern vor sich, den Ausdruck auf seinem Gesicht, verkniffen, als hätte er Schmerzen. Zweifelsohne hätte Roux Sylvia eine interessante Gutenachtgeschichte zu erzählen. Männer liebten es, über ihr erstes Mal zu reden. Bei Frauen war das anders. Ivy hatte ihre Jungfräulichkeit mit vierzehn verloren. Vierzehn war zwei Jahre zu früh. Sex mit vierzehn war verwerflich, mit vierzehn trieb es nur der Abschaum, Mädchen, die sich schwängern ließen und von der Schule flogen. Gideon dachte, sie hätte eine strenge, behütete Kindheit gehabt und ihre Eltern, die mit viel Fleiß zu gut situierten Unternehmern aufgestiegen waren, hätten darauf bestanden, dass sie ein reines Mädchen-College besuchte. Er ging davon aus, dass sie mit achtzehn noch Jungfrau gewesen war.
An diesem Morgen gab sie sich besonders viel Mühe mit ihrer Garderobe: weiße Baumwollshorts, eine Spitzenbluse mit V-Ausschnitt, marineblaue Ballerinas. Sie band ihr Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen und klemmte ihren Pony mit Haarnadeln zur Seite. Etwas Concealer, Bronzer, Rouge und Lipgloss, und sie sah aus wie aus dem Ei gepellt.
Als sie herunterkam, waren die Speyers nirgendwo zu entdecken. Roux saß mit einer Tasse Kaffee und einer Schachtel Donuts in Teds Sessel. Er trug ein weißes T-Shirt und eine Bluejeans mit Rissen an den Taschen und Knien, als würde er sich bei der Arbeit viel auf die Hände und Knie stützen müssen. Ein Mechaniker. Vielleicht ein Bauarbeiter. Der Kleidung und den Donuts nach zu urteilen definitiv ein Angehöriger der Arbeiterschicht.
»Hallo, Roux«, sagte sie, überrascht, wie selbstverständlich ihr sein Name über die Lippen ging. Er stand auf, als er ihre Stimme hörte, und richtete sich zu voller Größe auf, doch mittlerweile war er alles anders als schlaksig. Die Eigenschaften, die sie an dem jungen Roux nicht gemocht hatte – seine Ungepflegtheit, seine Verachtung, die vertraute Art, mit der er sie anschaute –, waren zu Insignien seiner Männlichkeit geworden, die jede Frau wahrnahm, sobald er einen Raum betrat. Ivy spürte, wie etwas Warmes, Freudiges von seinem Lächeln auf sie übersprang und ihre Haut zum Prickeln brachte. Sie krümmte sich innerlich, hauptsächlich aus Verlegenheit.
»Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich dich gestern Abend da oben stehen sah«, sagte er. »Ich habe mich gefragt, ob du echt bist, oder ob mich ein Geist aus meiner Vergangenheit heimsucht.«
»Ich bin echt.«
Verlegen standen sie sich gegenüber, bis Ivy irgendwann steif Platz nahm, und er ihrem Beispiel folgte.
»Wie geht es dir? Was machst du hier?« Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Du siehst noch genauso aus wie früher.«
»Du auch«, sagte sie, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie deutete mit dem Kinn auf die Donuts. »Du liebst noch immer deine Dunkins.«
Roux sagte, er habe eine halbe Stunde durch die Gegend kutschieren müssen, um eine Filiale zu finden. »Sie ist in dem alten Backsteingebäude, das vermutlich etwas hermachen soll. Ich meine – wen interessiert’s? Es sind bloß Donuts. Schmecken genau wie anderswo. Willst du einen?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr fiel auf, dass Roux’ linke Socke ein großes Loch an der Ferse hatte. Dieses Detail tröstete sie. Es überbrückte die Kluft zwischen diesem Roux und dem siebzehnjährigen Roux aus ihren Erinnerungen.
Er erkundigte sich nach ihrem Leben. Sie erzählte ihm von ihrem Umzug nach New Jersey, wo sie an die Highschool gegangen war, und was sie schließlich nach Boston verschlagen hatte.
»Du bist Lehrerin geworden?« Er schien das lustig zu finden. »Verdammt, deine Schüler tun mir leid!«
Sie lachte. »Ich habe gerade gekündigt, weil ich mich an der juristischen Fakultät bewerben möchte.« Ich amüsiere mich, stellte sie verblüfft fest.
Sie fingen gerade an, sich zu entspannen, als Sylvia ins Zimmer kam, die Haare noch nass von der Dusche. Sie duftete stark nach Kokosöl.
»Baby, bist du so weit? Wir müssen dir noch eine Badehose besorgen – oh, hallo, Ivy.« Sie setzte sich auf die Armlehne von Roux’ Sessel und schlang den Arm um seine Schulter. »Wie gefällt dir Finn Oaks?«
Ivy bemühte die üblichen Adjektive – wunderschön, süß, gemütlich –, doch ihre Gedanken überschlugen sich bei dem Anblick, der sich ihr bot: Roux Roman und Sylvia Speyer, die Arme und Beine miteinander verschlungen, strahlten einander mit ihren blitzweißen Zähnen an wie ein Pärchen von einer Kitschpostkarte. Gab es irgendwo auf der Welt ein unpassenderes Gespann? Oder war es der klischeehafte Reiz, einen Mann von der falschen Seite der sozioökonomischen Grenze zu daten, der Sylvias Hormone befeuerte? Sylvia fragte Roux, ob er heute Morgen den Wagen abgeholt habe, und sie begannen ein leises Gespräch über Automotoren. Sylvia vergrub den Kopf an Roux’ Hals und nannte ihn ihr »kleines Känguru«. Er kniff sie in die Rippen. Sylvia kreischte laut auf. »Das magst du, nicht wahr, das gefällt dir …«, murmelte Roux, als würde er mit einem Hund reden. Manche Formen der Verführung waren vor Publikum noch erregender, und vielleicht standen Roux und Sylvia darauf. Während sie immer weiter gingen … und weiter … und weiter, kam Ivy zu dem Schluss, dass kein Erwachsener mit einem Minimum an Selbstachtung sich mit Absicht derart peinlich benahm. Andere Menschen verstanden es, sich selbst in den größeren Kontext einer objektiven Welt einzubinden, doch für Roux und Sylvia gab es keinen größeren Kontext, keine objektive Welt. Und so waren sie frei von jeglicher Befangenheit.
»Ihr habt gestern gar nicht zu Ende erzählt«, wandte sich Sylvia schließlich an Ivy. »Wie ihr euch kennengelernt habt. Ihr wart Nachbarn, oder?«
Ivy zögerte. Wollte Sylvia sie auf den Arm nehmen?
»Das gute alte Fox Hill«, sagte Roux. »Warst du jemals wieder da?«
»Nie?«
»In New York?«, fragte Sylvia.
»Nein, in Massachusetts. Im beschissenen West Maplebury. Du hast vermutlich nie davon gehört.«
Sylvia schnitt eine Grimasse. »Sandkastenfreundschaften sind die schönsten«, sagte sie und fing an, eine Geschichte über ihre beste Freundin in der ersten Klasse zu erzählen. Sie weiß es wirklich nicht, dachte Ivy, überwiegend erleichtert, doch gleichzeitig verspürte sie einen kleinen Stich, weil Roux es offenbar nicht für nötig gehalten hatte, sie zu erwähnen.
»Ich bin Natalie seit über zwanzig Jahren nicht mehr begegnet«, sagte Sylvia, »aber jedes Mal, wenn ich ein rosa Fahrrad mit Lenkerfransen sehe, muss ich an sie denken.«
»Jedes Mal, wenn ich einen Kmart sehe«, sagte Roux, »denke ich an Ivy. Sie war früher eine ziemliche …«
»Wie habt ihr zwei euch eigentlich kennengelernt?«, schnitt Ivy ihm atemlos das Wort ab.
Sylvia erzählte etwas von einem Kunstmuseum und italienischen Malern, aber Ivy hörte kaum zu. Das Wort Kmart klang in ihren Ohren wie ein Todesurteil, der verhaltene Optimismus, den sie nur wenige Momente zuvor empfunden hatte, wurde durch Roux’ wie beiläufigen Verrat auf einen Schlag ausgelöscht – ein Stich mitten ins Herz.
»Roux ist der Hauptmäzen dieser Ausstellung«, berichtete Sylvia. »Er hat einen brillanten Geschmack und einen mörderischen Instinkt für unterschätzte Kunst.«
»Ich habe nicht mehr getan, als einen Haufen Geld zu spenden«, stellte Roux klar. »Dafür bekommt man ein Zertifikat und einen Titel wie ›Museumsfreund‹. Und es spart einem jede Menge Steuern …«
»Roux hat die Sammlung selbst kuratiert«, übertönte ihn Sylvia. Er hat uns sogar geholfen, ein Exponat von einem notorisch geizigen Museum in Florenz auszuleihen. Ich habe vorher monatelang dort hingeschrieben …«
»Ich kenne den Direktor. Er kommt in meinem Pizzaladen vorbei, wenn er in New York ist. Ich habe den Laden so eingerichtet, dass er aussieht wie der, in den wir immer gegangen sind, erinnerst du dich?« Er grinste Ivy an. »Wenn wir nach zehn kamen, haben sie uns die übrig gebliebenen Stücke geschenkt. Du hast eine Tupperbox von zu Hause mitgebracht und dir etwas für deinen Bruder einpacken lassen. Mein Gott, konnte der Junge essen!«
Ivy behauptete, sie erinnere sich nicht an den Pizzaladen. Sie schaffte es kaum, Roux anzusehen.
Roux’ Grinsen wurde fragend. »Echt nicht? Was ist mit Giovanni und seinem zurückgebliebenen Sohn Vincent? Wir sind losgezogen und haben Peperoni-Pizza an die Betrunkenen im Park verkauft. Wir wollten auf diese aufblasbaren Bretter sparen, um sie im Teich zu benutzen.«
»Tatsächlich? Nun, Kinder machen die absurdesten Dinge. Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wirkte nun leicht angespannt. »Na klar«, sagte er langsam.
»Dann bist jetzt also ein Kunstsammler «, zwitscherte Ivy. »Und du betreibst einen Pizzaladen? Das ist eine ungewöhnliche Kombination.«
»Nicht nur das«, sagte Roux und beugte sich vor. »Ich besitze außerdem eigene Münzwaschsalons, Ein-Dollar-Läden, Geld- und Verkaufsautomaten. Die bringen echt was ein, diese Automaten. Vor allem die in Motelketten. Die Kunst ist bloß ein Hobby. Es macht mir Spaß, das zu beschaffen, was alle anderen wollen.«
Etwas an der Art und Weise, wie er das sagte, brachte Ivy dazu, in Verteidigungshaltung zu gehen und die Beine übereinanderzuschlagen. Sie hatte sich geirrt. Er war ganz und gar nicht arm. Irgendwie überraschte sie das nicht. Er war schon immer ausgesprochen tough gewesen, wenn es um Geld ging – einer dieser ehrgeizigen Ganoven, die entweder Erfolg hatten oder im Gefängnis landeten. Vermutlich hatte er sogar noch mehr Geld als Sylvia. Ivy ging davon aus, dass Gideons Schwester nur einen Mann mit einem größeren Bankkonto datete. Bei der Jeans hatte sie genauso danebengelegen: Aller Wahrscheinlichkeit kostete jeder einzelne Riss ein Vermögen. Die Hose sollte vortäuschen, dass Roux ein echter Arbeiter war, dabei machte er bestimmt schon lange keinen Finger mehr krumm.
Er erzählte, dass er vorhatte, in die Automobilbranche einzusteigen, und fragte Ivy, ob sie auf Autos stehe.
»Nicht wirklich.«
»Das kommt daher, dass du nie in einem richtig guten Wagen gesessen hast. Lass uns eine Runde im Bugatti drehen. Sylvia hat ihn ausgesucht, weil sie findet, dass die Farbe zu meinen Augen passt. Was hältst du davon?«
Ivy wusste nicht, was sie antworten sollte.
Er deutete auf die Zufahrt. »Sieh doch mal.«
»Ich interessiere mich wirklich nicht für Autos.«
»Jetzt sei nicht so unhöflich.«
Am liebsten hätte Ivy ihn geschlagen.
»Hör auf damit, Roux!« Sylvia runzelte die Stirn. Sie sprach jetzt wieder mit ihrer normalen Stimme.
Ivy stand vom Sofa auf und sagte, sie wolle mal nachsehen, ob sie etwas zum Frühstück finde. Sylvia lud sie ein, mit ihnen Krabbenpuffer im Red Barn zu essen. »Kannst du dir vorstellen, dass Roux noch nie Krabbenpuffer probiert hat?«
»Du machst Witze«, sagte Ivy.
Sylvia warf ihr einen unterkühlten Blick zu.
»Beim nächsten Mal«, lehnte Ivy ab.
»Bis später!«, rief Roux auf dem Weg nach draußen. »Es war schön, mal wieder mit einer alten … Nachbarin zu plaudern.«
Ivy nahm ihren Kaffee und ein Croissant mit an den Strand. Sie hielt es keine Sekunde länger im Wohnzimmer aus, gefangen zwischen den Holzwänden, die sich quietschend und ächzend in der Hitze dehnten. Die aus der Mode gekommenen Möbel, die gestreiften Futons und Konsolen mit den runden Beinen vermittelten ihr den Eindruck, in einem Puppenhaus gelandet zu sein. Vielleicht lag es aber auch nur an Roux’ Anwesenheit, die so unerwartet und überwältigend war, dass sie sich derart eingeengt fühlte.
Poppy und Ted nahmen unter einem großen gestreiften Schirm ein Sonnenbad. Gideon war im Wasser und sah aus wie ein beigefarbener Seehund. Ein zwitschernder Chor begrüßte Ivy: Komm zu uns! Setz dich! Hast du gut geschlafen? »Sie sind nicht so frisch, wie ich sie mag«, sagte Poppy und deutete auf das Croissant in Ivys Serviette. »Ich war heute Morgen ein bisschen später als sonst in der Bäckerei, und die waren noch übrig.« Ivy versicherte ihr, dass die Croissants köstlich schmeckten und dass sie nie besser geschlafen habe. Sie legte ihr Handtuch neben Poppys und zog ihr Kleid aus. Plötzlich wurde sie sich ihrer kindlichen Proportionen bewusst, der hervortretenden Rippen, der Wirbelsäule und des großen Flecks am Knie, dort, wo sie sich an der Holzkommode in ihrem Zimmer gestoßen hatte. Ted trug ein Harvard-T-Shirt und graue Schwimmshorts, womit er einen dezenten Hintergrund für Poppys leuchtenden Badeanzug bot. Ihre Figur war straff und geschmeidig wie eine frische Banane. Es hieß, Asiatinnen würden kaum altern, doch Ivy fand, dass Amerikanerinnen über fünfzig, die regelmäßig ins Fitnessstudio gingen und auf sich achteten, sehr viel jugendlicher wirkten.
Als Ivy die wundervolle Landschaft lobte, deutete Ted auf einige Sträucher mit runzeligen, fuchsiafarbenen Blütenblättern und gezackten Blättern. Dies seien Rosa rugosa , Japanrosen, erklärte er ihr, die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von Ostasien nach Amerika gebracht und zum ersten Mal in Nantucket gesichtet worden waren. Ivy brachte ihre Bewunderung über seine eingehenden Kenntnisse der Flora zum Ausdruck.
»Manche unserer Freunde entsetzt die Vorstellung, jedes Jahr die Ferien am selben Fleck zu verbringen«, räumte Ted ein, »aber wir sind nun einmal Gewohnheitstiere. Wir würden das hier gegen nichts auf der Welt eintauschen.«
Ivy sagte, Nan sei genauso. Auch sie ziehe den heimischen Komfort exotischen Zielen vor. Mit »heimischem Komfort« meinte sie Nans Haus, das diese nie verließ, außer um einmal im Jahr Tante Pings Familie in Doylestown, Pennsylvania, oder ab und an ihre Tochter zu besuchen.
»Und wo lebt deine Familie jetzt?«, erkundigte sich Ted und stützte sich auf die Ellbogen.
Und so fing es an. Kontext, Subtext. Clarksville wurde zu in der Nähe von Princeton, Selbstständigkeit implizierte steuerliche Abschreibungen, ein kleiner Laden stand für Gewerbeimmobilien. Der letzte Teil war nicht gelogen: Shen hatte vor Kurzem ein großes Lager gekauft, in das sie all den gebrauchten Plunder stopfen konnten, für den sich im Haus kein Platz mehr fand. Ivy stellte sich vor, wie ihre Eltern am Küchentisch saßen und Ziffer für Ziffer in Nans kleinen Plastiktaschenrechner tippten – der wegen seiner Langlebigkeit einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde verdient hatte. Anschließend übertrugen sie die kleinen roten und schwarzen Zahlen ins Geschäftsbuch, Jahr für Jahr, Tag für Tag, bis zu ihrem Tod.
»Wie schön, dass ihr gleich alt seid, Gideon und du«, bemerkte Poppy beiläufig.
»Ich bin drei Monate älter als er«, erwiderte Ivy. Sie konnte sehen, wie Poppy anfing, im Kopf Berechnungen anzustellen. Neunundzwanzig beim ersten Kind, blieben noch zehn Jahre für drei weitere Kinder, bevor sie vierzig wurde.
»Gideon hat uns erzählt, du überlegst, ein Jurastudium zu beginnen«, sagte Ted.
»Ja.«
»Das kostet ziemlich viel Zeit, von der finanziellen Investition ganz zu schweigen.«
Es war schwer zu sagen, ob er ihren Plan guthieß oder nicht. Ivy nickte vage, was, wie sie hoffte, sowohl Zustimmung als auch Optimismus ausdrückte.
Bis Gideon vom Schwimmen kam, unterhielt Poppy sie taktvoll mit Geschichten über ihren ältesten Bruder Bobby, den Onkel, den Gideon erwähnt hatte und der als Anwalt in Kalifornien tätig war.
»Wie ist das Wasser?«, fragte Ted.
»Kalt«, antwortete Gideon und ließ sich bibbernd auf ein großes Handtuch fallen. Ein Windstoß fuhr unter den Sonnenschirm.
»Ivy hat uns von ihren Plänen, Jura zu studieren, erzählt«, sagte Ted.
»Ah«, sagte Gideon.
Ivy hätte gern gewusst, was dieses Ah bedeutete.
»Wirst du dich in der Nähe bewerben?«, fragte Poppy unschuldig.
»Unbedingt«, antwortete Ivy. »Ich liebe Boston. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben.«
Poppy legte ihr die Hand auf den Arm. »Es ist so schön, dass Gideon dich mitgebracht hat. Wir haben schon seit Jahren keine Freundin von ihm zu Gesicht bekommen. Seit … egal. Er ist immer so scheu , wenn es um sein Privatleben geht.«
»Aber, aber, Poppy«, tadelte Ted. »Gideon kann seine eigenen Entscheidungen treffen.«
Gideon sprang wieder auf und erklärte, er sei hungrig und würde zum Haus zurückkehren.
»Lasst uns gemeinsam aufbrechen«, schlug Poppy errötend vor.
Sie suchten schweigend ihre Sachen zusammen. Gideon ging voran, gefolgt von Ivy. Seine Eltern blieben ein paar Schritte hinter ihnen und sprachen gedämpft miteinander.
Nach dem Mittagessen zog sich Gideon mit Kopfschmerzen in sein Zimmer zurück, Poppy und Ted besuchten die Nachbarn. Ivy suchte sich ein schattiges Plätzchen auf der Hollywoodschaukel, um zu lernen. Sie schlug die mit einem Eselsohr markierte Seite in ihrem Vorbereitungsbuch auf und begann zu lesen: Beweis + Vermutung = Schlussfolgerung, das A und O bei der Entscheidungsfindung. Greifen Sie auf Schlüsselwörter und kritisches Denken zurück, um zu einer logischen Schlussfolgerung zu gelangen. Fragen Sie sich anschließend, warum diese Schlussfolgerung wahr ist, und finden Sie Beweise dafür. Lassen Sie dabei sämtliche Querverweise und jegliches Hintergrundwissen außer Acht. Eine Vermutung ist widerlegbar, wenn nicht gesetzlich die Unwiderruflichkeit angeordnet ist …
Mit brennenden Wangen wachte sie auf. Die Sonne war über den Himmel gewandert, tief und blendend, und schien ihr nun frontal ins Gesicht. Roux’ heiß geliebter Bugatti parkte hinter Gideons Wagen, das Faltdach wölbte sich über die schnittige blaue Karosserie, die Scheinwerfer waren so rund und vorstehend, dass sie wie zwei Augäpfel auf Antennen aussahen. Es war ein Spielzeugauto, und Ivy begriff, dass Roux es genau aus dem Grund gekauft hatte – um zu zeigen, dass es nicht zweckmäßig sein musste, sondern einzig und allein dem Vergnügen diente.
Durch das offene Fenster der Waschküche an der Rückseite des Hauses konnte sie Sylvia hören, die etwas über Klimaanlagen sagte. Ivy hob das Buch auf, das zu Boden gefallen war, und ging hinein.
Alle außer Roux hatten sich um einen schwarz-weißen Kater versammelt, der mit einer Socke auf dem gefliesten Boden spielte – offensichtlich ein Streuner. Eins seiner Ohren war schrumpelig wie ein Pfifferling, der Schwanz schmutzig und verfilzt, ganze Büschel von Haaren fehlten. Sylvia erzählte Poppy, wie sie den Kater in den Sträuchern vor Tom’s Market gefunden hatte, als er versuchte, einen Jalapeño zu fressen. »Anscheinend ist er an Menschen gewöhnt, denn er ist so freundlich – ganz und gar nicht verwildert. Er hat sich an meinem Bein gerieben und schnurrend um Futter gebettelt. Morgen bringe ich ihn zum Tierarzt und lasse ihn durchchecken.« Sie schob den Kater in Ivys Richtung, die vorsichtig über die Spitze seines normal geformten Ohrs strich. Er schien Menschen weder zu mögen noch abzulehnen. Als sich ihre Hand seinem Bauch näherte, gab er ein lang gezogenes Fauchen von sich. Ivy zuckte zurück und wischte sich einige durch die Luft fliegende Katzenhaare aus dem Gesicht.
»Komm ihm lieber nicht zu nahe«, warnte Poppy, die sich an der Tür herumdrückte. »Wir sollten ihn zuerst auf Krankheiten untersuchen lassen.«
»Ich habe beschlossen, ihn zu behalten«, verkündete Sylvia. »Ich werde ihn Pepper nennen.«
Poppy legte eine Hand an die Wange. »Bist du sicher, dass du genug Zeit für ein Haustier hast, Sylvia? Die Promotion ist anstrengend genug, da solltest du dir nicht zusätzlich die Verantwortung für eine Katze aufbürden.«
»Dir ist das vielleicht zu viel«, entgegnete Sylvia, »aber zum Glück komme ich nach Daddy.«
»Überleg es dir gut, Sib«, schaltete sich Ted ein. »Mom hat recht, du bist ständig unterwegs. Wer passt auf den Kater auf, wenn du weg bist?«
»Aber …«
»Sie schafft das schon«, sagte Gideon und tauschte einen Blick mit seiner Schwester aus. Sie mussten Ted und Poppy unzählige Male auf diese Weise bearbeitet haben, dachte Ivy. Sie lavierten sich an ihren Eltern vorbei wie zwei Akrobaten, deren gegenseitiges Vertrauen so bedingungs- wie kompromisslos war.
Sylvia brachte den Kater ins Wohnzimmer, wo sich Roux einen Scotch genehmigte und in einem von Poppys Bildbänden über historische, denkmalgeschützte Häuser blätterte, und forderte Pepper mit einem der Holzmobiles zum Spielen auf. Gideon klapperte mit den Muscheln eines zweiten Mobiles, und der Kater sprang auf ihn zu, die Ohren flach an den kugelrunden Kopf gelegt. Der Schwanz zuckte über den Boden wie ein ausgefranster Wischmop. »Ich mochte Katzen schon immer«, sagte Gideon. »Vor allem Toms alten Kater, Beaver. Beaver hat Wasser direkt aus dem Hahn getrunken. Tom hat ihm sogar beigebracht, in die Toilette zu pieseln. Katzen sind ziemlich clevere Tiere.«
»Würdest du Pepper nehmen?«, fragte Sylvia.
»Soll ich das?«
»Deine Wohnung ist ziemlich klein …«, gab Ivy zu bedenken – im selben Moment, in dem Sylvia: »Oh, unbedingt! « rief.
»Bist du sicher, dass du genug Zeit für ein Haustier hast?«, fragte Ivy und bemerkte zu spät, dass sie exakt die gleichen Worte verwendet hatte wie Minuten zuvor Poppy. Gideon und Sylvia tauschten einen weiteren Blick aus.
»Ich hasse Katzen«, sagte Roux und schlug das Buch mit einem lauten Knall zu. »Und die da ist potthässlich. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich zahm ist. Macht mir eher den Eindruck, als würde sie einem beim Schlafen die Augäpfel auskratzen.«
Ivy konnte nicht anders – sie lachte.
»Ihr seid herzlos«, sagte Sylvia. »Wie um alles in der Welt haben eure Eltern euch erzogen?«
»Wie Straßenköter«, antwortete Roux.
Da es nicht so aussah, als würden Sylvia und Gideon etwas anderes tun wollen, als auf dem Webteppich zu liegen und die Katze zu streicheln, schlug Ivy vor, an den Strand zu gehen.
»Ich muss noch eine E-Mail fertig machen«, sagte Gideon. »Ich hole schnell meinen Laptop.« Er stand auf und ging.
Kurz darauf trank Roux seinen Drink aus und erhob sich ebenfalls. Er warf Sylvia einen fragenden Blick zu, aber sie blieb auf dem Teppich liegen. Ivy meinte fast, sich ihre vorherigen lasziven Zuneigungsbekundungen nur eingebildet zu haben. Sie fragte sich, was beim Krabbenpuffer-Essen vorgefallen sein mochte. Vielleicht war ein solches Verhalten aber auch normal für Sylvia und Roux, die ihr beide eher flatterhaft erschienen.
»Kannst du bitte deine Sachen aufhängen?«, rief Sylvia Roux nach, dann drehte sie sich mit gerunzelter Stirn zu Ivy um. »Du kannst von Glück sagen, dass Gideon relativ ordentlich ist. Roux hat kaum etwas ausgepackt, und trotzdem liegt unser ganzes Bett voll mit seinem Krempel.«
»Ihr habt ein gemeinsames Schlafzimmer?«, fragte Ivy.
»Warum nicht?«
»Es ist bloß … Ich dachte, deine Mom mag es nicht, wenn …«
Sylvia lachte laut auf, in ihren Wangen bildeten sich Grübchen. »Ivy! Dir kann man aber auch alles erzählen! Mom schaut dezent weg, seit ich in der zehnten Klasse Tucker McDermott durchs Fenster in mein Zimmer geschmuggelt habe. Du musst wirklich sehr streng erzogen worden sein. Kein Wunder, dass Giddy dich liebt.«
Ivy sah Gideon über den Esstisch hinweg an und dachte: Entweder lügt Sylvia, oder Poppy mag es tatsächlich nicht, wenn ihre Kinder in ihrem Haus intim sind, aber Sylvia ist das egal, während Gideon Rücksicht auf sie nimmt. Er würde sich niemals durchs Fenster in ihr Zimmer schleichen. Diese Erklärung erschien ihr durchaus plausibel, doch sie trug nicht dazu bei, den Schmerz der Zurückweisung zu lindern. Sie brachte es nicht über sich, die dritte Möglichkeit in Betracht zu ziehen: dass Gideon ihrer schlichtweg überdrüssig, aber viel zu höflich war, um ihr dies geradeheraus zu sagen. Seit sie in Finn Oaks eingetroffen waren, hatten sie kaum Zeit allein miteinander verbracht, und auch wenn sie mit den anderen zusammen waren, blieb er weder wie ein beschützender Freund an ihrer Seite, noch schien er übermäßig darauf bedacht zu sein, dass sie sich wohlfühlte. Sie hatte gedacht, dies sei ein Zeichen ihrer Verbundenheit mit dem Mann, der gesagt hatte: Entschuldige, aber müssen wir dieses Gespräch wirklich führen? , war davon ausgegangen, dass er darauf vertraute, sie würde sich in seiner Familie behaupten, so wie sie es bei Tom und seiner Verlobten oder bei den Finleys getan hatte. Doch vielleicht war die Distanz, die sie zwischen ihnen beiden spürte, genau das: Distanz.
Gedankenverloren saß sie beim Abendessen, schweigsam, und nahm kaum einen Bissen zu sich. Sie fühlte sich, als würde sie eine Erkältung bekommen. Die Zuckungen in ihrem kleinen Finger hatten sich auf ihr Gesicht ausgebreitet, das sich starr anfühlte und kribbelte, als müsste sie jeden Augenblick niesen. Sie waren noch bei der Vorspeise, als Roux zu ihr hinüberschaute und Poppys Bericht über ihre ehrenamtliche Tätigkeit im örtlichen Museum unterbrach. »Ivy«, rief er aus, »deine Augen!«
»Was ist denn damit?«
»O mein Gott.« Poppy schlug die Hand vor den Mund. Alle drehten sich zu ihr um, die Gabeln verharrten in der Luft.
»Sie sind ganz rot – und geschwollen«, sagte Gideon.
Ivy stand auf und ging ins Bad; Gideon und Poppy folgten ihr. Sie blickte in den Spiegel und stieß einen leisen Schrei aus. Ihre Augenlider waren so dick, dass sie aussahen wie entzündete Blasen. »Was ist das denn?«, jammerte sie, schloss die Lider und rieb darüber, doch das machte es nur noch schlimmer. Die Haut rund um ihre Augen fing an zu jucken, dann zu stechen.
»Sollen wir sie ins Krankenhaus fahren?«, fragte Poppy, die Hand an den Hals gelegt. »Ted, kannst du bitte einmal kommen?«, rief sie über die Schulter. »Wir brauchen dich.«
Ivy sagte, sie tippe auf eine allergische Reaktion. Sie hatte so etwas Ähnliches schon einmal gehabt, als Kind, aber nicht so heftig. Damals war sie von einer Biene gestochen worden. Jetzt fing auch ihr Hals an zu stechen. Sie schluckte, um ihre Reflexe zu überprüfen, die intakt schienen.
»Die Katze!«, stieß Gideon hervor. »Ivy, bist du allergisch auf Katzenhaare?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihre Lippen fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Sie spürte, wie das Blut darin pulsierte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Ted und tauschte den Platz mit Gideon, der ein Antihistaminikum holte.
Poppy erklärte ihrem Mann die Lage. »Sollen wir sie in die Notaufnahme bringen? Glaubst du, das ist so etwas wie eine Erdnussallergie? Haben wir einen EpiPen im Haus? Bekommst du genügend Luft, Ivy?«
»Was ist denn hier los?«, fragte Sylvia, die ebenfalls das Bad betrat.
»Ivy ist allergisch gegen deinen Kater«, sagte Poppy. »Sieh dir nur ihre Augen an.«
Sylvia zog die Augenbrauen zusammen. »Du bist allergisch gegen Pepper?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ivy. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht wusste, worauf sie allergisch reagierte.
Ted wollte wissen, ob sie schon einmal mit Katzen zu tun hatte.
Ivy verneinte.
Gideon kam mit dem Antihistaminikum und einem Glas Wasser zurück. Nachdem Ivy eine Tablette geschluckt hatte, sagte sie: »Ich bleibe besser in meinem Zimmer, nicht, dass es noch schlimmer wird.«
»Das ist sicher gut so«, pflichtete Poppy ihr bei, »zumindest so lange, bis die Katze morgen weg ist.«
»Ich werde Pepper nicht weggeben«, protestierte Sylvia.
»Wir können ihn nicht hierbehalten, wenn er Ivy krank macht.«
»Wir wissen doch noch nicht einmal, ob sie wirklich allergisch auf Katzen reagiert.«
»Eine Lebensmittelvergiftung ist es nicht«, sagte Gideon. »Wir haben nur Salat und Steak gegessen. Hast du dir an die Augen gefasst, nachdem du ihn gestreichelt hast?«
Ivy versuchte, sich zu erinnern, aber sie war sich nicht sicher.
»Vielleicht liegt es ja gar nicht an Pepper«, beharrte Sylvia.
»Also wirklich, Sylvia. Jetzt ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu streiten«, sagte Poppy eine Spur zu schrill.
Sylvias Wangen röteten sich. Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Flur.
Gideon schlug erneut vor, ins Krankenhaus zu fahren.
»Es geht mir gut, wirklich«, versicherte Ivy, verlegen über die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde. »Das ist schon einmal passiert, als ich jung war. Mein Hals fühlt sich gut an. Ich gehe jetzt unter die Dusche und warte darauf, dass das Antihistaminikum wirkt. Bitte esst weiter zu Abend.« Sie versuchte zu lächeln, doch der Effekt war grauenvoll. Mit großer Mühe überzeugte sie die Speyers, an den Tisch zurückzukehren. Roux war nicht von seinem Stuhl aufgestanden. Er musterte ihr Gesicht, als sie die Treppe hinauf floh, und sie hätte schwören können, dass seine Lippen zuckten. Natürlich amüsierte er sich über ihr Pech. Was hatte sie erwartet? Mitgefühl?
Oben angekommen, ging sie zum zweiten Mal an diesem Tag unter die Dusche und seifte sich ein, sorgfältig darauf bedacht, die sonnenverbrannten Stellen an Nase und Wangen auszulassen. Das Wasser linderte den Juckreiz, und als sie aus der Kabine heraustrat, war die Schwellung an ihrer Lippe bereits ein wenig zurückgegangen. Sie warf einen Blick in den Spiegel, sagte: »Ich sehe aus wie ein Troll«, und wandte sich ab.
Ein paar Minuten später erschien Gideon mit einem Tablett. Darauf stand ein Teller mit den Resten ihres Steaks und Kartoffeln, auf einem zweiten lag ein Stück gedeckter Apfelkuchen, dessen Füllung aussah wie bernsteinfarbener Schleim. Ivy dachte daran, wie Poppy am Nachmittag Äpfel klein geschnitten und in Bourbon gekocht, wie sie den Teig ausgerollt und die mustergültige Gitterkruste mit Eigelb eingepinselt hatte. Der wundervolle Duft nach Zimt und Butter hatte Ivy das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Wie sehr sie sich auf den Kuchen gefreut hatte, doch nun war ihr der Appetit vergangen.
»So viel dazu, einen guten Eindruck zu machen«, frotzelte sie.
»Wovon redest du?«, fragte Gideon.
»Der Abend war ein Albtraum. Was muss deine Familie von mir denken!«
»Aber alle lieben dich!«
»Tatsächlich?« Das war keine rhetorische Frage, sie wollte es wirklich wissen. Doch Gideon tätschelte wie zur Beruhigung nur ihr Bein, und sie spürte, dass er in Gedanken bereits woanders war und nur darauf wartete, sich in sein Zimmer zurückziehen zu können, um sich seiner Pflichten als Freund entledigen und voll und ganz seinem Laptop widmen zu können.
»Morgen ist es bestimmt besser«, tröstete er sie. »Wenn sich dein Zustand nicht verbessert, fahren wir als Erstes ins Krankenhaus.«
Und was ist mit heute Abend?, dachte sie. Aber mit einem Gesicht, das rot war wie ein gekochter Hummer, stand es ihr nicht zu, irgendwelche Forderungen zu stellen. Es gab Frauen, die ihr ganzes Leben darauf verwendeten, dass ihre Männer sie nie ohne Lippenstift und perfekt nachgezogene Augenbrauen zu Gesicht bekamen. Vielleicht war sie zu selbstgefällig geworden. Wenn man einmal etwas gesehen hatte, konnte man es nicht mehr vergessen. Die Menschen waren so oberflächlich, ganz gleich, wie sehr sie sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen versuchten.